E-Book, Deutsch, 390 Seiten
Rodens Der Fluch des Schlangenmenschen
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7427-9211-2
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 390 Seiten
            ISBN: 978-3-7427-9211-2 
            Verlag: neobooks
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
1987 geboren, Antiken- und Fantasy-Fan, arbeitet im Verlag, lebt und schreibt im Norden Deutschlands.
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Die Wächter von Thalas
„Ungewiss ist, wer es tat: Von links schwirrte ein Wurfspieß heran und durchbohrte dich, Kyllaros, unterhalb des Halses, wo die Brust beginnt; das Herz, nur wenig verwundet, erkaltete wie der ganze Körper, als man den Speer herauszog.
Unmittelbar fing Hylonome seinen sterbenden Körper auf, presste ihre Finger auf die Wunde, um sein Leben zu bewahren, legte ihre Lippen auf seine, suchte seinen entfliehenden Geist zurückzuhalten.
Doch als sie sah, dass er gestorben war, da stürzte sie sich mit Worten, die der Tumult nicht zu meinen Ohren dringen ließ, auf den Speer, der ihren Kyllaros durchbohrt hatte, und starb, den Gatten in ihren Armen. (Ovid, Met. 12,419-228)“
Temi legte die Karten beiseite, auf denen sie ihr Referat vorbereitet hatte. „Das Fremde in der griechischen und römischen Mythologie“, ein spannenderes Thema hätte sie sich kaum sichern können. Schon als Kind hatte die Götterwelt der alten Ägypter sie fasziniert, später dann vor allem auch die griechische Mythologie. Ihr Lieblingsthema: mythische Kreaturen. Eine frühe Form von Fantasy, ihrem Lieblingsgenre. Natürlich versuchte sie, es in ihr Studium zu integrieren, wo sie nur konnte. Beim Seminarthema „Der gerechte Krieg?!“ war es möglich. Der Blick der Griechen und Römer auf das Fremde – das, was unter Umständen legitim bekriegt werden durfte – spiegelte sich schon in einigen Sagen wider. Die Gigantomachie, die Amazonomachie, die Kentauromachie: die Schlachten gegen Giganten, Amazonen, Kentauren – alles Fremde, Nicht-Griechen. Stets waren die Griechen im Recht, die Fremden wurden oft negativ dargestellt, als Barbaren. Immer siegten die Griechen. Natürlich auch in der Literatur, wie in Ovids „Metamorphosen“. Mit Ovids Versen über die Kentauren Kyllaros und Hylonome wollte Temi das Referat beenden: Sie zeigten die beiden Griechen-Feinde, die sonst als unzivilisiert und wild dargestellt wurden, erstaunlich menschlich. Die Verse berührten sie. Vielleicht ja auch ihre Kommilitonen.
Temi klappte vorsichtig das Mythologie-Buch zu, das vor ihr auf dem Tisch lag. Dennoch schlug ihr eine Staubwolke entgegen und sie kniff die Augen zusammen. Ihre Nase fing sofort an zu kitzeln – verdammte Stauballergie! Sie hätte damit rechnen müssen, immerhin hatte sie den Wälzer seit Ewigkeiten nicht mehr in der Hand gehabt. Sie fürchtete, dass er auseinanderfallen könnte. Das Buch war schließlich schon mehr als 120 Jahre alt und in dieser Zeit auch oft genug gelesen worden.
Behutsam strich sie über den Buchrücken und der Staub blieb an ihren Fingerkuppen hängen. Temi verzog das Gesicht, während sie aufstand. Das Kitzeln würde sie überleben, aber sie wollte nicht, dass sich der Staub auf ihr neues Notebook legte.
Mit wenigen Schritten war sie im Bad, befeuchtete einen Lappen, drückte ihn gut aus und tupfte dann ganz vorsichtig über den brüchigen Ledereinband. Knapp 70 Euro hatte sie dieses antiquarische Buch über Mythen des Alten Griechenlands gekostet, aber es war jeden Cent wert. Die abgebildeten Kupferstiche verschiedener Mischwesen waren wunderschön: die clevere Sphinx mit ihrem sehnigen Löwenkörper, ihren Flügeln und dem Kopf einer Frau. Skylla, deren Unterleib aus sechs geifernden Hunden bestand. Weniger gefährliche Meeresbewohner, die Hippokampen, Pferde mit mächtigen Schwanzflossen ...
In Gedanken versunken strich Temi über den glatten schwarzen Buchrücken. Plötzlich ließ sie den Lappen sinken und runzelte die Stirn. Durch den Stoff hindurch hatte sie eine „Beule“ ertastet. Die Erhebung war ihr neu, und das war merkwürdig: Sie kannte das Buch in- und auswendig und der makellos glatte Einband war einer der Gründe, die den Preis in die Höhe getrieben hatten – vom Alter des Werks mal abgesehen.
Hatte das Buch etwa im Regal einen Kratzer bekommen? Oder hatte Nemesis es geschafft, ihre Krallen ausgerechnet an diesem Band zu wetzen? Aber es stand auf dem obersten Regalbrett, auf dem kein Platz war, nicht einmal für eine Katze. Temis Blick verfinsterte sich, während sie sich nach der kleinen rotgetigerten Katze umsah, die sich gewöhnlich in solchen Situationen nie blicken ließ. So war auch jetzt nichts von ihr zu sehen. Reichte das als Beweis ihrer Schuld? Andererseits: Hinterließen Katzenkrallen nicht normalerweise Furchen statt Erhebungen? Im Zweifel für die Angeklagte?
Temi drehte das Buch um, um die Stelle genauer zu betrachten. Tatsächlich war dort etwas reliefartig hervorgehoben, doch so winzig, dass sie es beim Licht ihrer normalen Zimmerlampe beim besten Willen nicht erkennen konnte. Das Schwarz verschluckte alles. So kam sie nicht weiter.
Suchend sah sie sich um. Irgendwo musste sie eine Lupe haben. Nur wo? Wie immer herrschte Chaos auf ihrem Schreibtisch und dem Boden. Sie schüttelte den Kopf. Dabei fiel ihr Blick auf die Uhr. 20:00 Uhr. Heute war Samstag, ihr Kühlschrank leer, sie hatte Hunger – und wenn sie morgen etwas essen wollte, sollte sie vielleicht noch schnell einkaufen.
Temi stand auf, zog ihre Schreibtischschublade auf, um das Buch dort katzensicher zu verstauen – die Schublade, in der obenauf die Lupe lag.
Die Neugier siegte über ihren knurrenden Magen. So viel Zeit musste sein. Sie drehte ihre Schreibtischlampe zum Buch und hielt die Lupe über den Buchrücken. Verblüfft kniff sie die Augen zusammen und starrte noch eine Minute länger durch die Lupe. Das Relief zeigte einen Mann mit Pferdekörper, einen Kentauren! Wieso hatte sie das nicht gesehen, als sie das Buch gekauft und immer wieder in ihm gelesen hatte?
Temi starrte das Buch eine Zeit lang an, dann knurrte ihr Magen so laut, dass es wahrscheinlich noch ihre Nachbarn hörten. Sie packte das Buch weg, schnappte sich Portemonnaie, Tasche und ihren Haustürschlüssel. Dann stürmte sie aus der Tür, schloss hastig hinter sich ab und rannte zum Supermarkt.
Nemesis begrüßte sie nicht wie gewohnt maunzend, als Temi nach Hause kam. Das Kätzchen stand vor der Tür und starrte ihr vorwurfsvoll entgegen. Warum eigentlich? Sie hatte die Katzenklappe tagsüber immer geöffnet, damit Nemi nach ihren Streifzügen durch das Haus wieder ins Appartement konnte. Sie war auch sicher, dass sie Nemesis Futter hingestellt hatte. Aber vielleicht mochte die kleine Diva heute kein Huhn, sondern lieber Pute.
Temis Mundwinkel zuckten nach oben und Nemesis drehte ihr die Kehrseite zu. Ganz offensichtlich spielte sie die Beleidigte. Mal sehen, wie lange ihr Fellmonster schmollen würde – eine Minute, bis es anderes Futter gab? Belustigt verstaute Temi die Tüte mit den Brötchen in ihrer Tasche und schloss die Wohnungstür auf. Das Kätzchen stolzierte beleidigt hinein – mit Katzenbuckel, aufgeplustertem Fell und einem wie statisch aufgeladenen Schwanz. „Och Nemi ...“, rief Temi ihr hinterher, aber die Katze war längst verschwunden. Vermutlich hatte sie sich sofort unter das Sofa oder den Schrank verzogen und strafte Temi nun bis zum ersten Anzeichen des Abendbrots mit Missachtung.
„Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?“, fragte Temi. Natürlich antwortete die Katze ihr nicht – trotzdem redete sie ständig mit dem Tierchen; es war ihr egal, wenn ihre Nachbarn sie für verrückt hielten. Die alte Dame in der Wohnung neben ihr sprach sogar mit ihren Pflanzen; da war eine Katze doch wesentlich gesprächiger.
Temi warf ihren Rucksack und den Schlüssel aufs Bett und zog ihre Schuhe und Strümpfe aus. Sie lief am liebsten barfuß und in ihrer Wohnung sowieso.
Als sie sich zum Schreibtisch umdrehte, erstarrte sie. Das Buch lag aufgeschlagen auf der Holzplatte – so hatte sie es nicht liegen lassen. Garantiert nicht! Denn mit einer kleinen frechen Katze im Haus war der Schreibtisch sicher kein Ort, an dem sie ein wertvolles Buch gefahrlos aufbewahren konnte. Und aufgeschlagen schon gar nicht. Nemesis hätte bequem ihre Krallen und Zähne an den Seiten austesten können. Auch wenn sie eben eilig aufgebrochen war: So leichtsinnig und vergesslich war sie nicht.
Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Nemesis sprang mit einem beherzten Sprung vor ihr auf den Schreibtisch. Ihr Fell stand immer noch zu Berge und sie fauchte so bedrohlich, wie ein Katzenkind es nur konnte. Aber sie fauchte nicht sie an! Temi fuhr herum und ihr Herz setzte einen Schlag aus, nur um dann umso heftiger loszurasen: Sie war nicht alleine im Zimmer!
Temi schrie auf. Sie wusste nicht, wovor sie mehr erschrak! Dass ein Einbrecher direkt vor ihr stand oder wie er aussah: Der Mann hatte lange dunkle Haare, ein Schwert in der Hand – und den Unterleib einer riesigen Schlange?! Temi starrte dieses Wesen fassungslos an. Sie musste träumen! Der Eindringling holte mit dem Schwert aus – und zuckte zurück, als Nemesis erneut fauchte. Ohne nachzudenken griff Temi nach der Schere, die hinter ihr auf dem Schreibtisch lag, aber sie war außer Reichweite. Dafür ertastete Temi das Buch. Entschlossen packte sie zu, um es dem Angreifer ins Gesicht zu schleudern.
Im nächsten Moment schrie sie vor Schmerz auf. Ihre Hand brannte so heftig, dass es ihr Tränen in die Augen trieb und dass sie sogar dem Schlangenmenschen den Rücken zudrehte: Sie fuhr herum, nach Atem ringend. Es fühlte sich nicht nur so an, als stünden ihre Finger in Flammen. Das Buch brannte wirklich! Schwarzes Feuer loderte an den Seiten auf und versengte ihre Haut – doch ebenso plötzlich, wie er gekommen war, war der Schmerz weg. Es ziepte nur noch, als ob Funken einer Wunderkerze gegen ihre Hand prasselten. Fassungslos blinzelte Temi die Tränen weg und ließ den Einband los. Das Ziepen breitete sich über ihren Arm aus. Die schwarzen...





