E-Book, Deutsch, 263 Seiten
Rosenzweig Zweistromland
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-86393-565-8
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kleinere Schriften zur Religion und Philosophie
E-Book, Deutsch, 263 Seiten
ISBN: 978-3-86393-565-8
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Franz Rosenzweig (1886-1929) war ein jüdischer Religionsphilosoph und Pädagoge. Durch sein entschiedenes Bekenntnis zum Judesein, durch seine Glaubensphilosophie und seine Werke, durch seine Gründung des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt am Main ist Franz Rosenzweig in mehrfacher Hinsicht zum Vorbild und Lehrer des Judentums in der Diaspora geworden. Sein großes glaubensphilosophisches Werk Der Stern der Erlösung erschien 1921. In der Zeit seiner schweren Lähmungserkrankung konnte er noch seine Übersetzungen der Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi vollenden und seit 1924 gemeinsam mit seinem engsten Freund Martin Buber (1878-1965) die 'Verdeutschung der Schrift' (Die fünf Bücher der Weisung, 1925). Buber setzte nach Rosenzweigs Tod die Übersetzungsarbeit fort, bis 1961 die letzten Teile der hebräischen Bibel ins Deutsche übersetzt erscheinen konnten. Kurz vor seinem 43. Geburtstag ist Rosenzweig 1929 in Frankfurt am Main gestorben.
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Bildung – und kein Ende
Prediger 12, 12
Wünsche zum jüdischen Bildungsproblem des Augenblicks insbesondere zur Volkshochschulfrage
Als ich vor nunmehr drei Jahren an unsern großen seither verstorbenen Lehrer Hermann Cohen meinen Aufruf richtete, es sei „Zeit“, daß etwas Gründliches geschehe für das jüdische Bildungswesen auf deutschem Boden, schloß ich mit den Worten: das jüdische Bildungsproblem auf allen Stufen und in allen Formen ist die jüdische Lebensfrage des Augenblicks. Der Augenblick ist verstrichen. Das Problem ist geblieben. Die Not fordert die Tat, so gebieterisch wie je. Und es genügt nicht, den Samen auszustreuen, der vielleicht erst in ferner Zukunft aufgeht und Frucht bringt. Heute drängt die Not, heute muß das Heilmittel gefunden werden. Eine Therapie künstlicher Umwege ist nicht am Platz. Wer helfen will, muß sich sputen, sonst findet er den Patienten nicht mehr am Leben.
Es ist des Büchermachens kein Ende, sagt der Prediger. Der Gedanke, den ich damals Hermann Cohen vorlegte und den dieser mit dem ganzen Feuer seiner letzten Tage ins Leben führte, der Gedanke, den jüdischen Lehrerstand in Deutschland gesellschaftlich und geistig zu erneuern, indem man ihm ein Zentrum schaffe in einer Akademie für Wissenschaft des Judentums, ist inzwischen der Absicht Hermann Cohens weit entfremdet worden. Das Forschungsinstitut, das in Berlin als Keimzelle der zukünftigen Akademie entstanden ist, verfolgt unmittelbar und zunächst andere Zwecke, Zwecke, von deren Berechtigung man durchaus überzeugt sein kann, ohne deswegen doch unter den heutigen Umständen ihre Dringlichkeit zuzugeben. Das Gesicht der Welt sieht heute so aus, daß man sich wohl wird entschließen müssen, manches an sich Wünschenswerte auf – nicht bessere Tage, sondern bessere Jahrhunderte zu vertagen. Und daß es dringlich – wohlverstanden: momentan dringlich – wäre, die Wissenschaft des Judentums zu organisieren, Menschen also, einerlei ob Juden oder Nichtjuden, zum endlosen Büchermachen über jüdische Gegenstände anzuhalten, das wird wohl schwerlich jemand behaupten. Weniger als je bedürfen wir heut der Bücher. Mehr als je – nein, aber so sehr wie je bedürfen wir heut der Menschen. Der jüdischen Menschen: um denn einmal das Schlagwort auszusprechen, das es heute von dem Parteigeruch zu reinigen gilt, der ihm anhaftet. Denn nicht in dem nur scheinbar weiten, in Wahrheit viel zu engen, ich möchte sagen: kleinjüdischen Sinn darf das Wort verstanden werden, in dem es ein nichts-als-politischer oder selbst noch ein nichts-als-kulturnationaler Zionismus wohl verstehen möchte. Hier ist es vielmehr gemeint in einem Sinne, der gewiß jenen zionistischen mit umgreift, aber außer ihm noch viel mehr. Der jüdische Mensch – das bedeutet hier keine Abgrenzung gegen andere Menschlichkeiten; keine Scheidewand soll sich hier aufrichten; selbst innerhalb des Einzelnen mögen sich mehrere Kreise berühren oder schneiden; nicht anders zeigt es ja die Wirklichkeit, die nur ein verbohrter Eigensinn leugnen kann. Freilich dieser Eigensinn und sein Gegenstück, die feige Verleugnung – diese beiden scheinen das Antlitz der jüdischen Gegenwart zu zeichnen. Und wenn das Problem so gestellt wird, wie es heute die extremen Parteien von beiden Seiten, Zionisten und Assimilanten, sich stellen: Judentum und Deutschtum – so kann die Lösung freilich nur das Entweder-Oder des Eigensinns und der Verleugnung sein. Aber es geschieht der Jüdischkeit des jüdischen Menschen Unrecht, wenn man sie auf eine Linie mit seinem Deutschtum stellt. Deutschtum grenzt sich notwendig ab gegen andere Volkstümer. Das Deutschtum des jüdischen Menschen schließt sein gleichzeitiges Franzosenoder Engländertum aus. Der Deutsche ist eben nur Deutscher, nicht zugleich auch Franzose, auch Engländer. Die Sprache selber sträubt sich bezeichnenderweise, von einem deutschen Menschen zu reden. Der Deutsche ist Deutscher, nicht „deutscher Mensch“. Zwischen seinem Deutschtum und seinem Menschentum bestehen wohl Zusammenhänge, Zusammenhänge, über denen Geschichtsphilosophen grübeln mögen und die zu verwirklichen das Werk der lebendigen, schreitenden Geschichte selber sein mag. Aber zwischen seiner Jüdischkeit und seinem Menschentum bestehen keine „Zusammenhänge“, die erst entdeckt, ergrübelt, erst erlebt, erschaffen werden müßten. Hier ist es anders: als Jude ist er Mensch, als Mensch Jude. Ein „jüdisch Kind“ ist man mit jedem Atemzug. Da ist etwas, was die Adern unsres Lebens durchpulst, in schwachem oder starkem Strömen, aber jedenfalls sie durchpulst bis in die Fingerspitzen. Sehr schwach kann dieser Strom sein. Aber jeder spürt, daß der Jude nicht ein abgegrenztes Stück in ihm ist, sich abgrenzend gegen andres Abgegrenztes, sondern eine seis nun große seis geringe Kraft, die sein ganzes Wesen trägt und durchströmt.
Dieser Kraft aber, wie sie sich innerhalb des einzelnen Juden nicht begrenzt, grenzt auch ihn selber nicht ab nach „außen“. Sie macht ihn ja grade zum Menschen. Sonderbar genug für ein nationalistisch vernageltes Gehirn: dies Judesein ist keine Schranke, die den Juden abgrenzt gegen irgend etwas, was sich selber abgrenzt. Nur Begrenztes kann an Begrenztem seine Grenze finden. Unbegrenztes begrenzt sich nur an Unbegrenztem. Der jüdische Mensch findet seine Grenze nicht am Deutschen oder Franzosen, er findet sie einzig an dem Menschen, der ebenso unbegrenzt, ebenso – menschlich ist wie er selber: am christlichen, am heidnischen Menschen. Mit ihnen allein dürfte der jüdische Mensch auf eine Linie treten. In ihnen erst begegnen ihm Menschen, die ebenso allumfassend zu sein beanspruchen und es auch – über alle Scheidungen der Völker und Staaten, der Begabungen und Charaktere (denn auch die grenzen Mensch gegen Mensch) – sind. Nicht minder umfassend, nicht minder alldurchdringend und nicht minder allem sich verbindend wie das Christentum des menschlichen Christen, das Heidentum des humanen Heiden muß dem jüdischen Menschen sein Judentum sein.
Wie also? Dennoch und trotz allem wieder die alte, jetzt ein gutes Jahrhundert lang abgespielte Melodie vom Judentum als „Religion“, gar als „Konfession“? Die alte Auskunft eines Jahrhunderts, das die Einheit des jüdischen Menschen säuberlich auseinanderzulegen versuchte in eine „Religion“ für einige hundert Rabbiner und eine „Konfession“ für einige Zehntausende wohlsituierter Staatsbürger! Verhüte Gott, daß wir diese Platte, die schon keinen reinen Ton mehr gibt – gab sie ihn je? –, wieder auflegen wollten. Nein, was uns Judentum heißt, das Judesein des jüdischen Menschen, das ist nichts, was sich in einer „religiösen“ „Literatur“, selbst nicht in einem „religiösen Leben“ fassen ließe, und ist auch nichts, was man vor dem Standesbeamten als „Konfession“ „bekennen“ kann. Es ist ja eben überhaupt kein Etwas, ist kein Fach unter Fächern, keine Lebenssphäre unter Lebenssphären, zu welch allem die Kulturseligkeit des Emanzipationsjahrhunderts es hatte herabdrücken wollen, sondern es ist in dem Menschen, den es zum jüdischen Menschen macht, etwas unwägbar Kleines und doch unermeßlich Großes, sein unzugänglichstes Geheimnis und doch hervorbrechend aus jeder Gebärde und aus jedem Wort, und aus dem unbeachtetsten am meisten. Das Jüdische, das ich meine, ist keine „Literatur“. Im Büchermachen wird es nicht ergriffen. Im Bücherlesen auch nicht. Es wird noch nicht einmal – mögens mir alle modernen Geister verzeihen! – „erlebt“. Es wird höchstens ge-lebt. Vielleicht nicht einmal das. Man .
Man ist es. Aber freilich: auch ist. Und weil es ist, weil es schon da ist, schon da war, ehe ich war, und sein wird, auch wenn ich nicht mehr bin, deshalb – aber auch deshalb – ist es auch Literatur. Nur deshalb gibt es Fragen der jüdischen Bildung. Alle Literatur ist ja nur um der Werdenden willen geschrieben. Und um dessen willen, was in einem jeden immer noch an Werdendem bleibt. Die jüdische Sprache, die kein „Lesen“ kennt, das nicht „Lernen“ hieße, plaudert dies Geheimnis aller Literatur aus. Denn ein Geheimnis, obwohl ein ganz hüllenloses, ists diesen bildungsbesessenen und bildungserstickten Zeiten, daß Bücher nur dasind, um Gewordenes dem Werdenden zu vermitteln, daß aber, was zwischen Gewordenem und Werdendem steht, der Tag, das Heute, die Gegenwart, das – Leben, keiner Bücher bedarf. Wenn ich bin, was frage ich nach dem, was mich „bilden“ könnte? Ich bin ja. Aber Kinder kommen und fragen, und in mir selber erwacht das Kind, das noch nicht „ist“, das noch nicht „lebt“, und es fragt und will gebildet werden, will werden: wozu denn? Nun, zum Lebendigen, zu dem, was – ist. Und da hat das Büchermachen ein Ende.
Denn das Leben steht zwischen zwei Zeiten, der Augenblick zwischen...




