E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Rosen Bonifatius
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8062-4530-1
Verlag: Theiss in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der europäische Heilige
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-8062-4530-1
Verlag: Theiss in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Judith Rosen ist Historikerin. Sie war Dozentin für Alte Geschichte an der Bonner Universität. Heute ist sie freie Autorin und lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Bonn.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Vorwort. 7
»Liebhaber der Schönheit«. 14
I. Leben auf der Insel. 20
Die Heimat . 20
Landschaften der Kindheit . 28
Klosterjahre . 40
II. Leben auf dem Kontinent. 53
Abenteuer Mission. 53
Ein Bund fürs Leben . 62
Eine »kluge Biene« in Germanien. 70
Römischer Ritterschlag. 76
Bewährungsprobe in Hessen und Thüringen. 82
Ein Angelsachse in Bayern und Rom. 96
III. Das sanfte Antlitz der Mission. 102
Bonifatius und die Frauen. 102
Eadburg von Thanet – eine geistliche Institution. 115
Charismatische Frauen: Bugga – Lioba – Walburga. 122
Das Kreuz mit der Moral. 140
IV. Reformen und Rückschläge. 148
Konziliare Politik . 148
Widerstand. 155
Späte Liebe und Enttäuschung. 165
Bis zum bitteren Ende. 172
V. Leben aus dem Wort . 188
Praktische Theologie. 188
Wurzeln der Spiritualität. 192
Prüfsteine der Spiritualität. 198
Der »Gute Hirte« . 206
VI. Ein »europäischer« Heiliger. 213
Von heiligen Leichen, Streit und Wundern . 213
Vom Heiligen zum »Ampelmännchen«. 224
VII. Anhang. 234
Dank. 234
Ein Leben in Daten. 235
Anmerkungen. 239
Quellen und Literatur . 257
Bildnachweis. 272
»Weisheit siegt über Bosheit.«
Bonifatius an den Jüngling Nithard, Brief 9
»Liebhaber der Schönheit«
Die Mörderbande plünderte das Lager und raffte, was ihr in die Hände fiel.1 Hastig schnappten die Räuber die schweren Kisten und trugen sie zu den Schiffen der Ermordeten am Ufer der Boorne, eines kleinen Flusses unweit von Dokkum in der heutigen niederländischen Provinz Friesland. An Bord befanden sich Proviant und einige Gefäße mit Wein. Gierig begannen die Männer zu trinken, als ob sie sich für den Höhepunkt ihres Beutezugs, die Verteilung der geraubten Kostbarkeiten, stärken wollten. Als der Zeitpunkt nahte, disziplinierte sich die Horde und fing an zu beraten, wie viel jedem von ihnen zustehe. Die Verhandlungen waren von kurzer Dauer. Gier und Neid siegten, und die Männer droschen aufeinander ein. Nur wenige überlebten das Gemetzel. Die Sieger öffneten die Kisten und wähnten sich schon im Gold- und Silbersegen. Doch der Schatz, den sie entdeckten, war von anderer Natur: Bücher und Reliquien lagen vor ihnen. Es war der Seelenschatz des Bonifatius, seine geistliche Wegzehrung, der treue Begleiter seiner Missionsreisen, der Wächter seiner Seele und die unverbrüchliche Verbindung zum Himmel.
Bevor er im Herbst 753 von Mainz aus zu seiner letzten Missionsreise zu den Friesen aufbrach, hatte Bonifatius seinen bischöflichen Nachfolger Lul in Mainz gebeten: »Und leg in meine Bücherkiste auch ein Leintuch bei, darin mein zermürbter Leib eingehüllt werden kann.«2 Der Greis spürte seinen nahen Tod, hatte er doch die damalige Lebenserwartung schon weit übertroffen. Seine Reisebibliothek umfasste etwa 20 bis 25 Werke. Herz des frommen Vademecum war die Heilige Schrift. Ob der Missionsbischof sie als Gesamtwerk oder nur in Teilabschriften mit sich führte, ist nicht sicher. Überliefert ist, dass er seine Brieffreunde und Briefreundinnen aus der angelsächsischen Heimat mehrfach gebeten hat, für ihn biblische Texte abschreiben zu lassen und auf den Kontinent zu schicken. Ab und an revanchierte er sich mit »Sprüchen«. So entschuldigte er sich einmal bei der angelsächsischen Äbtissin Bugga: »Wegen der Zusammenstellung von Sprüchen, um die du gebeten hast, so musst du Nachsicht haben mit meinen Fehlern, denn wegen drängender Arbeit und fortwährender Reisen habe ich das, was du wünschtest, noch nicht vollständig niedergeschrieben; sobald ich aber damit fertig bin, werde ich Sorge tragen, es in die Hände Deiner Liebden zu senden.«3 Der Äbtissin ging es nicht viel anders als ihrem Briefpartner. In einem Schreiben aus dem Jahr 720 bedauerte Bugga, sie habe »die Märtyrerakten, um deren Zusendung du mich gebeten hast«, noch nicht erhalten.4 735 bat Bonifatius seinen ehemaligen Schüler Abt Duddo, der ihm wohl bei der Abfassung seiner Grammatik geholfen hatte und dessen Kloster unbekannt ist,5 ihn mit Abschriften, »vor allem mit den geistlichen der heiligen Väter«, zu stärken. Seinen Wunsch begründete er: »Weil bekanntlich eine geistliche Lehrschrift ein Lehrmeister derer ist, welche die Heilige Schrift lesen, so bitte ich dich, den mir fehlenden Teil der Schrift über den Apostel Paulus zuzusenden, um meine Gottesgelehrtheit zu fördern; ich habe nämlich nur über zwei seiner Briefe Lehrschriften, über den an die Römer und den ersten an die Korinther.« Der selbst in fortgeschrittenem Alter wissbegierige Gelehrte ging noch einen Schritt weiter: »Ebenso wollen wir, wenn es dir recht ist, es beide miteinander so halten, dass du den Auftrag gibst, was du in deinem Klosterarchiv findest und deiner Meinung nach für mich von Nutzen ist, aber deines Erachtens mir unbekannt und nicht schriftlich zur Hand ist, mir dann mitzuteilen wie ein getreuer Sohn seinem unwissenden Vater.« Auch an kirchenrechtlichen Abhandlungen war der bildungsbeflissene »Vater« interessiert, weil er als Bischof Recht sprach. In einem besonderen Fall sollte ihm Abt Duddo Amtshilfe leisten. Sie betraf eine Eheschließung zwischen einem Paten und einer Patin, die vermutlich miteinander verwandt waren. Der Mitbruder wurde beauftragt, das kanonische Eherecht zu studieren und Bonifatius umfassend zu unterrichten. Seinen wissenschaftlichen Anspruch hielt der Gelehrte auch in der Fremde aufrecht.6
Mit hoher Wahrscheinlichkeit begleiteten Bonifatius die Lehrbücher des Alten Testaments, der Unzial-Kodex mit den sechs Büchern der Propheten, das Neue Testament und die Petrusbriefe. Liturgische Werke wie Sakramentar, Lektionar, Passionale und vermutlich ein Psalter kamen hinzu. Bibelkommentare, Schriften der Kirchenväter und kirchenrechtliche Literatur vervollständigten die theologische Handbibliothek.7
Wie existentiell das Studium der Bibel für Bonifatius war, hatte er 716/717 dem jungen Nithard anvertraut, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband.8 In seinem ältesten überlieferten Brief fragt er den Mitbruder: »Was wird von jungen Leuten in angemessenerer
Weise erstrebt oder von alten Männern schließlich einsichtiger besessen als die Kenntnis der heiligen Schriften?« Denn sie lenkt ohne Zwischenfall »das Schiff unserer Seele« durch bedrohliches Unwetter, damit sie ihr Ziel, das Paradies, erreicht. »Weisheit siegt über Bosheit«, fährt der Lehrmeister fort und bekennt: »Diese habe ich von Jugend an geliebt und gesucht, und ich bin ein Liebhaber ihrer Schönheit geworden.« Vor der Weisheit der Bibel verblassen irdische Kostbarkeiten, »sei es im Glanz von Gold und Silber, sei es in der Buntheit glitzernder Edelsteine oder im Genuss luxuriöser Speisen und dem Kauf feiner Kleidung«.
Alles vergeht. Nur die Weisheit der Heiligen Schrift überdauert die Zeit. Daher erwartet Bonifatius zufolge die Jäger irdischer Güter ein qualvolles Schicksal in der Unterwelt: »Und aus diesem Grunde legen sich, wie man weiß, sämtliche habgierigen Goldsucher fern von den Wissenschaften, vom Heiligen enttäuscht niedergeschlagen auf die Lauer und haben die leicht zerreißenden Netze der Spinnen ausgespannt, die Nichtiges fangen wie leeren Wind oder Staub. Denn nach dem Psalmisten sammeln sie Schätze, wissen aber nicht, für wen sie diese zusammenraffen. Und wenn der Scherge des verhassten Pluto, ich meine den Tod, mit blutigen Zähnen grausam knirschend an der Schwelle bellt, dann werden sie zitternd und von jedem göttlichen Beistand verlassen, plötzlich ihre kostbare Seele und zugleich den trügerischen Schatz, dem sie habgierig Tag und Nacht voll Unruhe dienstbar waren, fallen lassen und einbüßen, und danach treten sie, von teuflischen Händen fortgerissen, ein in die verriegelten Tore der Unterwelt, um ewige Strafen zu verbüßen.« Der Asket Bonifatius kannte offensichtlich die Verführungskraft des Konsums und glaubte, ihr nur mit Höllenangst beikommen zu können. Im Rückblick muten seine Worte fast prophetisch an. Fast 50 Jahre vor seinem Tod im Jahr 754 scheint er im Brief an Nithard sein Urteil über seine raffgierigen Mörder bereits gefällt zu haben.9
Wer der Besitzer der spirituellen Juwelen war, wussten die Bischofsmörder wohl nicht. Sie wussten auch nicht, dass Bücher nicht nur immaterielle Kostbarkeiten waren, sondern damals auch Wertgegenstände. Wütend warfen sie Bücher und Reliquienbehälter ins Gebüsch, zerstreuten sie auf den Feldern, begruben sie im Dickicht der Sümpfe oder schleppten sie in ihre Verstecke. So beschrieb der Mainzer Presbyter Willibald, der Autor der ältesten Bonifatius-Vita, das Schicksal der geistlichen Handbibliothek.10 Dem Priester angelsächsischer Herkunft, der an der Mainzer Kirche St. Viktor wirkte,11 hatten die Bischöfe Lul von Mainz und Megingoz von Würzburg den Auftrag gegeben, eine Lebensbeschreibung des Bonifatius zu verfassen. Willibald folgte dem literarischen Geschmack seiner Zeit und seines geistlichen Standes und schrieb eine hagiographische Biographie. Bonifatius’ vita, virtus (Tugend), pietas (Frömmigkeit) und abstinentia (Enthaltsamkeit) sollten den künftigen Lesern als exemplum dienen, um ihr Leben zu vervollkommnen.12 Denn schon zu Lebzeiten stand der Missionsbischof im Ruf der Heiligkeit. Unter diesem Blickwinkel war sein gewaltsamer Tod und der seiner Begleiter mehr als ein Kapitalverbrechen: Die Missionare hatten das Martyrium erlitten, die Krone der absoluten Nachfolge Christi erkämpft, und der größte Kämpfer unter ihnen war Bonifatius.
Jahrhunderte später werden Historiker und Theologen zweifeln, ob der Tod bei Dokkum ein Märtyrertod war. Dabei wird nicht das Glaubenszeugnis der Ermordeten infrage gestellt, sondern das Motiv der Mörder. Starb Bonifatius aus »Glaubenshass« der Friesen, ist er unter die Märtyrer zu rechnen. Doch das Gebaren der Mörderbande in Willibalds ausführlicher Darstellung legt ein anderes Motiv nahe: Habgier. Das Beutemachen übertrumpfte etwaige religiöse Gründe.13 Da Bonifatius auf seiner letzten Missionsreise starb, als er die vornehmste christliche Pflicht, die...