Reinhardt | Über die Berge und über das Meer | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 318 Seiten, Print Ausgabe 318 Seiten, Gewicht: 529 g

Reinhardt Über die Berge und über das Meer


1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8369-9224-4
Verlag: Gerstenberg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 318 Seiten, Print Ausgabe 318 Seiten, Gewicht: 529 g

ISBN: 978-3-8369-9224-4
Verlag: Gerstenberg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jedes Jahr im Frühling kommen die Nomaden auf dem Weg zu ihrem Sommerlager in den afghanischen Bergen in Sorayas Dorf vorbei. Mit ihnen kommt Tarek, der so wunderbare Geschichten zu erzählen weiß. Doch dieses Jahr wartet Soraya vergeblich auf ihn. Als siebte Tochter ist sie einem alten Brauch zufolge als Junge aufgewachsen, konnte sich frei bewegen und zur Schule gehen. Mit vierzehn Jahren hat sie jedoch das Alter erreicht, wo sie schon längst wieder als Mädchen leben sollte, in der Stille des Hauses. Die Taliban drängen unmissverständlich darauf. Auch Tarek haben sie bedroht. Sie erwarten, dass der erfahrene Spurenleser für sie arbeitet. Tarek und Soraya sehen keinen anderen Ausweg: Unabhängig voneinander machen sie sich auf in die Fremde. In den Bergen treffen sie unverhofft aufeinander.
Ein atmosphärischer Roman von Abschied und Aufbruch, poetisch und packend zugleich.

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Wenn sie dem Glück einen Namen geben dürfte, würde sie es den Frühling nennen. Denn jetzt, im Frühling, ist sie vorbei, die Kälte des Winters, die das kleine Dorf in den Bergen so erbarmungslos gefangen hielt. Sie müssen nicht mehr jede Nacht um einen heißen Stein in der stickigen Wohnstube ihres Hauses sitzen, sondern können wieder auf dem Dach unter den Sternen schlafen. Die Schneeschmelze lässt den Bach anschwellen, die Sträucher an seinen Ufern werden grün und die Obstbäume auf den Feldern ihres Vaters tragen die ersten Knospen. Vor allem aber ist der Frühling die Zeit, in der die Kuchi hier vorbeiziehen, die Nomaden auf ihrem Weg vom Winterquartier in der Ebene zum Sommerlager in den Bergen. Und mit ihnen kommt Tarek, der sich so gut auskennt mit den Tieren und den Gräsern und den Winden und ihr jedes Mal, wenn sie ihn sieht, eine neue, noch spannendere Geschichte zu erzählen weiß. Soraya seufzt, als sie an Tarek denkt. Schon im letzten Jahr hat sie ungeduldig auf ihn gewartet, jetzt ist ihre Sehnsucht noch größer. Eigentlich ist sie auf dem Weg zum Brunnen, um Wasser zu holen, aber sie ist fest entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen, zu jener Stelle über dem Dorf hinaufzusteigen, von der sie bis in die Ebene sehen und die Staubwolken, die die Herden der Kuchi aufwirbeln, schon von Weitem erkennen kann. Der Weg vom Haus ihres Vaters zum Brunnen führt sie mitten durch das Dorf, ein kleines paschtunisches Dorf in einem abgelegenen Tal, wie es sie zu Hunderten in den Bergen gibt. Ganz in der Nähe liegt die Grenze zu Pakistan, man kann sie schon fast sehen. Die Häuser des Dorfes lehnen sich an den Berghang, der ihnen Schutz vor Sonne und Stürmen bietet. Die meisten sind aus Lehm, manche auch aus Stein, da wohnen die Familien, denen die Getreidefelder gehören. Sorayas Familie besitzt nur einige Felder mit Obstbäumen und dazu noch ein paar Ziegen und Hühner, deshalb ist ihr Haus aus Lehm. Aber das ist nicht schlimm, sie mag den Lehm lieber als den Stein, seine rötlich braune Farbe und die Wärme, die er ausstrahlt, und seinen Duft, vor allem am Morgen, wenn ihre Mutter den Boden mit Wasser befeuchtet, dann riecht der Lehm ganz süß und frisch. Während sie, einen Eimer in jeder Hand, durch das Dorf geht, lässt sie ihren Blick über die Häuser wandern. Sie kennt alle, die dort leben, jeden Einzelnen. In dem Haus, an dem sie gerade vorbeigeht, wohnt Roxana mit ihrer Mutter und ihren Großeltern und Geschwistern. Sie ist einige Jahre jünger als Soraya, aber man sieht sie fast nie, nur ab und zu als Schatten in der Tür, der verschwindet, sobald jemand die Straße entlangkommt. Als sie klein war, hat sie mitansehen müssen, wie ihr Vater erschossen wurde, genau hier, am hellen Tag, von einem Mann aus einem anderen Dorf, der sich von ihm beleidigt fühlte. Seitdem hat sie kein einziges Wort mehr gesprochen, mit niemandem, und die Straße hat sie auch nicht mehr betreten. In dem Haus daneben lebt eine Familie, deren ältester Sohn im letzten Sommer das Dorf verlassen hat. Er heißt Rohani. Soraya kann sich gut an ihn erinnern, sie hat ihn nicht besonders gemocht, denn immer wenn er sie sah, lag dieser spöttische, herablassende Ausdruck in seinen Augen. Er arbeitet jetzt für die Amerikaner als Fahrer. Man sagt, so würde er drei- oder viermal so viel verdienen, wie er es hier im Dorf könnte. Viele sprechen seinen Namen mit Verachtung aus und sagen, er sei ein Verräter. Aber vielleicht, denkt Soraya, sind sie auch nur neidisch auf ihn, denn das Haus seiner Familie ist prächtig ausgestattet, prächtiger als die meisten hier. Nur in der Nacht, wenn keine amerikanischen Patrouillen mehr in der Nähe sind, kommen die Taliban aus ihren Verstecken in den Bergen herab und statten dem Haus manchmal einen Besuch ab. Es sind keine freundlichen Besuche und Sorayas Vater sagt, wenn Rohani den Taliban in die Hände falle, sei sein Leben nichts mehr wert, dann müsse er sterben und auch seine Familie werde dann keine Freude mehr an ihrem prächtigen Haus haben. Soraya schwenkt ihre Eimer in der Luft, während sie weitergeht. Zu jedem Haus würde ihr eine solche Geschichte einfallen – auch wenn sie sie niemals so gut erzählen könnte wie Tarek. Sie zögert kurz, ihr Blick wandert sorgenvoll zu den Bergen. Im letzten Frühjahr waren er und seine Familie um diese Zeit schon da, im Jahr davor auch. Irgendetwas muss sie aufgehalten haben. Vielleicht ist es nur das Wetter oder sie haben einen weiteren Weg als zuletzt oder das Scheren der Schafe hat länger gedauert. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes, geht es ihr durch den Kopf. Aber sie schiebt den Gedanken beiseite, als sie vor sich den Brunnen auftauchen sieht. Dort ist wie üblich viel los, es ist der wichtigste Treffpunkt des Dorfes, zumindest für die Frauen und die Kinder. Sie sind nicht nur hier, um Wasser zu holen, sondern auch, um zu hören, was es Neues gibt. Vor allem die Frauen zögern das Auffüllen ihrer Eimer immer so lange wie möglich hinaus, weil sie froh sind, wenigstens einmal am Tag das Haus zu verlassen und draußen zu sein. Natürlich sind sie nie allein, das dürfen sie ja nicht. Die Älteren haben einen ihrer Söhne dabei, die Jüngeren einen ihrer Brüder. Die Jüngeren sind immer verschleiert, die Älteren nicht, die tragen meistens nur ein Kopftuch, da kommt es nicht mehr so darauf an. »Hey, Samir!« Soraya dreht sich um. Nuri steht vor ihr, ein Junge, den sie aus der Schule kennt, sie ist ein paar Jahre älter als er. Er hilft seiner Mutter, die ihr jüngstes Kind in einer Wiege auf dem Kopf trägt, beim Schleppen des Wassers. Mit einer verschwörerischen Geste deutet er auf ein Haus, das in der Nähe des Brunnens steht. »Gleich, in einer Stunde?«, flüstert er. Soraya weiß, was er meint. In dem Haus lebt eine der vornehmeren Familien des Dorfes, sie besitzen einen kleinen Vogel, der in einem Käfig lebt und eine wunderschöne Stimme hat. Sie und Nuri und einige andere sind früher manchmal zu dem Haus geschlichen, um dem Vogel zuzuhören, man kann ihm etwas vorpfeifen, dann ahmt er es nach. Anscheinend will Nuri auch heute wieder dorthin, aber als Soraya darüber nachdenkt, hat sie das Gefühl, dass sie aus dem Alter, in dem man Vögel belauscht, inzwischen heraus ist. Das ist eher eine Beschäftigung für die kleineren Jungen. »Nein, Nuri«, flüstert sie zurück. »Es geht nicht. Ich muss etwas erledigen.« Sie wendet sich von ihm ab. Für einen Moment sind die Gespräche verstummt, als sie am Brunnen erschienen ist, jetzt setzen sie wieder ein. Die Frauen nicken ihr zu. Sie lassen sie nie spüren, dass sie anders ist, das tun nur die Männer. Vielleicht weil die Frauen sich vorstellen können, wie es in ihr aussieht, die Männer interessieren sich nicht dafür. »Samir!« Rubina taucht vor ihr auf, in Begleitung ihres jüngsten Bruders, der gerade einmal drei oder vier ist. Sie trägt den Tschador, der ihr Gesicht teilweise bedeckt, aber Soraya erkennt sie sofort, sie wohnt nur drei Häuser von ihnen entfernt. »Gut, dass ich dich treffe«, sagt Rubina. »Wie geht es Djamila?« Djamila ist Sorayas ältere Schwester. Sie und Rubina sind befreundet, doch jetzt, wo sie versprochen sind und noch in diesem Jahr heiraten werden, dürfen sie kaum noch das Haus verlassen und sich auch nicht mehr gegenseitig besuchen. »Sie ist allmählich ziemlich aufgeregt«, sagt Soraya. »Wegen der Hochzeit.« »Ja, ich weiß«, antwortet Rubina. »Richte ihr meine Grüße aus. Und«, für einen Augenblick tritt sie ganz nah an Soraya heran, »gib ihr einen Kuss von mir. Hörst du, Samir? Den letzten.« Ihre Stimme klingt traurig, als sie das sagt, und gleich darauf ist sie verschwunden. Soraya blickt ihr nach, wie sie die Straße entlanggeht, ihren kleinen Bewacher an der Hand, der kaum gehen kann, ohne zu stolpern. Sie seufzt und wird selbst traurig, als sie an Djamila denkt. Dann dreht sie sich um und stellt ihre beiden Eimer in einer schattigen Ecke neben dem Brunnen ab. Sie wird später zurückkehren und sie füllen, es hat keine Eile, so dringend erwartet ihre Mutter sie nicht zurück. Sie hat genug Zeit, in den Hügeln oberhalb des Dorfes Ausschau nach Tarek zu halten, und genau das wird sie jetzt tun. Als sie den Brunnen wieder verlässt, schaut sie prüfend zum Himmel. Es ist ein klarer Frühlingstag, nur über den Bergen im Südosten, in Richtung der Grenze, stehen einige Wolken. Rings um das Dorf arbeiten die Männer auf den Feldern und in den Gärten, später, am Nachmittag, wird sie auch eine Weile dort sein, um ihrem Vater und ihrem Großvater bei der Arbeit zu helfen, aber das hat noch Zeit. Sie biegt um eine Ecke und dann sieht sie die Jungen. Es sind etwa ein Dutzend, genau die, mit denen sie meistens zusammen ist, in der Schule und auch hier draußen. Eigentlich hat sie gehofft, ihnen heute nicht zu begegnen, ihr kleiner...


Reinhardt, Dirk
Dirk Reinhardt, Jahrgang 1963, studierte Geschichte und Germanistik. Nach seiner Promotion war er bis 1994 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Münster tätig, anschließend arbeitete er als freier Journalist. 2009 erschien sein erstes Kinderbuch, dem bald weitere folgten. 2016 wurde er mit dem Friedrich Gerstäcker-Preis für Jugendliteratur ausgezeichnet.



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