Rauchensteiner | Unter Beobachtung | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 686 Seiten

Rauchensteiner Unter Beobachtung

Österreich seit 1918
2. veränderte Auflage 2021
ISBN: 978-3-205-21270-6
Verlag: Böhlau
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Österreich seit 1918

E-Book, Deutsch, 686 Seiten

ISBN: 978-3-205-21270-6
Verlag: Böhlau
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Über 100 Jahre Geschichte umfasst Manfried Rauchensteiners überarbeitete und erweiterte Neuauflage seines 2017 erstmals erschienenen Buches 'Unter Beobachtung. Österreich seit 1918'. Der mehrfach preisgekrönte Historiker bietet damit einen spannenden und abwechslungsreichen Überblick über die historischen Entwicklungen des Landes. Österreich war - und ist - immer wieder für Aufregungen gut. Was 1918 mit der Gründung der Ersten Republik als Experiment begann, war 1938 auch schon wieder gescheitert, was viele Menschen mit Genugtuung registrierten. 1945 stellten die vier Besatzungsmächte das Land unter Kuratel. Und auch in der Folge sorgte Österreich immer wieder für internationale Aufmerksamkeit: 1956 während des Volksaufstands in Ungarn, 1968 bei der Besetzung der Tschechoslowakei, 1986 nach der Wahl Kurt Waldheims zum österreichischen Bundespräsidenten, 1991 während des slowenischen Unabhängigkeitskrieges, 2000 nach der Bildung einer Kleinen Koalition, nach der 'Ibiza-Affäre' 2019 bis hin zur aktuellen Corona-Krise. Das Land galt als Problemzone, als Sonderfall, als Musterschüler und gleich mehrfach als böser Bube, dem man ganz genau auf die Finger schauen wollte. Das tut die Welt bis heute.

Manfried Rauchensteiner ist Historiker, Universitätsprofessor und Autor zahlreicher Bücher, darunter das Standardwerk 'Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914-1918'. Er lebt und arbeitet in Wien.
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Ein Motivenbericht

Otto Dix, einer der großen Maler und Grafiker des 20. Jahrhunderts, Hauptvertreter der »Neuen Sachlichkeit«, hat mir seine Augen geliehen. Sein Bild »An die Schönheit«, das dem Umschlag dieses Buchs Farbigkeit und Ausdruck gibt, ist auf einen Ausschnitt reduziert. Damit wird ihm eine Art Zwangsjacke angelegt, die eine Umdeutung ermöglicht. Was zählt sind die Augen, ist der strenge Blick eines Menschen, dem nichts zu entgehen scheint. Mag sein, dass der Blick auch so etwas wie Missbilligung ausdrückt. Es ist ein Selbstporträt. Die puppenhaft wirkende weibliche Gestalt im Hintergrund ist nicht nur Staffage, sondern sagt etwas Zusätzliches aus: Der Beobachter steht seinerseits unter Beobachtung. Verführung scheint im Spiel. Das Bild hat etwas Zeitloses. Und es ist nicht lokalisierbar.

Wie das Bild ist auch dieses Buch auf einen Ausschnitt reduziert. Es handelt von Österreich und es richtet seinen Blick auf ein mehr als einhundertjähriges Geschehen. Der gewollt strenge Blick, scheinbar von außen, ist gleichzeitig das eigene Spiegelbild. In dem Jahr, als Otto Dix »An die Schönheit« gemalt hat, 1922, drohte Österreich gerade unregierbar zu werden. Es taumelte zwischen Selbstaufgabe und Zukunftsvisionen hin und her und wurde mit Hilfe des Völkerbunds gerettet. Ein Konglomerat aus historischen Einheiten, das sich erst zu einer neuen Gemeinsamkeit finden musste, ging einer ungewissen Zukunft entgegen. Es war nicht mehr das, als das es der tschechische Historiker František Palacký 1848 bezeichnet hatte, etwas Unverzichtbares, eine europäische Notwendigkeit, sondern ein schwer zu definierender Rest. Österreich war von einer Unentbehrlichkeit zur Verlegenheit geworden. Vom ersten Tag an aber stand das Land unter Beobachtung. Und es waren nicht nur freundliche Blicke, mit denen auf Österreich gesehen wurde. Sorge, Argwohn, Mitleid, Misstrauen und Gier mischten sich mit Gleichgültigkeit, Zufriedenheit und Wohlwollen.

Es beobachteten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, die anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie und der Völkerbund. Aber es waren nicht nur die anderen, die beobachteten. Auch die eigenen Blicke spiegelten die ganze Palette von Empfindungen wider, die auch bei den näheren und ferneren Nachbarn festzustellen waren. Österreich war kein Land, in dem Selbstbestimmung großgeschrieben worden wäre. Und auch der Selbstbehauptungswille kam erst spät auf. Die Verlegenheit blieb. Gewalt dominierte. Gerade in den Augen mancher Beobachter konnte man Zufriedenheit aufleuchten sehen, dass sich 1938 Stille über Österreich senkte. Dem folgte sieben Jahre später die reumütige Erkenntnis, dass man sich mit dem Verschwinden des einen Problems, Österreich, neue Probleme eingehandelt hatte. 1945 war es, als ob man den Reset-Knopf gedrückt hätte. Es war Vieles anders geworden. Österreich lag zwischen den Blöcken, sah sich selbst gern als Brücke und spielte eine Rolle. Es erfuhr eine neue Form der Beaufsichtigung, unmittelbarer als alles Vorangegangene, und tauchte schließlich in eine Zeit ein, in der sich allgemeine Zufriedenheit breitmachte. Das Land war über den Berg. Aus der Verlegenheit war plötzlich ein Stabilitätsfaktor geworden. Eines blieb freilich gleich: Jedes Mal, wenn sich in Österreich etwas tat, stand das Land unter Beobachtung. Und auch dann, wenn sich nichts tat. Immer wieder galt es als Problemzone, dann wieder als Sonderfall, als Musterschüler und gleich mehrfach als der böse Bube, dem man ganz genau auf die Finger schauen wollte.

Das alles lässt sich nicht gleichmäßig erzählen. Es kann auch gar nicht darum gehen, jedes Ereignis und alle handelnden Personen in sämtlichen erfahrbaren Einzelheiten zu beschreiben. Da und dort gilt es innezuhalten, um die Parallelität und das Fließen der Zeit als Erzählstrang zu nützen. Man kann nicht immer durch die Zeiten hetzen. Eines sollte jedenfalls erreicht werden: dass man die Geschichte eines Landes, das sich selbst manchmal nicht wichtig nimmt, als wichtig für die Gesamtentwicklung eines Kontinents versteht und sich selbst eingestehen kann, dass es eine spannende Geschichte ist. Sie wird denn auch nicht weniger interessant, wenn man einen größeren Zeitraum zu überblicken sucht. Manches wird dabei zutage zu fördern sein, das bekannt, anderes, das unbekannt ist, wo aber der Blick über die Jahre und Jahrzehnte Vergleichsmöglichkeiten bietet, die dazu einladen, immer wieder ins Grübeln zu geraten: War da nicht schon einmal etwas Ähnliches geschehen, sind Vorgänge oder auch Nicht-Vorgänge so ungewöhnlich, dass sich dazu keine Präzedenzfälle finden lassen? Meist finden sich welche. Und es wird um die alte und immer wieder inspirierende Frage gehen: Was wäre gewesen, wenn? – Wenn z. B. Ignaz Seipel dem Ansinnen bayerischer Stellen entsprochen und Adolf Hitler 1924 wieder die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen hätte, wenn die Dollfuß-Attentäter danebengeschossen, sich die Alliierten in Moskau 1943 auf die Aufteilung Österreichs verständigt, die Sowjets, wie von Marschall Žukov 1956 gewünscht, Ostösterreich wiederbesetzt hätten, oder Jörg Haider 2008 nicht tödlich verunglückt wäre … Es gilt nicht, das Unmögliche zu denken, sondern das Mögliche. Das ist auch eine Einladung, das Vergängliche zu sehen.

Bei einem Gang durch die Geschichte kommt man an vielen Schauplätzen vorbei. Sie bieten sich mit einer nicht enden wollenden Bereitwilligkeit an. Man kann in der Villa des Senators Giusti bei Padua genauso Station machen wie in Saint-Germain, Genf, Berlin, Berchtesgaden, Ödenburg/Sopron, Kragujevac, Stalingrad/Wolgograd oder Prag. Österreichische Geschichte wurde in London, Moskau, Paris und Washington geschrieben und hat auch dort Spuren hinterlassen und Erinnerungsorte geschaffen. Letztlich gibt es keine Stelle, die nicht eine Erzählung bergen würde, kein Denkmal, keinen Friedhof, ja nicht einmal einen Acker oder eine Wiese, die nicht mit einem Ereignis oder einer Person in Verbindung gebracht werden könnten.

Häufig geben die Steine und Fluren wohl nur jenen ihre Geschichte preis, die dort wohnen und sich vom »Moos auf den Steinen« (Gerhard Fritsch), den Lichtungen und Furchen ebenso angesprochen sehen wie jene anderen, die sich von Baudenkmälern, Statuen oder auch »Stolpersteinen« zum Nachdenken einladen lassen und sich der bekannten Erzählformel von: »Es war einmal …« bedienen möchten.

Es gibt auch keinen Ort, von dem sich sagen ließe, dass an ihm Geschehnisse gleichmäßig verlaufen wären. Und es gibt keinen Friedhof, auf dem nicht jene, die man als die »Guten« und jene anderen, die man als die »Schlechten« wahrgenommen hat, nebeneinander liegen würden. Gerade Friedhöfe sind zutiefst demokratische Gedächtnisorte, denn für sie gilt in besonderem Maße die von Gilbert Keith Chesterton angebotene Interpretation von Tradition, bei der »der obskursten aller Gesellschaftsklassen« das Stimmrecht verliehen wird – unseren Vorfahren. (Chesterton, Moral des Märchenreiches).

2017 erschien die erste Auflage des vorliegenden Buchs. Nicht nur der Lauf der Zeit, sondern auch eine Häufung von nicht zu erwarten gewesenen Ereignissen haben es mit sich gebracht, dass ich der Einladung des Böhlau Verlags gefolgt bin und mich an die Überarbeitung des Seinerzeitigen gemacht habe. Es waren dabei nicht nur die innenpolitischen Vorgänge, denen dabei Aufmerksamkeit zu schenken war, sondern auch die internationale Entwicklung und schließlich jene Pandemie, die seit dem Spätwinter 2020 als COVID-19 oder schlicht »Corona«-Pandemie das Leben einer Unzahl von Menschen beherrscht. Immer wieder war auch etwas neu, aufregend und jedenfalls berichtenswert. Ebenso aber drängten sich immer wieder Vergleiche auf und forderten zu Fragen heraus: Ähnelt Corona der sogenannten Spanischen Grippe von 1918–1920? Ist das Scheitern einer Regierung, sind Skandale, ist Korruption etwas, das einem bestimmten Muster folgt und den Schluss zulässt: Das hat es doch schon immer – wenngleich in anderer Form – gegeben. Der Blick auf die Regierenden ist immer lohnend, auch wenn er die Gefahr der Einseitigkeit birgt. In der Ersten Republik gab es schon eine 24-Stunden-Regierung, und die Durchschnittsdauer einer Legislaturperiode betrug zwischen 1918 und 1933 rund eineinhalb Jahre. Die Nutzbarmachung einer politischen Funktion zum Zweck der persönlichen Bereicherung wäre auch an vielen Beispielen festzumachen. Immer wieder gab es Skandale. Manches wurde auch zum Skandal erklärt, weil die Jagd nach Sensationen in der menschlichen Natur und im Bestreben gelegen ist, jegliches Geschehen als neu, noch nie dagewesen, wohl aber für die jeweilige Jetztzeit charakteristisch sehen zu wollen. Dem kann man sich mit an Otto Dix erinnernden Zynismus hingeben, oder aber versuchen, sich eine dem Moment verpflichteten Sichtweise nur so lange hinzugeben, bis sich größere Zusammenhänge auftun. Tatsächlich ist auch nicht alles neu, nur weil es äußerlich dem schon Dagewesenen ähnelt, doch die handelnden Personen sind andere und die Auswirkungen jeglichen Handelns erfordern Differenzierung.

Etwas, das ich verschwiegen habe, das aber anhand meines...



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