E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: zur Einführung
Rheinberger Historische Epistemologie zur Einführung
unverändert
ISBN: 978-3-96060-067-1
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-067-1
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Hans-Jörg Rheinberger ist Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.
Autoren/Hrsg.
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1. Fin de Siècle
Das Ideal der Naturerklärung, das sich nach dem kurzen Zwischenspiel romantischer Naturforschung im Verlauf des 19. Jahrhunderts artikulierte und radikalisierte, war ein mechanisches. Immer wieder findet man den Satz ausgesprochen, der Naturforschung gehe es darum, zuletzt alle Erscheinungen auf die Bewegung kleinster Teilchen und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte zurückzuführen. Wo dies noch nicht als geleistet angesehen werden konnte, wie etwa im Bereich der grundlegenden Lebenserscheinungen, gab man sich doch der Hoffnung hin, mit verfeinerten Methoden das Ziel dereinst ebenfalls zu erreichen. Auf einzelnen Gebieten schien die Naturforschung immerhin bereits an diesem Punkt angelangt. Dem sicheren methodischen Leitfaden der Induktion folgend, verhielt sich der historische Gang naturwissenschaftlicher Erkenntnis wesentlich kumulativ. Dem in Berlin wirkenden Elektrophysiologen Emil Du Bois-Reymond schien es gar, »dass der geschichtliche Gang der induktiven Wissenschaften meist nahe derselbe ist wie der Gang der Induktion selber«. Im Idealfall fielen somit nicht nur Forschung und Darstellung, sondern auch die Methode der Erkenntnisgewinnung und der reale historische Verlauf der Forschung zusammen. Von den »Zufälligkeiten des Entdeckungsgeschäftes«2 abgesehen, war die Geschichte einer Wissenschaft als identisch aufzufassen mit dem induktiven Prozess ihrer Ausdifferenzierung. Konsequenterweise sah der Berliner Physiologe denn auch für die Wissenschaftsgeschichte eine im Wesentlichen didaktische Rolle vor. Dieser Ansicht folgte auch zwei Jahrzehnte später noch Pierre Duhem: »Die richtige, sichere und fruchtbare Methode, um einen Geist zur Aufnahme einer physikalischen Hypothese vorzubereiten, ist die historische.«3 Im Gegensatz zu Du Bois-Reymond war Duhem aber nicht der Meinung, dass ein Hypothesensystem rein induktiv aus der Erfahrung gewonnen werden konnte, vielmehr sollte die historische Methode die Darlegung jener »Schicksale« leisten, die zu seiner Einführung und Durchsetzung geführt hatten. Die historische Darstellung hatte für Duhem also Grundsätzliches über den Verlauf der Erkenntnisgewinnung zu vermitteln. Als Erzählung blieb die Geschichte aber in ihren methodischen Voraussetzungen bei Du Bois-Reymond wie bei Duhem unthematisiert und in ihrer narrativen Struktur weitgehend unproblematisch.
Nun hielt allerdings Du Bois-Reymond 1872, im selben Jahr seiner eben zitierten Rede »Über Geschichte der Wissenschaft« zum Leibniz-Tag der Berliner Akademie der Wissenschaften, eine weitere Rede »Über die Grenzen des Naturerkennens«. Darin zog er, auf der Jahresversammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte in Leipzig, die Konsequenz aus seiner Vorstellung vom Gang des Wissens. Die mechanische Naturerkenntnis sah er – sogar oder vielmehr gerade unter der Voraussetzung, dass sie einmal zur Vollendung gebracht sein würde – vor zwei Schranken gestellt, von denen nicht abzusehen war, wie sie überwunden werden konnten. Zum einen war sie nicht in der Lage, über ihre Grundbegriffe – Materie, Kraft, Bewegung – Rechenschaft abzulegen: Sie konnte sie nur setzen, aber nicht gemäß ihren eigenen induktiven Regeln gewinnen. Zum anderen stand sie machtlos vor den Erscheinungen der Empfindung und des Bewusstseins, die für Du Bois-Reymond zwar eine materielle Grundlage besaßen, aber nicht aus der so verstandenen Mechanik abgeleitet werden konnten. Dass es keine Letztbegründung für die Basisbegriffe gab, mit denen das mechanische Wissensparadigma operierte, führte Du Bois-Reymond zu der einigermaßen radikalen Schlussfolgerung, mechanisches Erklären liefere im Grunde nur das Surrogat einer Erklärung, eine allerdings gelegentlich, wie er hinzufügte, »äußerst nützliche Fiktion«4. Wir sehen an dieser Stelle, wie das Prinzip der mechanischen Naturerklärung, gewissermaßen auf sich selbst angewendet, umschlägt in Agnostik. Hier nahm ein Denken seinen Ausgang, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Sammelnamen des Konventionalismus vor allem in der Physik und der philosophischen Auseinandersetzung mit ihr weite Verbreitung finden sollte und auf das ich noch zurückkommen werde. Du Bois-Reymond gab jedenfalls mit dem »Ignorabimus« am Ende seiner Rede das Stichwort zu einer anhaltenden Debatte, die noch ein halbes Jahrhundert später in der Programmatik des Wiener Kreises ihren Widerhall fand. Die wissenschaftspolitischen Akzente hatten sich bis dahin allerdings verändert. Mitglieder des Wiener Kreises kämpften am Ende der zwanziger Jahre – in einer Zeit des kulturellen Nachkriegs-Wissenschaftspessimismus – noch einmal für eine einheitliche Wissenschaft, der innerwissenschaftlich keine Grenzen gesetzt sein sollten, wenn sie sich nur vom Ballast metaphysischer Scheinprobleme befreite. Ebenfalls aus der Engführung des mechanistischen Gedankens heraus hatte Du Bois-Reymond mit der Nichtreduzierbarkeit von Bewusstsein auf Materie einen Punkt bezeichnet, von dem ausgehend eine Dichotomie des Wissens in Form der befestigten Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften Gestalt annehmen konnte. Diese duale Kompetenzverteilung bildete den entscheidenden Anknüpfungspunkt für die zeitgenössische Kritik, der Du Bois-Reymond als konservativer Epistemologe galt. Von mechanistisch gesinnter monistischer Seite schlug ihm heftiger, ontologisch motivierter Widerstand entgegen.
Ernst Mach verwies gleichermaßen auf die Reichweite wie auf die Grenzen von Du Bois-Reymonds Verzweiflungsschlag, als er fast ein Vierteljahrhundert später bemerkte: »War es doch ein wesentlicher Fortschritt, dass die Unlösbarkeit seines Problems erkannte, und war diese Erkenntnis doch für viele Menschen eine Befreiung, wie der sonst kaum begreifliche Erfolg seiner Rede beweist. Den wichtigeren Schritt der Einsicht, dass ein prinzipiell als unlösbar erkanntes Problem auf einer beruhen muss, hat er allerdings nicht getan. Denn auch er hielt, wie unzählige andere, das Handwerkszeug einer Spezialwissenschaft für die eigentliche Welt.«5 Eine Verwechslung des Handwerkszeugs einer Spezialwissenschaft mit der »eigentlichen Welt« – die damit angedeutete mögliche Relativierung von Wissensansprüchen wollen wir in ihrer Ausbreitung und den konkreten Formen, die sie gegen das Ende des 19. Jahrhunderts annahm, nun an einzelnen Beispielen weiter verfolgen.
Werfen wir zunächst einen Blick darauf, wie Mach selbst versucht, der von ihm als verkehrt erachteten Fragestellung zu entgehen. Seine kann dabei als Ausgangspunkt dienen. In ihr kommt die Forschung als solche auf eine Weise in den Blick, die einer eingehenderen Betrachtung wert ist. Im Gegensatz zu Du Bois-Reymond stellt Mach wissenschaftliches Wissen nicht aporetisch, sondern als eine prinzipiell unabschließbare Unternehmung dar. Er unterscheidet, gleichsam als fernes Echo von Auguste Comte, drei Zeitalter: Den Anfang macht die animistische Mythologie der alten Religionen. Im 16. und 17. Jahrhundert entsteht dann, noch im Rahmen einer theologischen Grundstimmung, eine mechanische Kosmologie, die sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts von der Religion ablöst und als mechanische Mythologie zur »projektierten Weltanschauung der Enzyklopädisten« wird. Letztere wird schließlich im ausgehenden 19. Jahrhundert durch ein »besonneneres« Zeitalter überwunden, von dem abzuwarten bleibt, wie es sich entwickeln wird: »Die , in welcher die Aufklärung durch eine lange und mühevolle Untersuchung zu erwarten ist, kann natürlich nur vermutet werden. Das Resultat , oder es gar in die gegenwärtigen wissenschaftlichen Untersuchungen einmischen zu wollen, hieße Mythologie statt Wissenschaft treiben.«6 Mach sieht hier das, was er als Wissenschaft von der Mythologie abgrenzt – womit er übrigens im Vorwort zur ersten Auflage seiner Geschichte der Mechanik von 1883 auch seine eigene »antimetaphysische Tendenz« charakterisiert –, wesentlich bestimmt durch Unabgeschlossenheit und vor allem Unvorwegnehmbarkeit der weiteren Entwicklung: Wir sehen grundsätzlich nicht voraus, wie es weitergehen wird. An der oben zitierten Stelle bezeichnet Mach es denn auch als die höchste Form der Philosophie, deren sich ein Naturforscher befleißigen kann, eine »unvollendete Weltanschauung zu ertragen und einer scheinbar abgeschlossenen, aber unzureichenden vorzuziehen«. Mach betrachtet durchaus auch seine eigene Arbeit als Moment eines übergreifenden historischen Prozesses. Er ist nicht der Vollender seiner Wissenschaft, sondern eröffnet ihr als ein Teilnehmender neue Ausblicke. Historisches Bewusstsein hat für ihn dabei eine doppelte Funktion zu erfüllen. Zum einen hilft es, die systematischen Verfestigungen des jeweils gegenwärtigen Wissens durchsichtig zu machen und es als Gewordenes, nicht als Gegebenes zu verstehen. Zum anderen legt historisches Bewusstsein auch die Möglichkeit nahe, nach neuen, bisher unbetretenen Wegen zu suchen, »indem sich das Vorhandene eben teilweise als und erweist«7. Für Mach hätte die Entwicklung der Mechanik...