E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Rauh "Die Mauer war doch richtig!"
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8393-0154-8
Verlag: BeBra Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Warum so viele DDR-Bürger den Mauerbau widerstandslos hinnahmen
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-8393-0154-8
Verlag: BeBra Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Robert Rauh, geboren 1967 in Berlin, ist Historiker, Lehrer und Seminarleiter. 2013 wurde er für sein pädagogisches Engagement mit dem Deutschen Lehrerpreis ausgezeichnet.
Autoren/Hrsg.
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Ȇber alles wurde geschimpft, so dass ich mir oft die Frage stellte,
wie nur solch ein Regime existieren kann, wenn kaum einer,
wo es auch immer sei, mit ehrlicher Überzeugung dafür eintritt.«
DDR-Flüchtling Detlef R., 1962
Einleitung
Mehr als ein Motiv
Dieses Buch behauptet nicht, dass die Mauer richtig war. Im Gegenteil: Sie war Unrecht. 17 Millionen Ostdeutsche wurden ihrer Freiheitsrechte beraubt, Familien und Freundschaften auseinandergerissen und mindestens 140 Menschen verloren allein an der Berliner Mauer ihr Leben.
Dieses Buch möchte erklären, warum der Mauerbau von so vielen DDR-Bürgern widerstandslos hingenommen wurde. Es zeigt auf, dass die Verweise auf die Erfahrungen vom niedergeschlagenen Volksaufstand am 17. Juni 1953 und auf den nächtlichen Überraschungscoup der SED-Führung am 13. August 1961 als Begründung für ausgebliebene Massenproteste zu kurz greifen.[1] Wenn man von Handlungsspielräumen in einer Diktatur ausgeht, war eine passive Hinnahme der Mauer nicht alternativlos. Weil es jedoch nur vereinzelt zu Protesten gekommen ist, muss es weitere Gründe gegeben haben.
Obwohl der Bau der Berliner Mauer zu den wichtigsten Zäsuren in der DDR-Geschichte zählt, wurden die Reaktionen der Bevölkerung von der Forschung bisher wenig untersucht.[2] Das Interesse galt vielmehr den politischen und militärischen Aspekten der Grenzschließung im Kontext des Kalten Krieges: Fragen nach Ulbrichts Zielen, Chruschtschows Genehmigung, Honeckers Umsetzung, Adenauers Zurückhaltung und Kennedys Urlaub. Dabei stand und fiel die Mauer doch mit der Haltung der Menschen, denen sie galt.
Erfasst und gewichtet sind zwar alle Motivkomplexe der Menschen, denen vor und nach dem 13. August die Flucht gelang. Aber was dachten die 17 Millionen DDR-Bürger, die vor dem Mauerbau nicht fliehen wollten und nach dem Mauerbau nicht (mehr) fliehen konnten?
Die Menschen hinter der Mauer: Ost-Berliner im August 1961
Dieses Buch stellt die Menschen hinter der Mauer in den Mittelpunkt. Es schildert, wie unterschiedlich die DDR-Bürger auf den 13. August reagiert haben, und zeigt auf, dass es mehr als ein Motiv gab, die Abriegelung der Berliner Sektorengrenze widerstandslos hinzunehmen. Und es hinterfragt die scheinbar in Beton gegossene Annahme, wonach die Mehrheit der Bevölkerung in der DDR gegen die Mauer war.
Eine Mehrheit gegen die Mauer?
Die Mauer gilt als Monstrum. Als steinernes Symbol des SED-Regimes, das die deutsche Teilung zementierte und seine Bürger einsperrte. So wird es bei Mauerjubiläen – ob zum Bau oder Fall – von den politischen Podien gepredigt. So steht es in den Geschichtsbüchern. Dass die Menschen, im Westen wie im Osten, die Mauer ablehnten, scheint da nur logisch. Dass einige in der DDR, wie Wolf Biermann, ihren Bau damals begrüßten – »als Rettung in höchster Not«[3] –, kann nur der SED-Propaganda geschuldet sein oder es muss eine politische Fehleinschätzung zugrunde liegen, die längst Geschichte ist.
Wie aber lässt sich belegen, dass die Mehrheit der DDR-Bürger die Mauer ablehnte? Mit den anhaltenden Fluchtversuchen einerseits und mit Hinweisen auf Verweigerung und Protest andererseits. Trotz der Abriegelung der Sektorengrenze gelang es bis Ende Februar 1962 etwa 11.800 Ostdeutschen, in den Westen zu fliehen. Allein im September 1961 verließen 3.370 Menschen illegal die DDR.[4] Als Fluchtwege dienten in den ersten Tagen nach dem 13. August
die Wohnhäuser an der östlichen Sektorengrenze in Berlin-Mitte, die Kanalisation und Grenzgewässer; später kam es zu spektakulären Tunnelfluchten.[5] Weil das Grenzregime daraufhin ausgebaut und eine Flucht nach den ersten Todesschüssen Ende August 1961 lebensgefährlich wurde, »gehörte allerdings im Lauf der Jahre immer mehr Mut, Entschlossenheit und Einfallsreichtum dazu, die Grenzsperren zu überwinden«.[6] Bis 1989 flüchteten dennoch rund 40.000 Menschen in den Westen; 75.000 Fluchtversuche scheiterten.[7] Diese Fluchtaktionen sind ein klarer Beweis für den Freiheitswillen vieler Ostdeutscher, die sich gegen ein Leben in der eingemauerten DDR entschieden hatten.
Schwieriger ist es dagegen, Widerstand gegen den Mauerbau nachzuweisen. Wenige Tage nach dem 13. August 1961 tauchte in Zittau (Bezirk Dresden) ein Handzettel auf, der die SED alarmieren musste. Allein deshalb, weil er nicht aus dem Westen stammte. »Bürger und Genossen! Bei uns hat die rote die braune Farbe verdrängt. Der Geist ist geblieben. Kauft keine Lose, keine Zeitungen, spielt kein Lotto, zahlt keine Versicherung. Ihr finanziert euer eignes KZ. Übt Widerstand, wo es möglich ist. Beweist, dass ihr Deutsche seid. Die Welt schaut auf uns.«[8] Obwohl nicht geklärt werden konnte, ob das Flugblatt von einem Einzelnen oder von einer Gruppe stammte, kommen die Historiker Armin Mitter und Stefan Wolle, die sich seit Jahrzehnten mit der DDR-Geschichte auseinandersetzen, zu dem Schluss: »Aber eindeutig geht daraus hervor, dass unter der Bevölkerung ein quantitativ schwer auszumachendes Widerstandspotential vorhanden war, das in jedem Fall größer war als die Zahl derjenigen, die uneingeschränkt hinter der Regierung standen. Die Mehrheit der Bevölkerung hätte mit Sicherheit die Opposition gegen das Regime unterstützt.« Weil das auch der SED-Führung bewusst gewesen sei, hätte die nun den Schutz der Mauer genutzt, »um mit ihren tatsächlichen und vermeintlichen Gegnern bedingungslos abzurechnen«.[9]
Kurzum: Die Mehrheit der Bevölkerung stand also »mit Sicherheit« nicht hinter der Regierung. Und die Mehrheit »hätte« die Opposition gegen das Regime unterstützt, was aber aufgrund der Repressionen des SED-Staates nicht möglich war. Es existierten also keine Handlungsalternativen? Oder hätte es einer aktiven Opposition bedurft, damit die Mehrheit gegen den Mauerbau protestierte?
Das Fazit zum Zettel aus Zittau steht nicht allein. Obwohl keine statistischen Erhebungen über die Haltung der Ostdeutschen im August 1961 vorliegen, herrscht in der Forschung Konsens darüber, dass die Mehrheit dagegen war. Die Bevölkerung der DDR reagierte auf den Mauerbau, konstatiert der DDR-Oppositionelle und Historiker Rainer Eckert, »in ihrer Mehrheit mit stummer Wut und Ablehnung«.[10]
Der Literaturwissenschaftler Matthias Braun, der die Reaktionen der DDR-Künstler untersucht hat, behauptet, im Gegensatz zur SED-Führung habe die »große[n] Mehrheit der Bevölkerung« im Mauerbau »ein Schwächezeichen des Regimes« gesehen.[11] Und der Historiker Gerhard Sälter, Leiter des Arbeitsbereichs Forschung und Dokumentation an der Gedenkstätte Berliner Mauer, kommt gemeinsam mit dem Historiker Manfred Wilke zu dem Schluss: »Weder der nächtliche Aufmarsch bewaffneter Männer noch die Schließung der Grenze stieß bei den Ost-Berlinern mehrheitlich auf Zustimmung.« Die SED sei in den folgenden Monaten und Jahren jedoch nicht müde geworden, »das Gegenteil zu behaupten«.[12] Ist diese Behauptung schon deshalb nicht seriös, weil sie die SED aufstellte?
Auch Studien zu einzelnen Bevölkerungsgruppen kommen zum selben Ergebnis. Die Historikerin Anita Krätzner-Ebert bilanziert in ihrer Analyse über die DDR-Universitäten, dass »das Gros« der Universitätsangehörigen »mit dem Mauerbau und den folgenden Maßnahmen nicht einverstanden war«. Auf allen Ebenen, ob unter Funktionsträgern, Wissenschaftlern oder Studenten, hätten sich Gegner formiert. Zudem habe es lange nicht so viele Zustimmungserklärungen gegeben, wie von der SED gewünscht. »Ein Großteil der Wissenschaftler verfasste keine Zustimmungserklärungen, obwohl dies von ihnen verlangt wurde.« Was heißt ein »Großteil«, wenn kurz darauf die Behauptung folgt: »Viele jedoch resignierten oder fügten sich aus Angst vor den teilweise angedrohten Konsequenzen den Forderungen der SED.« Unstrittig, weil belegbar ist dagegen der Befund am Ende der Untersuchung: »Einige wenige Universitätsangehörige übten offenen Protest […].«[13]Dass nur wenige protestierten – dieser Befund lässt sich verallgemeinern. Für alle Bevölkerungsgruppen.[14]
Die Mutmaßungen der Geflüchteten
Die These, die Mehrheit sei gegen den Mauerbau gewesen, stützt sich vor allem auf zeitgenössische Aussagen. Für den englischen Historiker Patrick Major, einen der wenigen, die sich ausführlich mit den Reaktionen der DDR-Bevölkerung beschäftigt haben, können diese Einzelstimmen zwar nicht das Manko fehlender Erhebungen aufwiegen, sie ermöglichen jedoch – aufgrund der Fülle der Berichte in den DDR-Akten – »eine Vielzahl von Einsichten in zeitgenössische Denk- und Argumentationsweisen«.[15] Er zitiert in diesem Kontext die Aussage eines Ost-Berliner Ingenieurs vom Juli 1961 zum Verhältnis von Volk und Regierung: »Wir sollten nicht so viel sprechen von der Front zwischen der DDR und Westdeutschland, denn diese Front verläuft mitten durch die DDR. Sie besteht zwischen der Regierung und der Bevölkerung und 95 Prozent sind gegen die Regierung.«[16] Die Zahl erinnert an vermeintliche Zustimmungsquoten bei DDR-Wahlen – nur genau entgegengesetzt.
Der Ingenieur ist nicht der Einzige, der Zustimmung bzw. Ablehnung zu quantifizieren weiß. Major zitiert...