Reinecke | Ströbele | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 464 Seiten

Reinecke Ströbele

Die Biografie
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8270-7874-2
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Biografie

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

ISBN: 978-3-8270-7874-2
Verlag: Berlin Verlag
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Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ströbele schiebt sein Fahrrad noch immer auf jeder zweiten Demonstration in Berlin. Er trägt noch immer Jeans und roten Schal. Er agitierte entschlossen gegen das Ja der Grünen zu Kriegseinsätzen der Bundeswehr. Er ist der letzte aktive Achtundsechziger in der Politik. Er hat sich, anders als Otto Schily und Joschka Fischer, nicht verändert. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Ströbele ist komplexer, widersprüchlicher als sein Image. Er raucht und trinkt nicht - und fehlt bei keiner Demo für die Legalisierung von Cannabis. Er gilt als gesinnungsfester Traditionslinker und hat sich stets machtbewusst in der politischen Arena behauptet. Ströbele hält eisern am linken Antinationalismus fest - und ist in vielem selbst deutsch: willensstark, diszipliniert, traditionsbewusst. Er steht noch immer für außerparlamentarischen Protest - und lässt sich als Parlamentarier an Pflichterfüllung kaum übertreffen. Stefan Reinecke verwebt den weithin unbekannten privaten Lebenslauf von Hans-Christian Ströbele mit bundesdeutscher Zeitgeschichte und zeigt: Es ist möglich, Politiker zu sein, ohne sich den Zwängen des Betriebes zu beugen.

Stefan Reinecke, geboren 1959, studierte Germanistik, arbeitete als Filmkritiker und Kulturredakteur bei der Wochenzeitung »Freitag«. 1999 bis 2001 war er Redakteur beim Tagesspiegel. Seit 2002 arbeitet er als Politikredakteur und Autor für die taz. 2003 erschien seine Biografie über Otto Schily.
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1945: Ein Ende, ein Anfang. Und viel vom Gleichen

»Ihr müsst auf mich warten.«

Christian Ströbele zu Spielkameraden, Schkopau, 1945

Im Jahr 1944 ist Christian Ströbele fünf Jahre alt. Er wohnt mit seiner Familie, zwei Schwestern und einem kleinen Bruder, in einer Werkssiedlung der IG Farben in Schkopau. Das Haus in der Oppaustraße ist geräumig. Der Vater Rudolf, der in der Familie Rolf heißt, arbeitet in dem kriegswichtigen Buna-Werk als hochrangiger Chemiker. Ein paar Häuser weiter wohnt Wilhelm Biedenkopf, technischer Direktor des Buna-Werkes, mit seinem Sohn Kurt, dem späteren CDU-Politiker. Es ist das bessere Viertel der Siedlung. Ströbeles Haus liegt an einem offenen, weiten Feld.

Der Krieg rückt langsam näher. Das Buna-Werk in Schkopau und vor allem das Leuna-Werk im zehn Kilometer entfernten Merseburg sind äußerst attraktive militärische Ziele für die Alliierten. Denn die deutsche Kriegsmaschinerie braucht den synthetischen Kautschuk und das synthetische Benzin, die dort produziert werden. Im Mai 1944 bombardieren 800 US-Flugzeuge das Leuna-Werk und werfen dabei 1700 Tonnen Sprengstoff ab – mit Erfolg. Sie machen das Hydrierwerk dem Erdboden gleich. Nach dieser Angriffswelle war der Krieg »produktionstechnisch verloren«, schreibt Albert Speer, Organisator der NS-Kriegsindustrie, später in seinen Erinnerungen. Die Bombergeschwader der US Air Force und des britischen Bomber Command fliegen ab 1944 zwanzig Großangriffe auf die Leuna-Werke. Am 28.Juli 1944 ist der Lauchagrund, vom Wohnhaus der Ströbeles nicht einmal zwei Kilometer entfernt, übersät mit Bombenkratern.

Wenn nachts die Sirenen heulen, fliehen die Ströbeles zu Nachbarn in den Keller. Später suchen sie bei Fliegeralarm den sicheren Werksbunker auf, der weiter entfernt liegt. Der Vater nimmt Christian und den Jüngsten, Herbert, auf dem Fahrrad mit. Helga, eineinhalb Jahre älter als Christian, fährt allein mit dem Rad. Christian schaut oft fasziniert in den Himmel auf die »Christbäume« – so tauft die deutsche Zivilbevölkerung jene an Fallschirmen befestigten Leuchtmittel, mit denen die Alliierten für nachfolgende Verbände markieren, welches Terrain schon bombardiert wurde.

Im Laufe des Jahres 1944 schicken die Ströbeles die drei jüngeren Kinder – Christian, damals fünf Jahre alt, Gudrun, eineinhalb Jahre jünger, und Herbert, noch ein Kleinkind – sechs Monate lang mit Kindermädchen Toni auf den Bauernhof der Großeltern in den Odenwald. Weil dort weniger Bombenangriffe drohen. Sechs Monate ohne die Eltern. Mag sein, dass Christian Ströbeles lebenslange Liebe zum Odenwald und zu dem auch nach Jahrzehnten spartanisch eingerichteten Holzhaus in diesem halben Jahr 1944 wurzelt.

Die Ströbeles haben Glück. Ihr Haus in Schkopau bleibt unbeschädigt, auch als ab November 1944 die alliierten Geschwader das Buna-Werk bombardieren. Niemand wird verletzt. Selbst nicht, als tagsüber Bomben fallen und 1945 Zivilisten vor den MG-Salven der Tiefflieger in Deckung gehen.

Christian begreift nicht so recht, dass Krieg Gefahr bedeutet. Dies wird ihm erst im Frühjahr 1945 bewusst, als der Krieg in Schkopau schon fast vorbei ist. Er hat in der Siedlung viele Kameraden, mit denen er oft in der Nähe seines Elternhauses spielt. Die Ströbeles haben einen Garten, verlockend ist das freie Feld hinter dem Haus. Die Jungs sammeln gern Munition, die sie irgendwie explodieren lassen. Im Mai 1945 finden sie auf dem Feld ein besonders vielversprechendes Exemplar. Christian will unbedingt dabei sein, wenn sie das Objekt untersuchen. »Ihr müsst auf mich warten«, sagt er seinen Freunden. Er muss erst kurz ins Haus, aufs Klo. Als er dort ist, hört er einen lauten Knall. »Gemein, jetzt haben die das ohne mich aufgemacht«, denkt er.

Als er wieder nach draußen will, um weiterzuspielen, hält ihn seine Mutter zurück. Ein Spielkamerad von ihm ist tot, zerfetzt von der Granate, mit der er hantierte. Als Schwester Helga nach Hause kommt, sieht sie auf der Wiese hinter dem Elternhaus eine Art Prozession. Das tote Kind ist in eine Decke gehüllt, der Vater trägt es auf den Armen, gefolgt von stummen Erwachsenen, stummen Kindern.

Diese Szene ist ein Schock, Einbruch von Gewalt und Tod in die Welt des Spiels. Aber sie ist auch eine Metapher für das Glück, das die Ströbeles 1945 haben. Dass Christian noch einmal schnell ins Haus muss, ehe die Granate genau in Augenschein genommen wird, ist ein Sinnbild. Die Ströbeles umschiffen 1945 fast alle existenziellen Bedrohungen, nicht nur, aber auch per Zufall.

Das Kriegsende verläuft in Schkopau recht glimpflich. Christian fällt auf, dass sich etwas verändert: Im Radio fehlen die täglichen Berichte über die Siege und heroischen Rückzüge der Wehrmacht.

Am 13.April 1945 besetzen US-Truppen das Buna-Werk. Rudolf Ströbele, Betriebsleiter der Butoldestillation, ist an der Übergabe an die Alliierten beteiligt. 1983 hat er seine Erinnerungen an diesen Tag fixiert.1 Die Zwangsarbeiter wohnen in einem Lager zwei Kilometer nördlich von dem Wohnhaus der Ströbeles und direkt beim Werk. Die Zwangsrekrutierten aus ganz Europa (insgesamt 17000 in der Zeit von 1939 bis 1945) beginnen, laut Rudolf Ströbeles Erinnerung, zu plündern.

Rudolf Ströbele sucht, im Auftrag von Betriebsleiter Carl Wulff, Kontakt zu den US-Soldaten. Die Fremdarbeiter, sagt er, drohen das Werk zu stürmen. Die GIs zucken die Achseln – und halten es nicht für den Job der US-Armee, die deutsche Werkselite vor der Rache der verschleppten Franzosen, Tschechen und Niederländer zu schützen. Doch Ströbele insistiert. In dem Werk gebe es hochexplosives Material, das bei Plünderungen hochgehen könne. Außerdem könnten die Arbeiter nicht mehr versorgt werden, wenn das Werk geplündert wird. Das leuchtet den GIs ein. Die US-Besatzer sind für die Ströbeles, wie sich bald zeigt, ein Glücksfall. Die Naziflagge, die die Ströbeles im Haus haben, wird nicht mehr gebraucht. Mutter Gabriele, talentiert im Umgang mit Stoffen, näht aus dem Hakenkreuztuch im April 1945 rote Turnhosen für die Kinder.

Mehr als sechs Millionen Deutsche sterben im Zweiten Weltkrieg – davon fünf Millionen Soldaten. In den Familien fehlen Väter, Söhne, Onkel. Den Krieg, den viele deutsche Familien als Ruin oder Gewaltexzess erleiden, erleben die Ströbeles, abgesehen von Bombennächten in Schkopau und der Granate, die im Mai 1945 unweit ihres Hauses explodiert, geschützt wie durch einen Kokon. Sie werden nicht ausgebombt und nicht vertrieben. Der Vater muss nicht an die Front. Die Familie selbst erlebt keine Vergewaltigungen, keine Plünderungen. Es gibt keinen nahen, auch keinen fernen Verwandten der Ströbeles und Zimmermanns – so der Mädchenname der Mutter –, der im Krieg getötet wird.

Rudolf Ströbele gehört zur technischen Intelligenz, die die US-Armee schon im Frühjahr 1945 keinesfalls unter Stalins Herrschaft wissen will. Im Juni packen die Ströbeles ihre Sachen. Jeder darf einen Koffer mitnehmen – mehr nicht. Lastwagen der US-Armee bringen die Elite des Werkes, die Chemiker und Ingenieure, die zwei Monate zuvor noch für den deutschen Endsieg gearbeitet haben, in die amerikanische Besatzungszone ins hessische Rosenthal. In den Erinnerungen der Kinder erscheinen die GIs wie Märchenfiguren. Helga Reindel, Christian Ströbeles ältere Schwester, damals sieben Jahre alt, erinnert sich an eine Szene, die aus einem Film stammen könnte. Die GIs schenken den Kindern Schokolade und Kaugummi. Besonders begeistert sind die farbigen Soldaten von Herbert Ströbele, dem zweijährigen Bruder, und von dessen blondem, wuscheligem Haarschopf. Christian Ströbele schwärmt heute noch von Carepaketen, die ein paarmal aus den USA kamen. Und von der Hershey’s-Schokolade darin. Rudolf Ströbele bekommt schon Anfang der 50er-Jahre, nach einigem Hin und Her wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft, ein Visum für eine Geschäftsreise in die USA.

Die Ströbeles ziehen erst ein paar Monate in den Odenwald auf den Bauernhof, den der Großvater Franz Ströbele zu dieser Zeit bewirtschaftet. Christian geht dort ein paar Wochen zur Schule. Dann machen sie sich auf nach Marl am Rand des Ruhrgebietes, wo der IG-Farben-Konzern ebenfalls ein Buna-Werk betreibt. Die Chemischen Werke Hüls und die angegliederte Werkssiedlung werden die neue Heimat. Werk und Wohnung sind Schkopau zum Verwechseln ähnlich. Die Häuser sehen genauso aus, sogar die Straßennamen, die auf andere Produktionsstandorte der IG Farben verweisen, sind die gleichen. Die Ströbeles ziehen wiederum in ein großes, dreigeschossiges Haus, das in der Siedlung für die Elite reserviert ist: Kampstraße 88, Ecke Leverkusener Straße. Die Schkopauer Straße ist in Marl nur einen Steinwurf vom Haus der Ströbeles entfernt. 1945 ist für die Ströbeles nicht Katastrophe, Unglück oder Bruch mit allem Gewohnten. Sondern das Gleiche, nur anderswo.

Manches ist auch anders. In Marl muss die Mutter Gabriele, in der Familie Gaby genannt, um Brot anstehen oder per Zug ins Münsterland fahren, um dort Kartoffeln zu ergattern. Nahrung ist nach 1945 mitunter knapp, die Kinder bekommen manchmal von einer Nachbarin etwas zu essen geschenkt. »Wir Kinder haben da offenbar einen unterernährten Eindruck gemacht«, so Christian Ströbele. Im neuen Haus sind Flüchtlinge einquartiert. Es dauert eine Weile, bis die Familie die zweite Etage in Beschlag nehmen kann, die dritte bezieht die Familie...


Reinecke, Stefan
Stefan Reinecke, geboren 1959, studierte Germanistik, arbeitete als Filmkritiker und Kulturredakteur bei der Wochenzeitung »Freitag«. 1999 bis 2001 war er Redakteur beim Tagesspiegel. Seit 2002 arbeitet er als Politikredakteur und Autor für die taz. 2003 erschien seine Biografie über Otto Schily.



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