E-Book, Deutsch, 174 Seiten
Rau / Birgfeld Das geschichtliche Gefühl
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-89581-508-9
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wege zu einem globalen Realismus
E-Book, Deutsch, 174 Seiten
Reihe: Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik
ISBN: 978-3-89581-508-9
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Milo Rau, geb. 1977 in Bern, ist Aktivist und Autor, Theater- und Filmemacher, sowie seit 2018 Theaterintendant des Nationaltheaters Gent. 2012 wurde Rau erstmals mit Hate Radio zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Vielfach international ausgezeichnet ist er spätestens seit Das Kongo Tribunal (2015), Mitleid, Five Easy Pieces und Empire (alle 2016) sowie Die 120 Tage von Sodom und General Assembly (beide 2017) der europäische Theatermacher der Stunde.
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»DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT«
Rolf Bossart: Du hast im selben Alter Trotzki und Lenin gelesen, in dem andere Kinder verschlingen. Dann bist du mit neunzehn Jahren auf Reportage in den lakandonischen Urwald Mexikos zu den Zapatisten und hast deinen ersten Essay 8 veröffentlicht. Kaum warst du wieder zurück in Europa, hast du begonnen, an der Universität Zürich Großdemonstrationen gegen den damals im Bildungssektor verschärft einsetzenden neoliberalen Rückbau zu organisieren. Hilft dieser Bezug auf die Jugend, um die Dinge, die du jetzt tust, zu verstehen? Was davon ist wichtig geworden?
Milo Rau: Das meiste. Aus der Perspektive der existenzialistischen Psychoanalyse würde ich sagen, dass man sich in den Teenagerjahren selber entwirft und dass man diesem Entwurf dann auch nicht mehr entkommt. Das ist, neben allem Zufälligen und Fatalen, das Moment der Freiheit im Menschen. Bestimmte Bücher bewusst zu lesen, auch wenn es anstrengend ist; bestimmte Reisen zu unternehmen, auch wenn sie in irgendeinem deprimierenden Militärlager im Urwald oder im Gefängnis enden; den Kampf aufzunehmen, wo man ihn findet. Wobei das ein dialektischer Prozess ist: Ich habe ja mit sechzehn, siebzehn Jahren nicht nur Lenin gelesen, sondern auch Tarantino geguckt, wie alle, die zu meiner Generation gehören. Ich bin neben meinen offensichtlich politischen Positionen ein geradezu extrem unpolitischer Mensch, ein völlig pedantischer Formalist. Nach meiner Arbeit als Veranstalter von Demonstrationen und Chiapas-Reisender habe ich ein paar Jährchen des L’art pour l’art eingelegt und zum Beispiel eine finanziell verheerende, geradezu lächerlich postmoderne Pynchon-Adaption gedreht (, 2002) – doch parallel dazu habe ich ernsthafte Kritiken für die geschrieben und Soziologie studiert. Auch später ist es irgendwie immer durcheinandergegangen: Auf (2005), eine völlig realistische, wenn auch aktualisierende Gontscharow-Bearbeitung, folgte (2005), ironischer Meta-Agitprop. Und so ging es weiter bis heute: Direkt nach einer Aktion wie der (2010–11) kam ein sehr klassisch geschriebenes und inszeniertes Stück wie (2011). Es ist eine Art Charakterschwäche von mir, mir ständig selbst in den Rücken zu fallen.
Eine Charakterschwäche, mit der du ja sehr offensiv umgehst. Das Motto auf deinem Blog althussers-haende.org9 ist ein Pasolini-Zitat: »Ich weiß sehr wohl, wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein.« Aber was all deine Unternehmungen doch irgendwie auf einen Nenner bringt, ist deine Art des – im Sinne des Ethnologen Clifford Geertz – »dichten Beschreibens«. Du bleibst nie in ästhetischer Halbdistanz, sondern bist immer sehr nah am Gegenstand.
»Dichtes Beschreiben«, das gefällt mir. Mich interessiert als Künstler in erster Linie eine völlig praktische, völlig reale Involviertheit, ganz egal, ob sich das auf Iwan Alexandrowitsch Gontscharow, ein Videogramm, eine zentralafrikanische Radiostation, eine politische Grundsatzfrage oder auf ein theoretisches Problem bezieht. Seit ich denken kann, war ich geradezu hypnotisiert von dieser Idee, dabei zu sein – in die Dinge, Bücher und Länder, für die ich mich interessiert habe, wirklich einzutauchen, sie tatsächlich zu bearbeiten. Nach der Gontscharow-Adaption habe ich eine Adaption von Euripides’ (, 2007) gemacht, die das Original derart vollständig transformiert hat, dass der Zuschauer nicht die geringste Chance hatte, die Vorlage zu erkennen (von der nur ein halber Satz übrig geblieben war). Ich kann diese Leute, die Texte mit dem Leuchtstift anstreichen und sie dann von ihren Schauspielern in dieser oder jener Verrenkung aufsagen lassen, nicht verstehen. Um auf Lenin zurückzukommen: Als ich dreizehn war, da habe ich mich für Russland interessiert, also habe ich Russisch gelernt, nicht allzu ausdauernd, aber ich wollte jemand sein, der in dieser mythisch-politischen Welt tatsächlich Fuß fassen kann – in diesem »frohlockenden und blutschwitzenden Russland«, wie der Dichter Alexander Blok so hübsch sagt. Und als ich dann 2010 begonnen habe, nach Moskau zu fahren, da habe ich fast zwei Jahre gebraucht, bis ich auf die Idee mit den (2013) gekommen bin. Denn das ist der Nachteil meiner Arbeitsweise: Es ist eine Dialektik von Vorstellen und Begreifen, von Ideen und völlig konkreten Umsetzungen, die sehr langwierig ist. Deshalb gibt es ständig Neukonzeptionen, was das Arbeiten z. B. für meinen Bühnenbildner Anton Lukas sehr anstrengend macht. Und genauso wie bei den ging es mir mit , mit (2009), aber auch bei Adaptionen von Autoren wie Euripides oder Pynchon. Am Anfang steht immer dieser obsessive Wunsch, in die soziale und materielle, ja: in die phantasmagorische Bedeutungsdichte von etwas einzudringen.
Du brauchst in älteren Interviews ab und zu den Begriff der »sozialen Phantasie« oder der »sozialen Plastik«, allerdings in einem völlig anderen Sinn als Joseph Beuys. Wie sind diese Begriffe genau gemeint?
Ich gehöre ja zu einer Generation, die von den Ekstasen einer, sagen wir mal, analytischen Phantasie überfüttert wurde. Die einzige Sache, die ich im Gymnasium und dann im Studium immer wieder gelernt habe, ist die, dass man kritisch sein soll: Intelligenz, das hieß, bestehende Erzählungen, bestehende Wirklichkeitsentwürfe zu analysieren und zu zerlegen – und dann, wurde man Künstler, ein wenig daran zu leiden oder eben je nach ästhetischem Ansatz drüber- oder danebenzustehen. Die soziale Phantasie ist nun das Gegenteil davon: Sie ist aktiv, sie hat einen Realisierungsdrang, sie will die ganze Welt auf einmal umarmen, und vor allem will sie sie verändern. Man kann das sehr gut an der zapatistischen Revolution zeigen, einer großformatigen sozialen Plastik. Sie hat ohne eine ernst zu nehmende Streitmacht, ohne Großmächte im Hintergrund und ohne das Anzapfen bereits vorhandener politischer Bewegungen oder Theorien funktioniert. Man kennt ja von Medienbildern diese Soldaten mit den Holzgewehren: Damit sind die Zapatisten sprichwörtlich aus dem Nichts, versteckt unter Skimasken, am 1. Januar 1994 in San Cristóbal aufgetaucht. Sehr geschickt haben sie sich dann als die Namen- und Gesichtslosen inszeniert, die Majas aus dem Urwald, die wahren Mexikaner – und gleichzeitig der Regierung gesagt: Wir sind globalisierter als ihr, urbaner, universeller. Wir sind die Zukunft der Menschheit, nicht ihr! Diese völlig machiavellistische Wendung des postmodernen Eklektizismus, diese kämpferische Form erhöhter sozialer Intelligenz, dieser aggressive Konstruktivismus ist für mich sehr entscheidend geworden. Du kannst tun, was du willst, nur muss es wahr werden, es muss real werden. Analyse allein reicht nicht.
Soziale Phantasie heißt also: Man eignet sich die bestehenden Diskurse an, formatiert sie, radikalisiert sie, führt sie eng und stellt sie in einen Raum, in dem plötzlich wieder völlig offen ist, was sie bedeuten.
Genau. Eine soziale Plastik, wie ich sie verstehe, bedeutet »angewandter Surrealismus«, wie der Leiter des Moskauer Sacharow-Zentrums meine genannt hat. Theater ist nichts anderes als die völlig konkrete Rückbesinnung auf diese ganz simple aristotelische Tatsache: dass alles, was wir für real erachten, nichts anderes ist als eine soziale Verabredung. Klar, das ist eine Erkenntnis aus dem Soziologie-Proseminar. Aber Spielen oder Inszenieren, wie ich es verstehe, bedeutet, die im Normalfall einfach als natürlich und zwingend hingenommene Wirklichkeit nicht analytisch oder ironisch aufzulösen, sondern sie in all ihren Konsequenzen zur Erscheinung zu bringen, sie in Aktion zu zeigen. Das ist ja der Grund, warum Theater überhaupt als Kunstform entwickelt wurde: als Umgang mit dieser zugleich natürlichsten und phantastischsten Fähigkeit des Menschen, nämlich aus dem sozial Imaginären Realität zu schaffen. Wenn mich einige als Dokumentarist bezeichnen, so basiert das auf einem Missverständnis. Denn was man auf einer Bühne tut, ist grundsätzlich das Gegenteil von Dokumentieren – es sei denn, Seiltanz ist dokumentarisch, weil die Erdanziehungskraft dokumentiert wird. Mein Stück zum Beispiel hat mit dem historischen RTLM etwa so viel zu tun wie die bewaffneten »Majas« der Zapatisten mit den an der Grenze zur totalen Armut lebenden indigenen Kleinbauern Südmexikos, die sich hinter den Skimasken verstecken. Das historische RTLM war, nach heutigem Maßstab, zum Sterben langweilig und langfädig, das waren bis auf einige Momente ziemlich biedere Angestellte des Genozids. Und wenn die Medien berichteten, ich hätte in Moskau den Pussy-Riot-Prozess nachgespielt, so ist...




