E-Book, Deutsch, 296 Seiten
Rosa Im dunklen Zimmer
Deutsche Erstausgabe
ISBN: 978-3-95438-155-5
Verlag: Liebeskind
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 296 Seiten
ISBN: 978-3-95438-155-5
Verlag: Liebeskind
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Gruppe von Freunden mietet gemeinsam ein Ladenlokal, das jeder für seine Zwecke nutzt: als Arbeitsplatz, als Übungsraum, Studierzimmer oder Werkstatt. Im Untergeschoss richten sie ein Zimmer ein, eine Art Gemeinschaftsraum, wo man sich trifft und zusammen feiert ... Als eines Abends der Strom ausfällt, kommen sich die Freunde in der anonymen Dunkelheit erstmals sexuell näher. Dies ist für alle eine so einschneidende Erfahrung, dass das dunkle Zimmer in der Folgezeit zur festen Anlaufstelle wird. Später gerät es wieder in Vergessenheit, die Freunde schließen ihr Studium ab, finden Arbeit, machen Karriere, einige heiraten, bekommen Kinder. Doch dann erfasst die Wirtschaftskrise das Land mit voller Wucht. Das dunkle Zimmer wird wieder zum Fixpunkt, diesmal als Zufluchtsort vor tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen und existenziellen Krisen. Durch den schmerzhaften Verlust alter Gewissheiten sind die Freunde gezwungen, sich selbst und ihre Rolle in der Gesellschaft infrage zu stellen. Das Ladenlokal wird nach und nach zum Treffpunkt politischer Aktivisten, darunter ein Hacker, der kompromittierende Videos von mächtigen Wirtschaftsführern sammelt ...
Isaac Rosa, geboren 1974 in Sevilla, gehört zu den wichtigsten Stimmen der spanischen Gegenwartsliteratur. Seine Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Premio Rómulo Gallegos, dem Premio Cálamo, dem Premio Andalucía de la Crítica und zuletzt mit dem Premio Biblioteca Breve. International bekannt wurde er mit seinem Bestseller »Das Leben in Rot«, der erfolgreich verfilmt wurde. Isaac Rosa schreibt als Kolumnist für verschiedene Magazine, Tageszeitungen und Nachrichtenportale. Er lebt in Sevilla.
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Zwei
Das Lachen hat uns noch einige Jahre lang begleitet, ein dümmlicher Ausdruck stiehlt sich auf unsere Gesichter, wenn wir daran zurückdenken, dieses weiche Lächeln, das wir jetzt nicht sehen, aber bei unseren Nebenleuten erahnen. In den Jahren des Lachens blieb das Dunkelzimmer der Knotenpunkt, um den alle kreisten wie daran festgebunden, mit Schnüren, die uns zwar erlaubten, uns ein Stück weit zu entfernen, aber nicht, ganz fortzugehen: Sobald du das Band zu sehr strafftest, zog es sich zusammen, und du wurdest wieder zurückgezerrt. In der Tat ist die Erinnerung an jene Jahre von Hintergrundgelächter begleitet, als wäre das Dunkelzimmer der zentrale Schauplatz einer Sitcom, der Comedy-Sendung, in die sich unser Leben verwandelt hatte, als der dreißigste Geburtstag näher rückte. Die aus mehreren erfolgreichen Staffeln bestehende Serie wechselte immer wieder den Schauplatz: WGs, Mini-Apartments, das eine oder andere Jugendzimmer noch in der elterlichen Wohnung, diverse Arbeitsstätten, etliche Kneipen, es gab Außenaufnahmen in Stadtvierteln, einen U-Bahn-Waggon, Bilder aus dem Ausland mit der Anmutung von Postkarten. Aber der Mittelpunkt all dieser Orte, der rote Faden, der unseren Drehbuchautoren half, das Interesse der Zuschauer aufrechtzuerhalten, war über Jahre dieses dunkle Zimmer, dessen Tür sich mehrmals am Tag öffnete und schloss: Leute gingen ein und aus, liefen einander über den Weg, trafen sich, entfernten sich, kehrten wieder. Heute hat es die Erinnerung eilig, sie kann sich nicht lange aufhalten, unsere Zeit geht zur Neige, also werden alle Kapitel, alle Staffeln der Comedy, im Schnelldurchlauf abgespielt, in einem rasanten Tempo, bis nur noch eine Handvoll Einzelbilder pro Episode übrig ist, die in dieser beschleunigten Form wie ein Zeitraffer wirken: Die Abspielgeschwindigkeit erlaubt es, in wenigen Sekunden das Wachstum einer Pflanze vom Samenkorn bis zur ersten Frucht zu sehen, den Bau eines ganzen Gebäudes vom Fundament bis zum Setzen der Fenster in einer halben Minute, und dabei dreht der Himmel sich rasend schnell weiter, fliegen Wolken über den Bildschirm, die Sonne geht unablässig auf und wieder unter, und der gesamte Planet kreist wie wild, um Jahre zu Minuten zu kondensieren. Ebenso würde, wenn wir den Schnellvorlauf-Knopf betätigen, unser Leben in jener glücklichen Zeit vor uns vorüberziehen: Der Tag folgt auf die Nacht und die Nacht auf den Tag, der kaum ein paar Sekunden dauert, bevor er der folgenden Abenddämmerung erliegt, die Umgehungsstraße in der Nähe des Lokals ist ein endloser roter Strich, die Bäume verlieren schlagartig ihr Laub, um gleich wieder neu auszutreiben und zu erblühen, sich dann wieder gelb zu verfärben, die Kräne drehen sich wie Windmühlenflügel, setzen eines nach dem anderen die Stockwerke von Gebäuden, irgendwann sieht man nur noch ein rötliches Knäuel, der Wind weht so stark, dass keine Wolke länger als eine Sekunde im Bildausschnitt verbleibt, er fegt durch die Straßen und wechselt die Kleidung der Passanten, die in wenigen Wimpernschlägen kurze Ärmel durch Mäntel eintauschen; im Mittelpunkt des Ganzen steht das Dunkelzimmer, und darin friert die Zeit ein, die draußen verrückt gespielt hat, wobei wir uns dieselbe Raserei auch im Inneren der Körper ausmalen können, die kommen und gehen, sie wälzen sich über den Boden, rollen von einem Ende zum anderen und wieder zurück, ziehen sich an und aus, setzen sich an eine Seitenwand, um gleich wieder aufzustehen, stoßen zusammen, wenn einer hereinkommt und der andere geht, gruppieren sich und gehen auseinander, zwei, drei, fünfzehn, einer, keiner, zwei, einer, fünf, keiner; wir malen es uns nur aus, weil die massive Dunkelheit das Einzige ist, was unverändert bleibt, während draußen Züge ruckartig zwischen Bahnhöfen hin- und herfahren, Flugzeuge den Himmel in alle Richtungen durchbohren, die Nacht und der Tag Laternen und Neonlichter anzünden und wieder löschen, Rollläden und Markisen aufziehen und wieder herablassen, hinter denen Leute schlafen, aufwachen, schlafen, aufwachen; ohne den Finger vom Knopf zu nehmen, können wir jeden dieser dahinrauschenden Körper beobachten, die rund um das Dunkelzimmer kommen und gehen, können ihrer roboterhaften Spur durch die Stadt folgen, um zu erleben, wie ihnen in einer knappen, die Jahre kondensierenden Minute Haare und Bärte wachsen und kürzer werden, wie die Frisuren und Farben wechseln, wie sie, also wir, unseren eigenen Faden aufspulen, das Knäuel vergrößern, indem wir Jahr um Jahr älter werden: Wir gehen Beziehungen ein, trennen uns, beginnen neue Beziehungen; wir räumen Möbel in Wohnungen und wieder hinaus, Kartons voller Haushaltsgegenstände werden in Apartments und wieder heraus getragen, in Kleintransporter verladen und aus diesen in neue Heime; wir montieren dutzendweise billige Möbel, der Schnellvorlauf zeigt Schränke, Sofas, Tische und Regale, die sich Stück für Stück selbst aus der Verpackung heben und in wenigen Minuten ihren Lebenszyklus durchlaufen, um schließlich im Container zu landen; wir unterschreiben pausenlos Papiere, wenn wir alles, was in jenen Jahren unterschrieben wurde, auf wenige Sekunden Zeitrafferfilm eindampfen wollten, müssten wir an einem Tisch sitzen, mit sorgfältig gebügeltem Hemd und unserem Glückskugelschreiber in der Hand, in halsbrecherischem Tempo würden Dokumente vorgelegt und unterschrieben: Arbeitsverträge, Mietverträge, beglaubigte Papiere, Hypotheken, Stammbücher, Geburtsurkunden, Versicherungen, Policen, Kreditanträge, Rechnungen, Gehaltszettel, Abrechnungen, eidesstattliche Erklärungen, Anzeigen; unsere Unabhängigkeit hat Hunderte von Unterschriften erfordert, Berge von Dokumenten und Anhängen und Zusatzbögen und Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Klauseln und Kleingedrucktem und Durchschlägen, das alles hat Ordner gefüllt, die wir bis heute in Rumpelkammern aufbewahren, in zugeklebten Schachteln. Wenn wir den flinken Insekten folgen, die ins Dunkelzimmer schwärmen und wieder hinaushuschen, ein Treiben wie in einem Ameisenhaufen, wenn wir sie in Krankenhäuser eilen und wieder herauskommen sehen, die einen in Begleitung von Babys, die anderen mit Särgen: Babys, die in einem irren Tempo wachsen, während sich gleichzeitig der Himmel weiterdreht, ohne den Tag oder die Nacht festhalten zu können, und dann werden ihre Knochen länger, verlieren sie Zähne und robben, krabbeln und laufen; und die Särge von Eltern, von einer Krebserkrankung hingerafft, in einem rasanten Trauerzug begleiten wir sie auf den Friedhof und laufen alle mit und umarmen uns flüchtig und küssen uns, bis Sarg und Leichnam sich in einem einzigen Aufflammen verzehren, und anschließend gehen wir mit der Asche an den Strand, wo sie in den Wind gestreut werden soll; in anderen Fällen schieben wir den Sarg in eine Nische, und der Zeitraffer zersetzt in wenigen Sekunden die Organe, das Fleisch und die Haut, bis nur noch eine Handvoll vergilbter Knochen übrig ist, die nicht einmal mehr das Leichentuch füllen, während draußen reihenweise Blumensträuße welken und Tausende von Trauergemeinden hastig vorüberziehen. Aber lassen wir uns nicht ablenken, verlassen wir den Friedhof, denn in einer anderen Szene dieser Folge sehen wir jetzt eine Hochzeit, alles geht so schnell, dass wir die Beteiligten kaum erkennen, die in ungewohnten Sakkos und Kleidern stecken, sie verschwinden in einem Standesamt, um gleich wieder daraus aufzutauchen, Hände voll Reis werfend, und dann weiter ins Restaurant, wo sie anstoßen, essen, trinken, essen, tanzen, trinken, Krawatten und Halstücher verlieren, sich übertrieben umarmen und küssen, was jeweils zwei oder drei Einzelbilder lang anhält, und von dort aus steigen sie jeweils zu viert in Autos, deren rasanter Fahrt man kaum folgen kann, sie parken auf der Freifläche vor dem Lokal, und wir steigen ein weiteres Mal aus, die Hemden weit aufgeknöpft, die Schuhe in den Händen, um Taillen und Schultern gefasst und torkelnd vor Trunkenheit, was das Tempo der Vorführung noch komischer macht, wie in einem Stummfilm, jemand braucht eine Reihe von Einzelbildern, um den Schlüssel ins Schloss zu stecken, dann treten wir der Reihe nach ein, gehen die Treppe hinunter, und der Vorhang öffnet sich, um uns einzusaugen und verschwinden zu lassen. Das Dunkelzimmer ist der Schacht, in den sämtliche Leben münden, wenn wir das Tempo aufrechterhalten und noch ein paar Jahre vergehen lassen, ihre Kette von Tagen und Nächten und ihre vorüberziehenden Jahreszeiten, dann sehen wir freilich, wie die Abstände zwischen den Besuchen größer werden und das Zimmer weniger voll besetzt: Mancher geht noch immer mehrmals pro Woche oder sogar täglich hin, am Samstagabend sind wir weiterhin beschlussfähig, aber einige Fäden ziehen sich in die Länge, straffen sich aufgrund der zunehmenden Entfernung, sodass der bis dahin dicht gesponnene Strang dünner wird. Es gibt Umzüge, bei denen sich der Lkw zu rasch entfernt, als dass unser Blick ihm folgen könnte, es gibt Paare, die beim Schließen der neuen Wohnungstür schlagartig den Faden abtrennen, es gibt Insekten, die weiterflattern, aber bei immer selteneren Besuchen, es gibt andere Samstagspläne, es gibt Theater, es gibt Konzerte, es gibt...