E-Book, Deutsch, 180 Seiten
Richter / Birgfeld Disconnected
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-89581-463-1
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Theater Tanz Politik
E-Book, Deutsch, 180 Seiten
Reihe: Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik
ISBN: 978-3-89581-463-1
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Falk Richter, geb. 1969 in Hamburg, ist als Regisseur, Autor und Übersetzer einer der international einflussreichsten Theatermacher der Gegenwart. Seine Stücke, darunter Gott ist ein DJ, Electronic City, Unter Eis und TRUST, liegen in mehr als dreißig Sprachen vor. 2015 inszenierte er sein kontrovers aufgenommenes Stück Fear, das sich mit dem Erstarken eines neuen Rechtsnationalismus in Europa auseinandersetzt. Rechtspopulisten versuchten vergeblich, gerichtlich die Absetzung des Stückes durchzusetzen.
Autoren/Hrsg.
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II. CHOREOGRAFISCHES THEATER ZWISCHEN SCHAUSPIEL UND TANZ
II.1. Der erweiterte Autorenbegriff
Seit Beginn meiner Arbeit als Dramatiker beschäftigt mich die Frage, wie ich den Textbegriff, den Autorenbegriff erweitern kann, welche Möglichkeiten es gibt, die Definition davon bzw. das Verständnis dafür, was ein Text, was ein Stück, was Autor*innen für das Theater sein können, weiter zu fassen und immer wieder mit jeder Arbeit neu zu definieren.
In den Jahren 2003 und 2004 konzipierte ich als Antwort auf einen Stückauftrag für die Berliner Schaubühne unter dem Titel ein dramatisches Forschungslabor. Ich wollte nicht »das eine Stück« zu einem Thema liefern. Ich wollte stattdessen forschen, unterschiedliche Künstler*innen und Wissenschaftler*innen mit Schauspieler*innen zusammenbringen und während dieser Zeit Abende konzipieren, Texte schreiben oder Videoarbeiten und Texte anderer Autor*innen präsentieren, Fachleuten ein Forum bieten – und natürlich auch Theatertexte schreiben und aufführen: Statt des einen Stückes wollte ich unterschiedliche Abende, an denen auch ich jedes Mal anders in Erscheinung trete: als Autor, wie bei , das Tom Kühnel inszenierte, als Autor/Regisseur bei , als eine Art Ausstellungsleiter bei 30, wo ich Kurzdramen des englischen Autors Martin Crimp übersetzte und inszenierte und Arbeiten bildender Künstler*innen gegenüberstellte, oder als Co-Autor und Regisseur, wie bei 31–einem Textprojekt, das ich gemeinsam mit Marcel Luxinger und den Schauspieler*innen während der Proben entwickelte und das durch die kurze Probenzeit von drei Wochen sehr dicht am aktuellen politischen Geschehen lag. Darüber hinaus gab es Abende, an denen wir Filme zeigten, Autor*innen, die mich beeinflusst hatten, zu Lesungen einluden, Videoarbeiten, Hörstücke, Vorträge präsentierten – es ging also darum, den Entstehungsprozess eines politischen Stücks offenzulegen und das Material ebenso wie das Endprodukt (also die Theaterinszenierung) zugänglich zu machen.
Nach dem 11. September änderte sich der Blick, den die Menschen im Westen auf ihr eigenes System hatten. Es herrschte ein diffuses Gefühl, so gut wie keine relevanten Informationen zu bekommen. Die unverblümte Kriegsmobilisierung à la »wir verteidigen in Afghanistan unsere Art zu leben« verwirrte. Nachdem Bush an die Macht gekommen war, änderte sich die amerikanische Außen- und Innenpolitik grundsätzlich. Vor allem änderte sich das Selbstverständnis der amerikanischen Medien, die weitgehend »embedded«, patriotisch und pro Bush waren, es gab nur noch selten eine regierungskritische Berichterstattung.
Diese Veränderungen – politische, wirtschaftliche, militär-strategische und medienpolitische – beschäftigten die Leute. Es gab nach dem 11. September viele politische Veranstaltungen an den Theatern in Berlin und Zürich – wo ich zu der Zeit arbeitete –, welche meist besser besucht waren als die normalen Theatervorstellungen. Die Leute wollten wissen, warum es keine Informationen gab über einen Krieg, der niemandem wirklich gerecht erschien, darüber, wie die Bush-Regierung mit der Firma Halliburton und dem Sender Fox TV verbunden war etc. Ich habe also nach einer Form gesucht, Theater als Forum zu begreifen und eher zu viele Fragen zu stellen als zu wenige, und habe am Anfang gesagt: Lasst uns jetzt »Das System« untersuchen – eine Überforderung.32
Dabei meine ich mit dem System, in dem wir leben, das westliche System, das Wirtschaftssystem, das Metasystem aus Wirtschaft, Krieg und der Produktion der Bilder – das undurchdringliche, undurchschaubare System, nach dem wir alle funktionieren, das System, das den Fluss der Waren und die Hierarchien strukturiert.
Für mich müssen Titel vor allem Assoziationsräume schaffen. ist ein Begriff, der sofort an die 68er erinnert, an radikale, politische, außerparlamentarische Positionierungen – ein Begriff, der als ausgedient galt, gar nicht in unsere Zeit zu passen schien. Meine Generation wurde ja oft pauschal als »unpolitische MTV-Generation« bezeichnet – alles laufe gut, die 68er seien gescheitert, jetzt solle man einfach mitmachen, feiern und nicht zu viele Fragen stellen. ist ein Titel, der sehr viele Assoziationen weckt – gibt es ein Betriebssystem für unsere Gesellschaft? George W. Bush sprach im Zusammenhang mit seinem geliebten »terror« von »our way of living«, was Schröder dann in der direkten Übersetzung als »unsere Art zu leben« rhetorisch übernahm – wir verteidigen in Afghanistan »unsere Art zu leben«. Wenn wir die jetzt in einem Krieg gegen ein anderes Land verteidigen müssen, so wollte ich ganz naiv fragen: Was genau ist denn »unsere Art zu leben«? Inwieweit ist die jetzt in Gefahr, und gibt es überhaupt eine Verständigung zwischen Bush und der Bevölkerung, wie diese Art zu leben zu definieren ist?
Und eine weitere wichtige persönliche Assoziation zum Titel sieht folgendermaßen aus: Jedes Mal, wenn ich meinen Computer hochlade, erscheint groß der Schriftzug »DAS SYSTEM WIRD GESTARTET«. Das sehe ich also immer, wenn ich etwas schreibe. Für mich ein starkes Bild! Jedes Mal, bevor ich überhaupt etwas machen kann, wird das System gestartet, und ich habe überhaupt keine Ahnung davon, wie dieser Prozess verläuft, aber ohne das System kann ich nicht tätig werden. Für mich persönlich passt dieses Bild sehr gut, weil ich meinen Computer nie völlig verstehen werde und trotzdem auf ihn angewiesen bin. Ich habe den Wunsch, dieses »Betriebssystem« für unsere Gesellschaft zu begreifen, mir fehlen aber Wissen und Informationen, wie den meisten Menschen. Außerdem bin ich Teil dieses Systems – ich schaue also von innen auf etwas, das mich selbst bestimmt und zu dessen Funktionieren ich täglich beitrage. Dennoch: Das war der Ausgangspunkt für die Arbeit, und der Titel sollte das zeigen: Wie sind die Machtverhältnisse strukturiert in unserem System? Wie wirken Wirtschaft, Krieg und Medien zusammen? Was sind die Fehler im System? Wann kommt es zu Ereignissen, die sich nicht mehr erklären lassen, wie zum Beispiel der Amoklauf? Was für ein politisches System haben wir eigentlich? Eine Art Demokratie, bei der die Wirtschaft sehr viel Macht hat und in Entscheidungsprozesse stärker eingreifen kann, als es dem einzelnen Wähler vielleicht bewusst ist. Hat unser System eine Ideologie, hat es eine Glücksvorstellung? Was ist das Denken, das unser System am meisten prägt? Gibt es außer Arbeit und Geld einen Wert, der von allen anerkannt wird? Ist Kälte und Abwesenheit von Liebe das Grundgefühl der meisten Menschen – ist das die Ausgangstemperatur für ein System, das Leben nur noch in Warenbegriffen denken kann? 33
II.2. Texte für Tänzer*innen und Schauspieler*innen / Psychische und physische Zustände
Mich interessiert, was es bedeutet, wenn meine Texte in eine Bewegungssprache übertragen werden, wenn physische und psychische Zustände nicht mehr zu trennen sind. Wie gehen Menschen mit ihrer Wut um, mit ihrer Frustration angesichts einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft, die sie als ungerecht empfinden und auf deren Gestaltung sie kaum Einfluss nehmen können? Wie werden die Menschen, die in ihr funktionieren müssen, heute zugerichtet, zum Beispiel durch die Effizienzideologien, durch radikale religiöse Propaganda, durch die ungeschriebenen Verhaltenskodizes der sozialen Medien und Online Dating Apps? Und welche Auswirkungen hat all dies auf ihre Körper?
Wie schreibt sich unser System in die Körper? Welche körperlichen Zustände sind in meine Texte eingeschrieben? Was für Körper sprechen da?
Der erschöpfte Körper, der überforderte Körper, der verspannte, gelähmte, erregte, hysterisierte Körper. Angst, Mangel an Vertrauen, Wut, Hass … welche Auswirkungen haben sie auf die Körper, welche Spuren hinterlassen sie?
Der Körper im Widerstand einerseits, der verängstigte, blockierte Körper, der alles mit sich machen lässt, der durch Depression, Burn-out oder pharmazeutische Mittel ruhiggestellte Körper andererseits: Wie wirkt unser Marktsystem auf den Körper ein? Welche Forderungen werden an den Körper gestellt? Er muss leistungsfähig sein, flexibel, sich unentwegt anpassen, ER HAT KEINE HEIMAT, ER IST EIN HEIMATLOSER KÖRPER. Er wird immer neuen Schocks ausgesetzt, er wird hysterisiert, steht in ständiger Erregung, ist ohne Verbindung, dreht leer durch, ist oft selbst im Moment der intimsten Kommunikation räumlich von seinem Gesprächspartner getrennt, der irgendwo am anderen Ende der Welt am Computer oder am Telefon sitzt, bleibt isoliert, allein, ist nur zu einem Teil einbezogen in das Gespräch. Oder er ist abgetrennt vom Dialog: Wir sehen und erleben den Körper unseres Dialogpartners nicht, wenn er an einem anderen Ort...




