Roehler | Herkunft | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 592 Seiten

Roehler Herkunft

Roman
22001. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8437-2735-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 592 Seiten

ISBN: 978-3-8437-2735-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Familienroman, Künstlerroman und Entwicklungsroman der frühen Bundesrepublik  Eine Familie, drei Generationen, die Geschichte der Bundesrepublik: Robert Freytags Großvater Erich, der Kriegsheimkehrer, der seine Frau an eine andere Frau verliert. Roberts Eltern, die Schriftsteller Nora und Rolf, die über ihrem Streben nach Selbstverwirklichung und freier Liebe zugrunde gehen. Und schließlich Robert selbst, der zwischen der Geborgenheit im Haus seiner Großeltern und dem enthemmten Leben der 68er aufwächst, immer auf der Suche nach dem eigenen Glück, das so schwer zu finden ist. Oskar Roehlers Roman ist die Geschichte einer Familie und zugleich ein sehr persönliches Zeitdokument von großer poetischer Kraft. 'Ein Buch, das lesen muss, wer wissen will, woher wir gekommen sind.' Der Spiegel  'Ein wütendes Werk, mit großer Wucht und Präzision geschrieben, ehrlich, zornig und schonungslos.' Süddeutsche Zeitung  

Oskar Roehler, geboren 1959, ist Schriftsteller und Regisseur. Seine Romane erscheinen seit 2011 bei Ullstein. Oskar Roehler ist verheiratet und lebt in Berlin.
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1.


Kurz bevor die Westmächte das Grundgesetz der neuen Bundesrepublik Deutschland genehmigten, bewegte sich mein Großvater Erich Freytag durch die Straßen eines Ortes, den er noch nicht kannte, und näherte sich einem kleinen, verlassenen Provinzbahnhof.

Vor drei Wochen war er aus der russischen Kriegsgefangenschaft entlassen worden und hatte Hunderte von Kilometern, teils in klapprigen Bummelzügen, teils zu Fuß, zurückgelegt. Meistens war er allein gewesen und hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt. In dieser Zeit war alles in einer merkwürdigen Schwebe geblieben.

Es schien, als hätte sein entkräfteter Körper sich mit Träumereien über Wasser gehalten. Er konnte sich an fast nichts erinnern. Er hatte auch nur eine sehr verschwommene Vorstellung davon, dass das Land, für das er in den Krieg gezogen war, untergegangen war. Er war nicht dabei gewesen. Er hatte den Showdown verpasst.

Große Teile der Heimat waren weg. Inklusive der eigenen, Thüringen, waren sie an den kommunistischen Pöbel gefallen. Er hatte es nur gerüchteweise erfahren, er war im Lager gewesen. Solange er die polnischen Dörfer durchstreift hatte, ging es noch. Aber nun war er am Ziel angelangt. Was er sah, beunruhigte ihn. Hausfrauen machten Einkäufe, hängten Wäsche auf, Hauseingänge wurden geputzt, Wohnungen gelüftet, man hörte Kindergeschrei. Das Leben hatte offenbar ohne ihn längst wieder angefangen. Er sah sich um und merkte, dass Blicke auf ihm ruhten. Er schämte sich. Und er hatte allen Grund dazu. Er sah aus wie ein Clown. Haare, lang, grau und dünn, hingen an seiner Glatze herunter. Man hatte sie ihnen nicht mehr geschnitten, weil sie eigentlich erschossen werden sollten. Die Zähne waren ihm nach und nach ausgefallen. Der letzte vordere Schneidezahn, der noch die Stellung gehalten hatte, war von einem brutal harten Kanten Brot zur Strecke gebracht worden.

Jetzt würde er das Brot, wie eine Spinne, mit seinen Magensäften zersetzen müssen, wenn er nicht irgendwann ein Gebiss fand. Dazu kam die Ruhr. Er hatte immer noch Dünnpfiff. (Später kam die Verstopfung hinzu, die sich wie ein dicker Riegel vor den Dünnpfiff schob, was ihm mehr Sicherheit gab.)

Unsicher auf den Beinen taperte er auf den kleinen, verlassenen Provinzbahnhof zu.

Nun war er seinem Ziel sehr nahe. Er würde zu der Sammelstelle am Bahnhof gehen und die letzten verbliebenen Anschläge lesen. Es waren nur noch wenige, die an dem großen Brett hingen. Er sah sie schon von Weitem, und seine Anspannung wuchs. Wenn es stimmte, was sein Kamerad gehört hatte, dann war die Familie in diesem Ort gelandet und er würde den Zettel finden.

Der Anblick war trostlos. Etwa zwanzig Papierfetzen, vom Regen und der Sonne ausgeblichen, gaben ihm das Gefühl, viel zu spät aus dem Krieg heimgekommen zu sein. Aber dann fand er den Zettel. Das war die Schrift seiner Frau:

Elisabeth Freytag. Buckenhofen. Kammgasse 3. – sucht ihren Ehemann – in Russland vermisst.

Als er den Zettel abnahm und vor sich hinhielt, begann sich seine Brust auf einmal schwer zu heben und zu senken. Es kam wie von allein, er konnte nichts dagegen tun. Er versuchte das Gefühl in den Griff zu bekommen, aber es überwältigte ihn.

Es war ein komisches Gefühl. Es war, als würde Sauerstoff in einen Stollen gepumpt, oder in eine Gruft. Da er merkte, dass er seinen Körper nicht unter Kontrolle hatte, zog er prophylaktisch den Schließmuskel zusammen. Er wollte keinesfalls beim Anblick der Schrift seiner Frau in die Hose machen. Tränen waren ihm offensichtlich keine gekommen, obwohl er sich nicht einmal dagegen gewehrt hatte. Wahrscheinlich war nicht nur der Rachenraum, sondern der gesamte Schädel bis in die Augenhöhlen hinein vollkommen ausgetrocknet. Als eine Frau auf ihn zukam, um ihm weiterzuhelfen, ergriff er die Flucht.

Während Erich sich der Kammgasse näherte (er hatte niemanden nach dem Weg gefragt), stieg sein Unbehagen. Er hatte stundenlang nach dieser Gasse gesucht. Aber der Name war vollkommen irreführend. Was er hier vor sich sah, hatte mit einer »Kammgasse« nichts zu tun. Stattdessen sah er etwa zehn Wohnblöcke, jeweils mehrere Stockwerke hoch. Sie standen irgendwo, im Niemandsland, auf harter graubrauner Erde.

Eine Woge von Selbstmitleid überrollte ihn plötzlich. Was hatte er hier zu suchen? Was sollte das Ganze? Er war neunundvierzig Jahre alt, fühlte sich aber wie achtzig.

Er hatte keine Zähne und stank aus dem Mund. Er hatte sich daran gewöhnt, im Morgengrauen Maden zu fressen, seinen Urin zu trinken und irgendwann erschossen zu werden. Weshalb, um Himmels willen, sollte er plötzlich ein neues Leben anfangen?

Was für ein schlechter Witz war das? Vermutlich hatte er tatsächlich mit dieser früh ergrauten Frau mit dem ausgemergelten Gesicht und der großen Nase Söhne gezeugt. Das abgeschabte Foto in seiner Tasche bewies das. Aber es war verdammt lange her.

So lange her, dass sich Müdigkeit und Überdruss einstellten, wenn er überhaupt nur daran dachte. Es war bitter, dass er damals so naiv gewesen war, sie für den Führer zu zeugen. Magda Goebbels hatte die Chance gehabt, ihre Kinder zu töten. Er nicht. Er würde nun zusehen müssen, wie sie in eine Judenrepublik hineinwuchsen.

Er wollte sie gar nicht mehr sehen. Der Rückweg war ihm allerdings verschlossen. Wo hätte er hingehen sollen mit seinem Dünnpfiff? Die einzige Chance, die er noch hatte, waren die fünf Schuss in seinem Revolver. Er hätte sie schon vorher nutzen sollen. Dann hätte er sich diese beschissene Reise erspart.

Beim Überqueren des Platzes erkannte er die Wohnung zwischen den Blöcken, gleichsam im Vorbeigehen, an den alten Vorhängen. Sie verströmten ein merkwürdiges, sentimentales Gefühl. Er blieb stehen, mahlte mit dem Unterkiefer und dachte einen Augenblick nach.

Was machte es schon, wenn es schiefging? Was hatte er zu verlieren?

Die Wohnung lag im Hochparterre. Die Tatsache, dass er ins Schlafzimmer blicken konnte, erregte ihn. Plötzlich war, hochgeschossen wie aus dem Nichts, etwas da, das sich wie eine Erektion anfühlte. Er schlich zum Fenster und blickte hinein. Durch die hellen, transparenten Vorhänge konnte er die Konturen des alten Schlafzimmers erkennen, die im Halbdunkel lagen. Ihm fiel ein, wie sich seine Frau immer vor der Kommode wusch, mit einem Lappen, den sie in lauwarmes Wasser tauchte, unter den Achseln und auch zwischen den Beinen.

Ihr breites Becken, ihre geigenförmige Figur. Im Lager war ihm das Wichsen vergangen. Jetzt bekam er plötzlich wieder Lust darauf. Er dachte daran, wie er aussah und wie er stank, und empfand diese Gefühlsregung als nihilistisch. Die Tatsache aber, dass er überhaupt einen Gedanken formulieren konnte, egal, wie abwegig er war, erregte ihn. Auf seinen eingefallenen Mund quälte sich ein bizarres Lächeln.

Das Schlafzimmer war leer. Plötzlich hörte er eine Art Schrei. Er fuhr herum.

Vor ihm, wenige Meter von ihm entfernt, stand groß und blond seine verhasste Schwester Marie. Sie überragte ihn noch immer, und in ihren kalten blauen Augen war noch dieselbe Verachtung zu lesen, die sie seit jeher für ihn übriggehabt hatte. Sie schien überhaupt nicht älter geworden. Er fühlte sich wie ein Greis neben ihr.

Als sie siebzehn war, hatte sie begonnen, ihn nachzuäffen. Das ging so weit, dass sie sich Achselhaare abschnitt und als Hitlerbärtchen unter die Nase klemmte, eine braune Uniform anzog und die Reden, die er für die NSDAP auf den Marktplätzen hielt, hinter seinem Rücken zum Besten gab, vor der ganzen Familie, die sich vor Lachen bog.

Wenn er dazukam und ihr die Blätter aus der Hand riss, improvisierte sie einfach weiter.

Er hätte ihr damals am liebsten ein paarmal den Kiefer gebrochen, aber er war machtlos. Sie stand unter dem Schutz seines Vaters, des Patriarchen, der ihn schließlich wegen seiner Parteizugehörigkeit enterbte. Das war auch der Grund, weshalb er in den Krieg gezogen war. Er hatte die Schnauze voll gehabt. Seit dieser Zeit hasste er Marie. Jetzt starrte sie ihn aus ihren kalten blauen Porzellanaugen verwundert an, als wäre die Zeit stehen geblieben.

»Erich?«, rief sie mit ihrer typischen, spöttischen, leicht überdrehten Stimme.

Er hatte niemals damit gerechnet, dass sie in seinem Leben noch einmal eine Rolle spielen würde. Sie wollte früher immer nach Berlin und Schauspielerin werden. Was, verdammt noch mal, machte sie hier?

Er gab dem Impuls, sich größer zu machen, im letzten Moment nicht nach, weil er sich rechtzeitig erinnerte, dass sie das auch immer nachgeäfft hatte. Stattdessen räusperte er sich und fixierte sie unter der Tarnung seiner buschigen, dicht zusammengewachsenen Augenbrauen.

»Ist Elli da?«, nuschelte er.

»Nein, du Schwein, nein, du Schwein, nein, du Schwein«, hörte er sie schon singen, wie früher immer. Stattdessen fragte sie, immer noch erstaunt über seine Erscheinung und Anwesenheit: »Wie bitte?«

Er gab sich Mühe, seine Frage zu wiederholen. Seine Geduld war bereits aufs äußerste strapaziert.

»Nein, sie ist nicht da«, sagte Marie und starrte ihn an. »Sie ist einkaufen gegangen.«

»Und wann kommt sie wieder?«, fragte er.

»Woher soll...


Roehler, Oskar
Oskar Roehler, geboren 1959, ist Schriftsteller und Regisseur. Seine Romane erscheinen seit 2011 bei Ullstein. Oskar Roehler ist verheiratet und lebt in Berlin.



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