Reisinger | Männer töten | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 205 mm, Gewicht: 459 g

Reisinger Männer töten

Roman
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7011-8310-4
Verlag: Leykam
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 205 mm, Gewicht: 459 g

ISBN: 978-3-7011-8310-4
Verlag: Leykam
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Wer ist Opfer, wer Täter*in?«Rasant erzählte Utopie eines wehrhaften Feminismus. Anna Maria lebt ein typisches Großstadtleben: Sie arbeitet in einer hippen Firma, geht am Wochenende mit ihren Freundinnen feiern und hat eine komplizierte Ex-Beziehung. Bis sie Hannes an der Bar eines Nachtclubs kennenlernt. Er ist aus Engelhartskirchen, einem oberösterreichischen Dorf, von dem sie bis dahin noch nie gehört hat. Und ganz sicher rechnet sie nicht damit, eines Morgens mit Hannes in diesem Nest aufzuwachen. Als es doch passiert, lassen die Klischees zunächst grüßen: Kühe, Knödel, Kirchturmglocken. Dann aber bemerkt Anna Maria, dass nicht alles ins Bild passen will. Warum gibt es eine Pfarrerin, obwohl das Dorf katholisch ist? Wie kommt es, dass die Frauen hier viel lauter feiern als anderswo? Wo sind die Männer hin? Und was hat das alles mit Kathrin Glock zu tun? Eva Reisinger erzählt eine skandalöse Geschichte über Macht, Freundinnenschaft und weiblichen Zusammenhalt in einem ungewöhnlichen Setting. Eine Tour de Force durch dringliche Themen der Gegenwart, voller popkultureller Poesie.
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Anna Maria weiß, wo sie ist. Sie weiß nicht, wie sie das findet. Sie blinzelt und dreht sich an einem Samstagmorgen zur Seite. Hannes’ Decke liegt in der Mitte gefaltet auf dem Bett. Der Polster ist aufgeschüttelt. Sie streicht mit dem Handrücken darüber, er ist kalt. Sie blickt auf das FM4-Poster an der Tür und die schwere Kommode daneben. Die Sticker beweisen, dass sie schon in seinem Zimmer stand, als er noch jünger war. Dass da einmal mehr Plakate an den Wänden waren, zeigen die Rückstände des Klebers. Nachdem sie die Jogginghose zwischen ihren Kisten entdeckt hat, geht sie barfuß die knarrenden Stufen nach unten, das alte Holz macht seine eigenen Geräusche. Die Stufen werden schmaler, sie hält sich am Geländer fest. Im Vorhaus angekommen öffnet sie die massive Tür. Sie blieb wie die Balken und die Stiege bei der Renovierung des Bauernhauses erhalten. Der Frühstückstisch ist gedeckt, Hannes ist aber nicht da. Aus der türkis-weiß bemalten Kanne leert sie schwarzen Kaffee in die dazu passende gemusterte Tasse. Sie nimmt einen Schluck mit einem lauten Schmatzen. Vor ihr stehen Speck, Joghurt und unterschiedliche Käsesorten. Rechts ein Brotkorb mit dunklen Bauernbrotscheiben und links ein oranges Glas mit der Aufschrift Jacobs Marillenmarmelade. Gierig schmiert sie eine dicke Schicht Butter auf ein Brot, darauf sehr viel Marmelade und beißt die Hälfte davon auf einmal ab. Im Mund schmeckt sie Anis, Marillen und Fett. Während sie über die Parallelen von Essen und Sex nachdenkt – sie ist der Meinung, dass das Erste deutlich öfter überzeugt, aber man danach gleich noch mehr essen will, was nach wirklich gutem Sex bei ihr nicht so ist –, läutet es aus der Küche. Sie folgt dem Ton für ein paar Meter und findet ein altes Telefon an der Wand hängen. Mattes schwarzes Plastik mit kiwigrünen Plastiktasten. Ohne zu überlegen, greift sie nach dem Hörer, prallt mit dem Gips ab, wechselt die Hand und zieht das Kabel mit der anderen lang, um den Hörer ans Ohr zu halten.

– Hallo?

– Servus, da ist die Josepha von gegenüber. Du solltest schon deinen Namen sagen, wenn du abhebst. Oder wenigstens »Hier bei Mayer!«, weil so kennt sich niemand aus. Kannst übrigens Jojo zu mir sagen.

– Hier ist Anna Maria.

Josepha sagt, dass sie das weiß, darum ruft sie an.

– Heute poltern wir, weil die Bine und ich heiraten bald, sagt sie noch.

– Okay, antwortet Anna Maria und blickt auf den Frühstückstisch.

– Um drei vorm Lagerhaus, bis gleich!

Dann tutet es in der Leitung, Anna Maria setzt sich zurück an den Tisch und schiebt sich das restliche Brot in den Mund. Sie schaut auf die Uhr, fast zwölf. Kein Wunder, dass niemand im Haus ist. Hannes’ Bruder Jacob hat eine Vorlesung. Hannes’ Mutter Traudi trifft eine Freundin, das hat sie ihr gestern erzählt. Und Hannes? Hannes kann nur im Stall oder auf dem Feld sein.

Sie greift sich eine Strickweste vom Garderobenhaken, streift beim Vorbeigehen mit den Fingern über den moosgrünen Kachelofen. Die Kacheln sind glatt und kalt. Anna Maria fröstelt es, sie bindet die Weste enger um den Körper und huscht auf Zehenspitzen über den Steinboden im Vorhaus.

Sie blickt in den blauen Himmel, dann schweift ihr Blick über den Garten. Draußen ist es wärmer als im Haus. In der Ferne hört sie die Glocken läuten, wahrscheinlich ein Begräbnis. Um die Kirche und den Friedhof in Engelhartskirchen zu erreichen, braucht sie sieben Minuten. Sie ist erst seit zwei Wochen hier, das weiß sie bereits. Besuche in der Kirche sind ein Muss.

Eine zitronengelbe Mauer mit weißen Streifen umgibt den Hof. Die Art von Gelb, die irgendwann einmal im Trend war, und alle, die ihren Hof renovierten, entschieden sich für die sonnige, freundliche Farbe. Mittlerweile wurde die Mauer an vielen Stellen von Sträuchern überwuchert und aus der Farbe war mit dem Alter Eierschale geworden. Die Bäume auf dem Grundstück der Nachbarinnen erwecken den Eindruck, dass sich der Hof am Rand eines Waldes befindet. Bei der Einfahrt wird die Mauer durch ein Eisentor unterbrochen. Handarbeit, geschmiedet von Hannes’ Großvater. Mehrere Meter hohe Ornamente verschlingen sich ineinander. Anna Maria kann es nicht schließen. Nur Hannes weiß, wie das Schloss einhaken muss, damit es hält.

Quadratische Granitpflastersteine säumen den Weg. Eine perfekt gemähte Kante leitet den Übergang zum Garten ein. Die Apfelbäume bieten Schatten, Efeu wächst an der Hauswand entlang und lässt die unverputzten Ziegel darunter hervorschauen. Zwischen Hof und Stall steht die Doppelgarage, die ein Teil des Stalles war. Die schwere Holztür erinnert noch daran. Anna Maria lugt durch den Spalt und sieht, dass das Auto weg ist. Hat Hannes’ Mutter den Wagen genommen? Oder ist er selbst weggefahren?

Eine Sirene ertönt. Anna Maria erschreckt sich, dann flaut der Ton wieder ab. Es müsste nun Mittag sein, das Lagerhaus schließt. Ihr ist warm, sie zieht die Strickweste aus und bindet sie sich um die Hüfte. Dann ruft sie nach Hannes. Das Tuckern eines Traktors schallt von der Straße her in den Garten. Das war zu leise. Sie ruft noch einmal, lauter. Es kommt ihr komisch vor, seinen Namen zu schreien. Die Kieselsteine in der Einfahrt bohren sich bei jedem Schritt in ihre Fußsohlen. Aua. Sie hätte Schuhe anziehen sollen. Sie betritt die kühle Wiese. Wo ist er nur?, fragt sie sich. Sie ärgert sich, dass sie an eine Weste gedacht hat, aber nicht auf die Idee gekommen ist, sich Schuhe anzuziehen. Es sind die kleinen Fehler, die verraten, dass sie in der Stadt aufgewachsen ist. Sie läuft die Wiese hinauf Richtung Wald. Da entdeckt sie Hannes vor dem Stall mit einer Kuh. Je näher sie kommt, desto deutlicher hört sie seine Stimme. Er spricht mit dem Tier und streichelt es am Hals entlang über den Rücken nach hinten. Die Kuh wedelt mit dem Schwanz.

– Warum hast du nichts an?, fragt er Anna Maria, schaut zu Boden und betont das letzte Wort und macht ein »aaauuuu« daraus.

Anna Maria blickt auf ihre nassen Füße, die zwischen dem hohen Gras und Dreck hervorlugen. Weil sie dachte, am Land brauche sie nicht andauernd Schuhe, denkt sie, sagt es aber nicht. Hannes trägt schwere Stiefel, dunkelgrau kariert mit dicker Sohle und orangen Bändern. Sie erinnern sie an Wanderschuhe. Dazu hat er Jeans an und sein Shirt spannt über dem Oberkörper. Er zieht die Handschuhe aus und stopft sie in die hintere Hosentasche. Kratzt sich am Ohrläppchen mit dem Flinserl, mit der anderen Hand streicht er sich sein haselnussbraunes Haar zur rechten Seite. Wenn er kein Gel benutzt, liegen die Haare wie bei einem Topfschnitt auf der Stirn und reichen bis zur Mitte. Seine Ohren wirken dann länger, der Kiefer größer und die Augen blauer. Er nimmt ihre Hand und zieht sie zu sich, küsst sie auf die Nase. Sie riecht sein Deo (Axe Africa), das sie in den Skikurs in der Unterstufe in ihrem Gymnasium in Wien zurückwirft, aber auch ein Ziehen in der Leiste auslöst.

– Das ist die Susanne, sagt er und zeigt auf die Kuh.

Anna Maria nickt. Seine Lieblingskuh. Sie erhole sich gerade von einer schweren Geburt. Anna Maria erzählt von Josephas Einladung zum Poltern. Hannes sagt, dass seine Mutter auch eingeladen ist, aber eine Freundin trifft. Anna Maria weiß das. Sie will lieber hören, wie das Poltern werden wird.

– Jessas, das wird wild!

Egal, was sie ihn fragt, er wiederholt immer wieder diesen Satz. Er schüttelt den Kopf und sagt:

– Jessas, das wird wild!

Er hat keine Ahnung, wie wild.

Anna Maria sitzt vor dem Lagerhaus auf der Gehsteigkante. Ihr Hintern passt nicht darauf. Sie mustert ihre lila Yogahose und zupft am Batik-Shirt. Wenn man die Augen zusammenkneift und schon ein paar Bier intus hat, ist es vielleicht pink, was sie da trägt. Wahnsinnig komisch kommt sie sich vor. Schließlich werde beim Poltern Pink getragen, oder?, denkt sie. Sie streift sich die Haare aus dem Nacken. Sie sind nicht braun, nicht blond, sie sind irgendwas dazwischen. Sie sind der Grund, warum sie als Teenager mit dem Färben begonnen hat, in der Hoffnung, dass sie endlich irgendwas sind. Sie erhebt sich stöhnend und blickt auf dem Parkplatz in einen Autospiegel. Mit einem Stoffhaargummi bindet sie ihre gelockten Haare zusammen.

Sie lässt die Einfahrt nicht aus den Augen und hofft, dass die Poltergruppe bald antanzt, bevor sie schmilzt. In dem Moment öffnet eine Jugendliche die Tür des Lagerhauses und eine Gruppe Frauen kommt zum Vorschein. Keine trägt Pink oder Rosa oder eine weirde Annäherung wie Anna Maria. Sie erkennt ihre Nachbarinnen. Josepha hat einen Kranz aus Lavendel, Flieder und Efeu im Haar und einen Wildblumenstrauß mit einer Zucchini in der Hand. Ein luftiges Kleid in Pastellfarben schmiegt sich an ihren Körper, dazu kombiniert sie Cowboystiefel. Hinter ihr taucht ihre Verlobte Sabine auf. Sie streift sich die Hosenträger der schwarzen Latzhose...


Reisinger, Eva
Eva Reisinger, 1992 geboren, wuchs in der oberösterreichischen Provinz zwischen Zeltfest und Wodkabull auf. Sie studierte in Wien Journalismus, arbeitete in Medienhäusern in Hamburg, Berlin und Istanbul. Ab 2017 baute sie einen Österreich-Schwerpunkt für das junge Medium der ZEIT auf und berichtete als Korrespondentin aus dem Nachbarland. Ihr erstes Buch »Was geht, Österreich?« erschien 2021 bei Kiepenheuer & Witsch. Für ihren Debütroman erhielt sie das Start-Literaturstipendium der Stadt Wien. Sie lebt als freie Autorin mit ihrer Hündin Frieda in Wien und träumt vom Matriarchat.



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