E-Book, Deutsch, 356 Seiten
Riess / Scheidegger Cafe Odeon
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-905811-43-8
Verlag: Europa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 356 Seiten
ISBN: 978-3-905811-43-8
Verlag: Europa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Das 'Odeon' - weltberühmtes Kaffeehaus am Bellevueplatz in Zürich. Literaten, Künstler, Schauspieler, Dirigenten und wichtige Männer und Frauen des letzten Jahrhunderts waren dort zu Gast. In seiner unterhaltsamen Chronik erzählt Curt Riess die Geschichte des Kaffeehauses und seiner Gäste, von Klaus Mann über Albert Einstein bis zu Else Lasker-Schüler und vielen anderen. '
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Teil I
DIE LETZTEN JAHRE DES FRIEDENS
Als der Oberst Julius Uster, von Beruf Kaufmann und Besitzer einer kleinen Fabrik, sich entschliesst, den Usterhof an der Ecke Rämistrasse und Sonnenquai zu bauen, lässt er sich auf eine ziemlich gewagte Spekulation ein. Er muss rund neuntausend Quadratmeter Boden kaufen, und der kostet damals 150 000 Franken. Er muss eine Reihe alter Häuser, Baracken und Läden abreissen lassen. Der Neubau, von den Architekten Bischoff und Weideli ausgeführt, sehr modern – die Tuffsteinfassade wird später als «künstlerisch wertvoll» geschützt werden – soll 400 000 Franken kosten.
Und dann kostete der Bau des Hauses wohl wesentlich mehr. Jedenfalls ging Oberst Uster das Geld aus. Mitte 1910 wurden die Bauarbeiten abgebrochen. Monatelang stand das halbfertige Gebäude da, noch umrahmt von Gerüsten. Diejenigen, die immer alles wissen, wussten, dass der Bau nie zu Ende geführt werden würde.
Aber dann geschah das erste Wunder in der an erstaunlichen Ereignissen so reichen Geschichte des Café Odeon. Oberst Uster kam ganz plötzlich wieder zu Geld: er gewann, kaum glaublich, aber wahr, das Grosse Los der Spanischen Nationallotterie.
Man schrieb das Jahr 1910. Es ist noch gar nicht so lange her, dass es in Zürich elektrisches Licht gibt. Es ist erst knapp zehn Jahre her, dass die Pferdebahn, das «Rössli-Tram», abgeschafft wurde. Zürich hat bereits 190 000 Einwohner.
Am 17. April wird bei strömendem Regen das Kunsthaus Zürich eröffnet.
Am 7. Mai stirbt Eduard VII. in London, und knapp drei Wochen später geht in Madrid eine Höllenmaschine los: offenbar ein Attentat auf den König, aber es kommt niemand um, mit Ausnahme des Täters, der sich erschiesst.
In den nächsten Tagen gibt es Erdbeben in der Schweiz. «Am 1600 Meter hohen Rossberg bei Schwyz ist eine Fläche von tausend Quadratmetern in Bewegung, die Dörfer wurden in der letzten Nacht geräumt. In der Bevölkerung herrscht grosse Bestürzung», meldet die Presse.
Und in Dübendorf bei Zürich wird vom 22. bis 26. Oktober eine Reihe von Flugtagen geplant.
Die Züricher lächeln überlegen. Sind die Dübendorfer verrückt geworden? Wer wird schon nach Dübendorf hinauspilgern, um sich Flugzeuge anzusehen und Gefahr zu laufen, dass sie einem auf den Kopf fallen?
Die Dübendorfer bauen eine 2500 Meter lange und 2 Meter hohe Bretterwand, einen 1000 Meter langen starken Drahtverhau, vier Kassenhäuschen und eine Tribüne für – man glaubt es kaum! – 2400 Personen.
Die berühmtesten Flieger der Welt hat man verpflichtet. Ein Preis von 5000 Franken ist für denjenigen ausgesetzt, der vom Flugfeld aus in ununterbrochenem Fluge das Schloss von Uster umkreist und auf den Startplatz zurückkehrt.
Der Optimismus der Dübendorfer behält recht. Am Sonntag, den 22. Oktober, kommen 25 000 Besucher in sieben Extrazügen zum Flugfeld. Held des Tages wird vorläufig der junge Franzose Georges Legagnieux, der mit einem Blériot-Eindecker bis auf 750 Meter aufsteigt und zum erstenmal Zürich – die ganze Stadt! – umkreist.
Schliesslich starten auch die anderen Maschinen, und nach den ersten Probeflügen werden sogar einige mutige Fluggäste aus dem Publikum mitgenommen. Unter anderen meldet sich auch ein Herr Ogurkowski. Er ist indessen zu dick; dem Piloten gelingt es nicht, ihn und seine Maschine zum Flugfeld zurückzubringen: das Flugzeug sackt in einen Wassergraben ab. Allgemeine Aufregung. Alles eilt zu dem Wassergraben aber Herr Ogurkowski ist nur etwas nass geworden.
Am 26. Januar 1911 findet die Uraufführung des «Rosenkavaliers» in Dresden statt. Die Kritiker schreiben, dies sei das grösste Werk des Komponisten Richard Strauss, die erste wirklich grosse Oper des zwanzigsten Jahrhunderts.
Inzwischen bricht die Marokko-Krise aus. Französische Truppen besetzen die Hauptstadt des Landes. Der deutsche Kaiser äussert unmissverständlich, dass Deutschland ja wohl auch ein Wort in Marokko mitzusprechen habe, und schickt das Kanonenboot «Panther» nach Agadir. Die Welt hält den Atem an. Wird ein Krieg ausbrechen?
Der Tag, an dem das Kanonenboot «Panther» in Agadir eintrifft, ist der 1. Juli 1911.
Und an diesem 1. Juli 1911 wird das Café Odeon eröffnet. Über die künstlerische Ausstattung der Innenräume ist die Ansicht des Publikums geteilt. Besonders der rötliche Marmor, mit dem die Wände verkleidet sind, gibt Anlass zur Kritik, und einige besonders witzige Leute taufen das Odeon um in «Café Schwartenmagen».
Etwas anderes freilich besass das Café Odeon bis wenige Wochen vor der Eröffnung nicht: Toiletten.
Man hatte sie einfach vergessen. Nun muss man sie in letzter Minute schnell noch irgendwie einbauen.
Einmütige Begeisterung erweckt die Konditorei des Cafés, die im Keller untergebracht ist und über einen fest gebauten Backofen verfügt. Chefkonditor Sigg bäckt herrliche Kümmelstengel aus Blätterteig, eine Unzahl von Torten, gefüllt mit Fruchtgelees, Schokoladenund Vanillecrème. Ganz Zürich eilt ins Odeon, um dort Kuchen oder Gebäck zu verzehren.
Glückliche Zeiten! Die Menschen fürchten sich noch nicht davor, dick zu werden. Und so kommt es, dass eines Tages ein junger Mann das Café betritt, der mit besonderer Vorliebe Kuchen und Torten, Cremeschnitten und andere Leckereien verzehrt, und zwar in ganz gewaltigen Mengen. Er braucht keine Angst zu haben, zuzunehmen, denn er ist sehr gross und sehr schlank, man könnte fast sagen hager.
Er geht mit Riesenschritten aufs Buffet zu, um sich drei oder vier Stück Torte auszusuchen, die er dann hastig an einem kleinen Tischchen verzehrt. Warum so hastig? Weil er sich noch eine neue Portion holen will? Er hat doch Zeit! Der Zug, der ihn nach Italien bringen soll, geht ja erst in drei oder vier Stunden. Warum blickt er immer wieder auf, warum schaut er wie prüfend zu den anderen Gästen des Cafés hin?
Er hat Angst. Es wäre ihm ein wenig peinlich, wenn man sich seiner in Zürich erinnerte. Denn der junge Mann mit dem edlen, ja, schönen Gesicht, mit ausdrucksvollen blauen Augen, mit herrlichem blonden, ein wenig zu langem Haar, ist kein anderer als der junge Wilhelm Furtwängler, nicht unbekannt in Zürich, denn er war erst vor ein paar Jahren am Stadttheater tätig gewesen. Zwanzigjährig war er als Chor-22 dirigent nach Zürich gekommen. Der Direktor mochte ihn. Er schlug ihm vor, «Die lustige Witwe» zu dirigieren. Furtwängler stürzte sich mit Begeisterung auf diese erste grosse Aufgabe in einem Theater. Er dirigierte mit so viel Hingabe, mit so viel Konzentration, dass es eher aussah, als dirigiere er die «Götterdämmerung».
Die «Lustige Witwe» war ganz nett, wenn man sie einmal hörte. Sie war nicht mehr nett, wenn man sie einige Dutzend Male dirigieren musste.
Furtwängler begann sich zu langweilen. Er konnte sich einfach nicht mehr konzentrieren. Bei der zigsten Aufführung, die er dirigierte, geschah es. Er hörte die letzte Aussprache und die obligate Versöhnung des Liebespaares wie im Halbschlaf. Es fiel ihm auf, dass dieser Dialog viel länger dauerte als sonst, und dass die Liebenden sich zu wiederholen schienen. Was ihm nicht auffiel, war, dass er das Stichwort zum Einsatz des Orchesters zum drittenmal verpasst hatte.
Nun aber hatte der Operettentenor genug. Was bildete sich denn der junge sogenannte Dirigent ein, dieser … wie hiess er doch gleich? Wütend stürzte er zur Rampe und donnerte Furtwängler an: «Dann eben nicht!» Vorhang.
Am nächsten Tag liess der Direktor Furtwängler rufen. Er meinte: «Vielleicht sind Sie doch nicht so talentiert für die Operette!»
Während der junge Furtwängler gen Italien fährt, wird – am 24. August 1911 – in Paris bekannt, dass Leonardo da Vincis Wunderwerk, «La Gioconda», im Volksmund meist «Mona Lisa» genannt, spurlos aus dem Louvre verschwunden ist. Das Bild ist fein säuberlich aus seinem Rahmen geschnitten worden. Die Polizei setzt ihre besten Kräfte ein, aber es wird fast ein Jahr dauern, bis man es findet.
Am Quai d’Orsay und in der Wilhelmstrasse in Berlin handelt man den sogenannten Marokkovertrag aus. Deutschland erhält dafür, dass es die französische Schutzherrschaft anerkennt, Gebiete in Kamerun.
Roald Amundsen, der norwegische Forscher, hat sich aufgemacht, um den Südpol zu entdecken.
Die Besucher des Café Odeon lesen nicht nur in den Blättern, die ihnen mit Kaffee, Kuchen, Eiern im Glas serviert werden, was sich in der Welt alles abspielt, sie erfahren es gelegentlich auch am eigenen Leib. So am Abend des 16. November 1911 um zehn Uhr, 27 Minuten und 15 Sekunden: plötzlich erfolgen drei heftige Stösse. Das Ganze dauert nur wenige Sekunden – und die Gäste des Café Odeon verlieren ihre Fassung nicht ob dieses Erdbebens –, denn um ein solches handelt es sich natürlich. Sie geraten erst am nächsten Tag in Erregung, als sie in ihren Zeitungen nachlesen können, was die Erdbebenwarte darüber alles zu berichten hat.
Weniger gefasst zeigen sich die Besucher des nahegelegenen Corso-Theaters. Sie drängen zum Ausgang, werfen Tische und Stühle um, Weingläser und Flaschen zerbrechen, die grossen Spiegelscheiben an der Wand werden eingedrückt. Viele stürzen und werden von denen, die über sie hinweg nach draussen wollen, niedergetrampelt.
Am nächsten Morgen schreibt die «Zürcher Post»: «Wenn die Leitung des Corso-Theaters nicht selbst dafür Sorge tragen kann, dass in Fällen der Panik wie der gestrigen die Türen zu den Ausgängen sich leicht öffnen...




