Reinke | Ziemlich beste Lehrer:innen | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 235 Seiten

Reinke Ziemlich beste Lehrer:innen

Wertschätzend, gleichwürdig, respektvoll. Mit E-Book inside
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-407-63269-2
Verlag: Julius Beltz GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Wertschätzend, gleichwürdig, respektvoll. Mit E-Book inside

E-Book, Deutsch, 235 Seiten

ISBN: 978-3-407-63269-2
Verlag: Julius Beltz GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Viele Lehrkräfte führen Gespräche, indem sie belehren, instruieren, verbessern. Wenn sie zwischendurch mal eine Frage stellen, dann oft nur deshalb, um etwaige Antworten gleich auf »richtig« oder »falsch« zu überprüfen. Beziehungskompetente Lehrkräfte setzen auf einen gleichwürdigen Dialog: Sie verhalten sich respektvoll und erkennen an, dass ihr Gegenüber von gleicher Würde ist. Sie sind in der Lage, die eigenen Motive und »Wahrheiten« zu beobachten, ohne sich von unbewussten oder rollenbedingten Wahrheitsansprüchen vereinnahmen zu lassen. Sie übernehmen die Verantwortung für die Qualität der Beziehungen. Dabei spielen (Selbst-)Führungskompetenz, Authentizität, Integrität und Kooperation eine wichtige Rolle. Andreas Reinke zeigt in diesem Buch, was konstruktive Beziehungen ausmacht: Wie kommen Lehrkräfte mit Schüler_innen und Eltern in einen gleichwürdigen Dialog? In welchem Zusammenhang stehen Lernen und Beziehung? Und welche Strukturen braucht es für ein gutes Miteinander an Schulen?

Andreas Reinke ist Grund- und Hauptschullehrer, Trainer und Seminarleiter von familylab, einer gemeinnützigen Organisation, die sich in Anlehnung an den Familientherapeuten Jesper Juul für die gleichwürdige Arbeit mit Kindern und Jugendlichen engagiert.
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Einleitung


»Mit Auszeichnung bestanden« – so stand es auf meinem Zeugnis, das ich nach der zweiten Examensprüfung stolz in der Hand hielt. Endlich war es soweit: Ich durfte mich Lehrer nennen. Mehr noch: Das Zeugnis wies mich als ausgezeichneten Lehrer aus. Die Prüfungskommission, so dachte ich, würde sich schon etwas dabei gedacht haben, wenn sie mir ein Zeugnis mit dem Vermerk »Mit Auszeichnung bestanden« ausstellt.

Etliche Semester hatte ich an der Pädagogischen Hochschule der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel studiert. Ich korrigiere: Etliche Semester war ich eingeschrieben. Denn zugegebenermaßen verbrachte ich deutlich mehr Zeit in Cafés und Hafenkneipen als in Vorlesungssälen und Seminarräumen. Bereits im ersten Semester stellte ich deprimiert fest, dass mir die universitäre Ausbildung nicht das bot, was ich mir von einem Lehramtsstudium erhofft hatte. Sie war mir zu theoretisch, zu verschult, zu unlebendig. Während mein Bruder, auch Lehramtsstudent, vorbildlich Vorlesungen über die Geschichte der Pädagogik und Hohenzollern besuchte, setzte ich mich mit Freund:innen und Kommilitonen zumeist in die Mensa. Wir tranken literweise Kaffee, rauchten Kette und redeten. Wir redeten über das Leben, das Menschsein, Beziehungen. Wir diskutierten darüber, wie wir uns Schule vorstellen und was wir anders machen wollen. Wir sprachen über unsere Wünsche, Ängste und Werte. All diese, für uns so wichtige Themen spielten in den Vorlesungen und Seminaren keine Rolle. Veranstaltungen an der Uni waren trocken wie Wüstensand und ähnelten den Unterrichtsstunden unserer Schulzeit. Ich weiß noch, wie unendlich froh ich darüber war, die Schule endlich hinter mich gebracht zu haben. Und siehe da: Wieder sollte ich mich in Räume setzen, in denen Wissende Wissen vermitteln und Tische und Bänke in Reih und Glied stehen. Schnell stand für mich fest, dass ich diesen Blödsinn nicht mitmachen würde. Dennoch wollte ich Lehrer werden. Also tat ich das, was ich heute beschreibe mit den Worten »mit dem System tanzen«. Vierzehn Semester lang tanzte und studierte ich wild herum.

Trotz aller Schwierigkeiten und (Selbst-)Zweifel bestand ich das erste Staatsexamen. Ich startete mein Referendariat an einer Lübecker Grund- und Hauptschule, und nach zwei intensiven Praxisjahren, etlichen großen Unterrichtsvorbereitungen und einer Abschlussprüfung, an die ich mich heute kaum noch erinnere, hatte ich mein großes Ziel erreicht. Ich war fertiger Lehrer. Dass ich bald tatsächlich fertig sein würde, ahnte ich zu der Zeit nicht.

Ich entschied, nicht sofort in den Schuldienst zu gehen. Stattdessen arbeitete ich über Monate in einer Sylter Bar, um mir einen längeren Aufenthalt in Thailand und Australien zu finanzieren. Auf Sylt und am anderen Ende der Welt lernte ich mich besser kennen. Abseits meiner gewohnten Umgebung stieß ich auf Ängste und Potenziale, von denen ich überhaupt nicht wusste, dass sie in mir waren. Ich lernte, was es bedeutet, als Türsteher dazwischenzugehen und testosterongesteuerte, volltrunkene Männer davon abzuhalten, sich gegenseitig umzubringen. Ich musste irgendwie zurechtkommen, nachdem ich auf Koh Phi Phi meine Bankkarte verloren hatte und mir plötzlich kein Geld mehr zur Verfügung stand. Ich übernahm den Bus-Shuttle in einem australischen Hostel (Achtung Linksverkehr). Wer vier Wochen lang zweimal am Tag zum ortsansässigen Busbahnhof fährt, um den Satz »Anyone wants to go to Surfers Paradise?« über den Platz zu brüllen, verliert seine Scheu davor, in der Öffentlichkeit aufzutreten.

Nach meiner Rückkehr in Deutschland stellte ich mich abermals hinter den Tresen. Mir blieb noch etwas Zeit, bevor ich in Hamburg als Lehrer arbeiten würde. Das zumindest war mein Plan. Dann jedoch kam das Leben dazwischen. In der Sylter Wunderbar geschah tatsächlich ein Wunder: Ich lernte die Frau kennen, die eineinhalb Jahre später unsere Tochter Emma zur Welt bringen würde. Im Vollrausch des Verliebtseins packte ich meine Sachen, um meine Zelte in Leipzig aufzuschlagen. »Kein Problem«, dachte ich, »du hast gelernt, auch woanders klarzukommen.«

In Sachsen bewarb ich mich um die Einstellung in den staatlichen Schuldienst. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich mit den Fächern Deutsch, Geschichte und Religion keine größeren Probleme haben würde, eine Anstellung zu bekommen. Zumal mein Zeugnis die Formulierung »Mit Auszeichnung bestanden« enthielt. Nie werde ich das Vorstellungsgespräch in der Leipziger Nonnenstraße vergessen. Erschrocken nahm ich zur Kenntnis, dass meine Bewerbung überhaupt nicht ernst genommen wurde. Meine Ansprechpartnerin sah mich an, als wäre ich nicht ganz dicht. Nach einem Gespräch, das Formulierungen wie »Keine Chance!« enthielt, verschwand meine Bewerbungsmappe im Nirwana eines dicken Stapels. Noch heute muss ich mit dem Kopf schütteln angesichts der Arroganz, mit der man mich seinerzeit abwies. Nur wenige Jahre später wurden (nicht nur) in Sachsen händeringend Lehrer:innen gesucht.

Glücklicherweise fand ich eine Anstellung an einer Schule in freier Trägerschaft. Voller Vorfreude und Tatendrang übernahm ich die Leitung einer zweiten Klasse. Nach wenigen Wochen dachte ich: »Ich gehöre wahrscheinlich zu den Lehrkräften, die im ersten Berufsjahr mit Auszeichnung scheitern.« Zwischen dem, was auf meinem Zeugnis stand, und dem, was ich erlebte, lagen Welten. Zwar bereitete mir das Zusammensein mit den Schüler:innen meiner Igel-Klasse große Freude. Jedoch fühlte ich mich den neuen Herausforderungen ganz und gar nicht gewachsen. Schon nach drei Monaten war mein Tank leer. Gegen das, was ich an meiner ersten Schule erlebte, kam mir die Herausforderung, mit einem Moped über die Insel Phuket zu fahren und plötzlich keinen Sprit mehr zu haben, wie ein Witz vor.

In meiner Ausbildung hatte ich gelernt, fachwissenschaftlich zu arbeiten und Zauberstunden vorzuführen. Dass diese während des Referendariats zumeist gut gelaufen waren, lag nicht zuletzt daran, dass ich Lehrproben in Ruhe hatte vorbereiten können. Außerdem waren mir meine Schüler:innen gerade dann wohlgesonnen, wenn's drauf ankam. Sie machten brav mit und hielten sich an meine Unterrichtsvorbereitungen. Von meinen Seminarleiter:innen wurde ich regelmäßig dafür gelobt, dass ich den Laden im Griff hatte und die Zukunft voraussagen konnte. Ich war hochkompetent im Gebrauch des Futur II: »Was werden meine Schüler:innen wann und wie gesagt und gelernt haben?« In der letzten Reihe saßen meine Ausbilder:innen, um Schüler:innen-Antworten dahingehend zu überprüfen, ob sie mit meinen antizipierten Antworten übereinstimmten. Außerdem – und dieser Punkt kam in den sogenannten Reflexionsgesprächen immer wieder zur Sprache – würden mich meine Schüler:innen respektieren. Schließlich hätte es keine Unterrichtsstörungen gegeben. Man muss sich das bitte vorstellen: Respekt ist, wenn junge Menschen brav und gehorsam sind. Was für ein Käse!

Das »normale« Schulleben forderte von mir deutlich mehr, als akribisch vorbereitete Unterrichtsstunden abzuliefern. Inmitten von achtundzwanzig Wochenstunden, der antiquierten Idee der Wissensvermittlung und nebulösen Erwartungshaltungen traf ich auf Schüler:innen, die sich dagegen wehrten, verplant und zurechtgewiesen zu werden. Während mich Eltern aufforderten, für Ruhe zu sorgen und keine Experimente zu machen, gaben mir Kolleg:innen zu verstehen, dass sie von dem ganzen »neumodischen Quatsch« nichts hielten. Und über allem thronte ein Schulleiter, der eher mit seinem Image als mit Schulentwicklung und Personalführung beschäftigt war. Kurzum: Ich war mit der sogenannten Realität überfordert. Das Lehrerdasein war für mich ermüdend, deprimierend, beängstigend. Ich war nicht der, der mit dem System tanzte. Ich war der, der in Richtung Abgrund taumelte.

Gebetsmühlenartig sagte ich mir, dass ich mir nicht alles so zu Herzen nehmen darf. Gleichzeitig schämte ich mich in Grund und Boden. Schließlich war ich nicht an einer sogenannten Brennpunktschule gelandet, sondern an einer Leipziger Grundschule mit einem musikalischen Profil. Aus dem benachbarten Klassenzimmer ertönte Klaviermusik von Clara Schumann. In meinem Kopf hingegen war »Highway to Hell«. Unerfahren wie ich war, konnte ich kaum benennen, was mich belastete. Mein bevorzugter Erklärungsversuch beziehungsweise Richterspruch lautete: »Ich bin zu weich.« Heute denke ich: »Zu was

Ich hatte schon immer ein feines Gespür für das Unausgesprochene, für Zwischengeräusche, für Stimmungen. Damals – zwischen Klavier und Klarinette – nahm ich wahr, dass sich hinter dem künstlerischen Profil der »besonderen Schule« noch etwas ganz anderes verbarg als musikalische Frühförderung. Die Zwischentöne waren geprägt...



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