Richle | Anaconda 0.2 | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Richle Anaconda 0.2

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-03855-073-0
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

ISBN: 978-3-03855-073-0
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



An einer politischen Demo wird Leo, ein junger Mann von zwanzig Jahren, von einem Hartgummigeschoss der Polizei so schwer getroffen, dass er ins Koma fällt und stirbt. In ihrer Trauer schlagen die Eltern ganz unterschiedliche Wege ein. Während die Mutter einen Verein für Persönlichkeitsrechte gründet und mit dessen Hilfe den Untersuchungsbericht der Polizei attackiert, versucht der Vater herauszufinden, was für ein Leben sein Sohn geführt hat, seit er vor einem Jahr von zu Hause ausgezogen ist. Bei der Räumung des ehemaligen Kinderzimmers findet er eine seltsame, alte Spieluhr, die sich als geplante Paketbombe entpuppt. Auf der Suche nach den Personen, die mit seinem Sohn in Kontakt standen, dringt er immer tiefer in den digitalen Kampf zwischen Big-Data-Konzernen und Antiglobalisierern vor, an dem sich Leo als Hacker beteiligt hatte. Als der Vater sich von seiner Frau zunehmend zu entfremden droht und gleichzeitig feststellen muss, dass er in Leos digitalem Krieg längst seine eigene Rolle hat, fasst er einen Entschluss.

Urs Richle, geboren 1965 im Toggenburg, lebt mit seiner Familie in Genf. Er ist diplomierter Medieningenieur und veröffentlichte in den Neunzigerjahren eine Reihe von Romanen (u. a. "Das Loch in der Decke der Stube", "Mall oder das Verschwinden der Berge", "Fado Fantastico"), die in mehrere Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet wurden. Neben dem Schreiben arbeitet Urs Richle in Forschungsprojekten an der Universität Genf und als Dozent am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel.
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5


Um halb fünf trat ich aus meinem Büro, eine halbe Stunde früher als sonst. Niemand bemerkte mein Weggehen. Der Conda war da, oder er war nicht da, das kam so ziemlich auf dasselbe raus. Das modulare Sicherheitssystem, das ich am hml, dem Human Machine Laboratory, seit einigen Jahren betreute, musste auch ohne mich auskommen: Videoüberwachung, biometrische Schlüssel, automatische Türverriegelungen, Zugangsfilter, Netzwerkbarrieren. Winzige und große Linsen lieferten Bilder von Kunden im Kontinuum an einen Server unseres Instituts, auf dem sie nach drei Monaten und ein paar Stunden automatisch wieder gelöscht wurden. Über hundert solcher Kameras hatte ich in den vergangenen fünfzehn Jahren bei Banken, Versicherungen und Privatleuten installiert, die alle zusammen täglich eine gigantische Menge Bilder produzierten, Bilder der Gefahrenleere, der Kapitalisierungsstatik, der Hochsicherheitsinformatik, mein Kompetenznachweis.

Parallel dazu schrieb ich Algorithmen für neuronale Netzwerke im Bereich der Emotionserkennung für effiziente Entscheidungsfindung, das zweite Spezialgebiet des hml. Produkte und Kommunikationskanäle, Schnittstellen und Bedienungsoberflächen von Werkzeugen und Apparaten werden mit sensorischer Intelligenz ausgestattet, um auf Kundenverhalten zu reagieren und effizienter und schließlich gewinnbringender zu agieren. Aber als Forscher interessierten mich die ökonomischen Ziele nicht. Ich konzentrierte mich auf die Funktionen, die kleine Berechnungen und Anweisungen ausführten, und organisierte meinen Code chaotisch, organisch beinah, als handle es sich um eine lose Ansammlung von Gewürzen. Die ständig wachsende Modulbibliothek war meine Küche, in der ich eine gewisse Unordnung so lange als Schutzmechanismus praktizierte, bis ich selbst darin die Übersicht verlor. Das Ganze war so kompliziert geworden, dass nicht vorauszusehen war, was alles passieren würde, wenn das Programm einmal lief. Aber es funktionierte und zeigte Zahlen und Buchstaben an. Das Fenster öffnete sich brav genau so, wie ich es vorgesehen hatte, und präsentierte die absolut unspektakulären Ergebnisse am Bildschirm. Nur ich vermochte sie zu interpretieren und wusste, was im Innern des Computers ablief, sah vor meinem inneren Auge, wie eine Funktion nach der anderen ausgelöst und durchgerechnet wurde, quer durch den wirren Wald der konstruierten Module, der verketteten Objekte, durch die Vernetzungen und Verlinkungen dieses künstlichen Hirns. Ich war der Herrscher und der Beherrschte zugleich. Ich sah und kontrollierte und sah, was ich kontrollierte. Meine Gedankenwelt war die eines Hologramm-Künstlers.

Ich ließ mein Fahrrad auf dem Platz vor dem Institut stehen, stellte mich mit meiner Aktentasche zwei Straßen weiter an die Haltestelle. Der Bus fuhr pünktlich, und 45 Minuten später überquerte ich am anderen Ende der Stadt den weiten, von alten Autos und ausrangierten Lastwagen verstellten Parkplatz. Neben einem lahmen Igluzelt rauchte eine Feuerstelle, aufgeschlitzte Matratzen lagen davor, zerschlagene Wodkaflaschen, Bierdosen, Reste eines gebratenen Huhns. Ein Hund schoss auf mich zu, bellte, rannte wieder weg. Auf der linken Seite standen riesige, durch ein weites Rohrleitungsnetz verbundene Öltanks, ein Lastwagen fuhr vor und wieder weg, im Schritttempo, schleichend, als wartete er auf bessere Zeiten. Die Lagerhalle lag im hinteren Teil neben dem halbeingestürzten Wachturm. Ich war schon einmal hier gewesen, dann aber auf halbem Weg wieder umgekehrt, weil Leo mir entgegen gekommen war und mir den Zugang verweigerte. Diesmal stieß ich das Blechtor auf und tastete mich durch das Chaos, einen Fuß vor den andern setzend, durch die blinden Flecken meines Sohnes tappend. Die ursprüngliche Einfahrtshalle war in eine große Küche umfunktioniert worden. Mehrere Tische und Stühle standen im Raum verteilt, zwei Sofawracks an der Wand, ein kleiner Kühlschrank in der Ecke. Mitten in der Halle standen ein Gasherd und ein kleiner Arbeitstisch, auf welchem Gemüse vom Vortag lag. Das Geschirr schön sauber gewaschen auf einer Richte an der Wand, daneben der aus einer alten Badewanne gebaute Wassertrog.

Mehrere Türen führten in verschiedene Treppenhäuser, von irgendwoher hörte ich Stimmen, dann Gelächter, Türen schlagen. Der Hund von vorhin schoss wieder heran, sprang an mir hoch. Dann folgte ein großer, junger Mann mit Dreadlocks, die er sich wie einen Turban rund um den Kopf geknotet hatte.

— Was suchst du hier?

— Ich bin Leos Vater.

Der Hund schnüffelte an meinem Knie.

— Leo wohnt nicht mehr hier, schon lange nicht mehr.

— Wo ist er hingezogen?

— Keine Ahnung, raus, in die Stadt, irgendwo ins Zentrum. Mach dir keine Sorgen, irgendwann taucht er schon wieder auf, sobald er Geld braucht, wirst sehen.

Ich schlug dem Hund auf die Schnauze, wimmernd zog er ab.

— Na, mal nicht so aggressiv, Mann! Ist doch nur ein Hund!

— Hat Leo noch Sachen hiergelassen?

— Er ist weg, sag ich, schon seit Monaten. Hier ist nichts mehr. Er hatte ja nicht viel. Wir wussten von Anfang an, dass er hier nicht bleiben würde. Bonzensöhnchen, Anarchotourist, mal ein bisschen den Kitzel des wahren Lebens spüren. Und wenns dann brenzlig wird ... Er machte eine verachtende Handbewegung und streckte die Zunge raus ... gar nichts mehr wissen wollen von neuen Lebensformen! Ein echtes Weichei, dein Sohn, sag ich dir, hat noch viel zu lernen.

Er wandte sich von mir ab, öffnete am anderen Ende des Raumes einen Schrank und begann Kaffee zu kochen.

— Hat er sich noch einmal gemeldet bei euch, nachdem er hier weggezogen ist? Hast du ihn noch einmal gesehen?

— Nein, sag ich doch, er hat sich nicht mehr blicken lassen. Hätte ich ihm auch abgeraten. Aber kürzlich habe ich ihn in der Stadt gesehen, von weitem, mit seiner ehemaligen Freundin. Die war ja auch ein paar Mal hier, wie heißt sie noch gleich?

— Francine?

— Francine, ja, das kann sein. Vielleicht hat er sich an sie rangehängt.

— Weißt du, wo sie wohnt?

— Keine Ahnung, woher soll ich das wissen? Sie ist ein paar Mal hier gewesen, hat kein Wort verloren, wir kennen uns nicht. Und dann hat Leo von ihr auch nichts mehr wissen wollen. Hat sie zum Teufel geschickt.

Er lachte und schüttelte seine Dreadlocks, dass sie erst vorn auf die Brust, dann hinten auf seinen Rücken fielen.

— Er war ja ein echt cooler Kumpel am Anfang, aber dann hat er uns ganz schön eingeheizt mit seinen Ideen und Idealen, mit seinen Monologen und seinen sogenannten sozialen Prinzipien! Scher dich zum Teufel, hab ich zu ihm gesagt. Wir leben doch nicht in einer ungeheizten Lagerhalle, um uns dann von einem Bonzensöhnchen vorschreiben zu lassen, welche Karotten wir essen, wie wir pinkeln und welche Internetseiten wir konsultieren sollen. Für wen hält der sich eigentlich!

— Weißt du, was mit Leo passiert ist?

— Muss ich es noch einmal wiederholen?

Ich erzählte ihm, was passiert war, ohne jedoch die Paketbombe zu erwähnen.

— Tut mir echt leid, Mann, sagte er und nahm den nun kochenden Kaffee vom Herd, schenkte sich ein. Willst du eine Tasse?

Ich verneinte. Der Hund hatte sich auf einem der beiden Sofas breitgemacht und schlief. Von irgendwoher war wieder Gelächter zu hören, leise auch stampfende Rhythmen.

— Gibt es sonst noch jemanden, der vielleicht weiß, wo Leo hingezogen ist?

— Nein, niemand. Die beiden Frauen, mit denen Leo seinen Raum geteilt hatte, sind vor ihm weggezogen. Dann war da noch einer, aber mit dem hatte er kaum Kontakt. Die anderen, die noch hier sind, sind ihm nie begegnet. Er ist von hier abgehauen, wie er aufgetaucht ist: ohne irgendeine Erklärung.

6


Es war eine kleine, von Investoren und Spekulanten noch verschont gebliebene Straße mit Gemüsehändlern, erweiterten Zeitungs- und Tabakläden, afrikanischen Friseuren und Korbflechtern. Die Fassaden trugen Patina, und die von Blumen und Gerümpel überbordenden Balkone zeugten vom Übermaß des Lebens, das hier aus allen Nähten platzte.

Ich betrat den Hauseingang Nummer 34. An einem eingedrückten Briefkasten klebte der von Hand auf einen Zettel gekritzelte Name: Francine. Darüber vier andere Namen. Seit über einem Jahr war es aus gewesen zwischen Leo und Francine, und ich hatte sie nur einmal gesehen. Ich klingelte. Ein alter Wilder, verfilztes Haar, ledriges Gesicht, öffnete die Tür.

— Was willst du?

— Ist Francine da?

— Was willst du von ihr?

— Nichts, ich möchte sie nur etwas fragen.

— Also willst du doch was von ihr.

— Ist sie da?

— Hör auf, dich selbst zu belügen, Mann, komm rein.

Ich musste die Füße über Gegenstände heben, in die Hocke gehen, mich drehen und winden, um an den übereinandergestapelten Dingen vorbeizukommen. Francines Zimmer war ganz hinten am Ende des Flurs, direkt neben der Küche. Ich klopfte und sah zwei Typen am Küchentisch, die sich nach mir umdrehten.

— Ich bin Leos Vater, sagte ich, um meiner Erscheinung eine Berechtigung zu geben.

— Wer ist Leo?

— Ein Freund von Francine. Ist sie da?

In diesem Augenblick sprang die Tür auf, und unter dem großen dunkelhaarigen Wuschelkopf sah ich die kleinen, hellen Augen, wie ich sie von ihr noch in Erinnerung hatte. Sie hatte sich nicht verändert.

— Ach, Sie. Kommen Sie rein.

Blumen, indische Tücher, ein kleiner Buddha vor einer Kerze, die Farben Violette und Rot beherrschten den Raum, ein...



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