E-Book, Deutsch, 214 Seiten
Riedel / Biscaldi-Schäfer Sprache bei Menschen im Autismus-Spektrum
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-17-043210-9
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Interdisziplinäre Perspektiven
E-Book, Deutsch, 214 Seiten
ISBN: 978-3-17-043210-9
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
PD Dr. med. Dr. phil. Andreas Riedel ist leitender Arzt und stv. Chefarzt in der Luzerner Psychiatrie. PD Dr. med. Monica Biscaldi-Schäfer ist leitende Oberärztin (komm.) an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter, Universitätsklinikum Freiburg. Mit Beiträgen von: Charlotte Berlinghausen, Verena Haser, Matthias Huber und Miriam Nandi.
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1 Einleitung
Irgendetwas ist anders an der Sprache von Menschen aus dem Autismusspektrum. Sie klingt anders, sie hat oft eine andere Struktur, sie meint oft etwas anderes. Zwischen neurotypischen und autistischen Gesprächspartnern1 gibt es dauernd Missverständnisse, auch und gerade bei sehr »hochfunktionalen« autistischen Menschen. Und das sind – wenn man genauer hinsieht – nicht etwa emotionale, sondern tatsächlich oft sprachliche Missverständnisse. Es scheint sich also zu lohnen, der Sprache von autistischen Menschen einmal genauer auf den Grund zu gehen.
»Wieso denn das?« könnte man fragen, schreiben doch die klassischen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV die Sprach-(Entwicklungs)-Störung lediglich dem »Frühkindlichen Autismus« zu, wobei hier vor allem schwere funktionale und semantische Sprachstörungen gemeint waren und nicht die eher im Feingewebe der Sprache zu findenden Besonderheiten, die man bei höherfunktionalen Menschen aus dem Autismusspektrum findet. Damit war lange Zeit impliziert, dass Auffälligkeiten der Sprache bei sogenannten hochfunktionalen Autismusformen (i.?e. das Asperger-Syndrom und Formen des Frühkindlichen Autismus ohne Intelligenzminderung und mit normalem Spracherwerb im Verlauf der Entwicklung) als vernachlässigbar angesehen werden könnten bzw. nur im Rahmen von Einschränkungen in der wechselseitigen Konversation thematisiert zu werden brauchten. So verwundert es nicht, dass die spezifischen Besonderheiten der Sprache bei »hochfunktionalem« Autismus lange wenig Beachtung fanden. Dabei zeigt sich der sehr »spezielle« Umgang mit Sprache, den viele Menschen mit Autismus aufweisen, den klinisch Tätigen in mannigfaltiger Weise: Bei Kindern z.?B. kann oft beobachtet werden, dass sie einen ungewöhnlich ausgeprägten Wortschatz entwickeln, mit der Fähigkeit zu detailgenauesten und treffendsten Beschreibungen. Manchmal wirkt der Umgang mit Sprache geradezu spielerisch, mit Fokussierung auf Besonderheiten der Semantik, Verwendung treffender Fremdwörter oder sogar mit der Entwicklung von (der Sache oft angemessenen) Neologismen. Manche jugendlichen oder erwachsenen Autisten zeigen eine grammatische Korrektheit auch in der mündlichen Kommunikation, die eher in einem juristischen Fachbuch zu erwarten wäre; andere können spontan Sachverhalte mit einer sprachlichen Finesse beschreiben, die bei neurotypischen Sprechern langes Nachdenken erfordern würde. Gleichzeitig scheitern viele Autisten am Verstehen von mehrdeutigen Aussagen, Ironie, höflichen Andeutungen und (sinn-)bildlich Ausgedrücktem, sodass das neurotypische Gegenüber nicht selten am guten Willen zum Verstehen zu zweifeln beginnt. Die Aufzählung der klinisch bedeutsamen Sprachbesonderheiten ließe sich beliebig fortsetzen, was aber selbstredend nicht Gegenstand dieser Einleitung sein soll.
Als Autoren dieses Buches sind wir froh, dass in der ICD-11 die sprachlichen Besonderheiten im Autismusspektrum nun ihren festen Platz gefunden haben, was nach Erfahrung der allermeisten erfahrenen Kliniker auch der Sache völlig angemessen ist. Es dürfte bereits implizit klar geworden sein, dass der »autistische Umgang mit Sprache« weder richtiger noch falscher als der »neurotypische Umgang mit Sprache« ist, sondern hier zuerst einmal als Variante aufgefasst werden soll, mit ihren Stärken und ihren Schwächen, so wie auch die »neurotypische Sprache« ihre Stärken und ihre Schwächen hat.
Da »autistische Sprache« und »neurotypische Sprache« nun einmal die gleichen Wörter verwenden und auf den ersten Blick auch die gleiche Syntax, liegt es auf der Hand, dass die Kommunikation zwischen den Sprechern dieser »Sprachen« zu heftigen und folgenreichen Missverständnissen führen und auch gründlich schiefgehen kann. Im klinischen Umgang und insbesondere in der Psychotherapie mit autistischen Menschen erwächst aus diesen Missverständnis-Erfahrungen sehr häufig ein explizites (und manchmal auch implizites) Bedürfnis nach Übersetzung. Nicht selten erscheint es autistischen Menschen so, als wären sie in der Kommunikation mit neurotypischen Menschen mit einer Sprache konfrontiert, die sie zwar zuerst einmal zu verstehen glauben, von der sie dann aber nach und nach feststellen müssen, dass es doch eine Fremdsprache ist, deren Bedeutung sie oft nicht erfassen. Viele autistische Menschen geben im Laufe ihres Lebens auf, leben resigniert mit den vielen Missverständnissen und lernen, gekonnt über das gegenseitige Nicht-Verstehen hinwegzugehen. Ein großes Anliegen dieses Buches ist es darum, zu verdeutlichen, dass die autistisch-neurotypische Verständigung zwar manchmal schwierig ist, aber durchaus gelingen kann. Die Aufklärung der Missverständnisse mithilfe von Übersetzungstechniken ist oft langwierig, aber sie führt tatsächlich zu gegenseitigem Verstehen und Empathie. Diese Übersetzungstechniken werden aus neurotypischer Sicht insbesondere in den klinischen Abschnitten besprochen; vice versa beleuchtet Matthias Huber die neurotypische Sprache aus autistischer Sicht – ebenfalls mit dem Ziel, Übersetzung zu ermöglichen.
Der vorliegende Band soll sich dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven nähern. Da die Perspektiven jeweils in sehr eigener Weise an das Phänomen der »autistischen Sprache« herangehen, unterliegen sie keiner gemeinsamen Systematik, sondern ergänzen sich in den von ihnen erzeugten Bildern. Das Buch versteht sich als Lesebuch, als Anregung zum eigenen »Übersetzen« und als Inspiration zum Weiterdenken. Es versteht sich nicht als Übersichtswerk zum Thema, betreibt nur wenig »systemizing« und hat keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit.
Eine Leitperspektive soll dabei die klinische Warte sein, also die mannigfaltigen Erfahrungen, die wir und unsere Kollegen über die Jahre gesammelt haben (? Kap. 5, ? Kap. 7 und ? Kap. 8). Dies wird selbstverständlich durch zahlreiche Fallbeispiele erklärt, illustriert und ergänzt. Auch die wissenschaftlich-empirische Sicht soll ihren Platz haben (? Kap. 4.4 und ? Kap. 4.5), wobei die – oft widersprüchlichen – wissenschaftlich-empirischen Befunde nicht im Zentrum dieses Buches stehen sollen. Die theoretischere Perspektive der linguistischen Pragmatik wird einen etwas größeren Raum einnehmen (in den ? Kap. 4.2 und ? Kap. 4.3 von Verena Haser): Sie soll als Hintergrundtheorie dienen, anhand derer sich viele Phänomene neurotypischen Umgangs mit Sprache, die im alltäglichen Umgang meist unbewusst bleiben (und schwer sprachlich zu fassen sind), besser beschreiben lassen. Und gerade diese Phänomenbereiche sind es, in denen sich autistische von neurotypischer Sprache unterscheidet. Betrachtet man also autistisch-neurotypische Missverständnisse durch die »Brille« der linguistischen Pragmatik, lassen sie sich nach unserer Einschätzung deutlich besser in Worte fassen und aufklären. Wir möchten aber ganz explizit darauf hinweisen, dass die klinischen Kapitel auch ohne Kenntnis der (zum Teil etwas mühsamer zu lesenden) theoretischen und empirischen ? Kap. 5.2, ? Kap. 5.3 verstehbar sind. Eine historische Einordnung, die deutlich macht, dass sprachliche Phänomene schon in den drei Erstbeschreibungen autistischer Bilder mit im Zentrum standen, erfolgt in ? Kap. 2.
Welche Implikationen die autistischen Besonderheiten der Sprache für die Diagnostik im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter haben, wird ausführlich in Kapitel 8 beschrieben und auch die Ableitungen für das therapeutische Herangehen (von der Psychoedukation über sprachliche Quellen von Kommunikationsproblemen in der Psychotherapie und detaillierte Situationsanalysen bis zum Umgang mit metaphorischen Deutungen) sowie für den pädagogisch-erzieherischen Stationsalltag werden mit vielen klinischen Beispielen dargelegt (? Kap. 8). Der Vielfalt der Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern und den Störungen der funktionalen Sprache bei Menschen im Autismusspektrum (bzw. beim Frühkindlichen Autismus nach der ICD-10) widmen sich die ? Kap. 3 und ? Kap. 5.2 sowie die historische Einordnung (? Kap. 2). In den ? Kap. 7.1 und ? Kap. 8.1 werden die diagnostische Bedeutung und der Umgang mit Störungen der funktionalen Sprache kurz dargestellt. Das vorliegende Buch fokussiert dabei jedoch in seiner Gesamtanlage – das muss einleitend betont werden – mehr auf diejenigen Sprachauffälligkeiten, die insbesondere bei Menschen mit anscheinend unauffälligem Spracherwerb sowie relativ guten kognitiven Fähigkeiten und deutlich besseren Anpassungsleistungen auftreten.
Das Phänomen »autistischer Sprache« lässt sich natürlich nicht in scharfer Weise vom Bereich der »Kommunikation« trennen, Sprache...