Rossmann ALLES ROT
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-99037-040-7
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Mira-Valensky-Krimi
E-Book, Deutsch, 270 Seiten
Reihe: Mira-Valensky-Krimi
ISBN: 978-3-99037-040-7
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eva Rossmann, 1962 geboren in Graz, lebt im Weinviertel/Österreich. Verfassungsjuristin, politische Journalistin, seit 1994 freie Autorin und Publizistin. Seit ihrem Krimi Ausgekocht auch Köchin in Manfred Buchingers Gasthaus 'Zur Alten Schule'. Drehbuchautorin, Gastgeberin der ORF-TV-Talk-Sendung 'Club 2'. Zahlreiche Sachbücher. Österreichischer Buchliebling in der Kategorie Krimi & Thriller.
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[ 1. ]
Ihre Augen. Aufgerissen. Blau. Das helle Gesicht fast weiß.
Keuchen. Laut.
Die vollen Lippen geöffnet. Verzerrt vom Ringen nach Luft.
Seine Hände an ihrem Hals. Dunkel. Unerbittlich. Kraftvoll.
Die Daumen an ihrem Kehlkopf.
Und dann Stahl.
Und Rot, immer mehr Rot.
Und das Keuchen noch lauter.
Alles rot. Und dann Stille.
Ich atme aus.
Sehe vom riesigen Videoscreen wieder auf die Bühne. Desdemona hat es hinter sich. Othello in Tarnhosen mit vielen Taschen, blutbespritztem T-Shirt, schwarzen Locken, sagt etwas auf Griechisch. Ich kann die Übersetzung auf der Leinwand mitlesen.
Emilia betritt die Bühne. Desdemona hingesunken auf das Bett, nackt, der Videoscreen an den Rändern immer noch blutrot. Emilia spricht spanisch und trägt ein Kleidchen mit vielen bunten Blumen. Ein rascher Dialog.
, lese ich. Und:
Spiel um Intrige und Missgunst, Angst vor Fremdem, Liebe und Verrat.
Ich sehe so unauffällig wie möglich auf die Uhr. Das ist das Finale. Dann gibt es eine Pause. Und dann wird das Ganze noch einmal, aber anders erzählt. Hat mir Paulus Reisinger gesagt. Wir haben gestern telefoniert. Ich kenne ihn natürlich als Kommissar aus dieser Krimiserie, die sie vor ein paar Jahren eingestellt haben. Seither habe ich nicht viel von ihm gehört. Ist wahrscheinlich nicht so einfach, danach Rollen zu kriegen. Jetzt tourt er mit „Othellos Erben“ quer durch die EU. Quasi als Sinnstück zur Europäischen Gemeinschaft und ihren Krisen.
Ehrlich gestanden finde ich es ein wenig anstrengend, dass jeder der Schauspieler in seiner Muttersprache redet. Aber klar, dabei kann man sich eine Menge denken. Das Wiener Volkstheater ist jedenfalls bis auf den letzten Platz ausverkauft. Reisinger hat gute Pressearbeit gemacht. Und das Stück wird nicht nur von der EU, sondern auch von unseren Regierungsparteien, von der Industriellenvereinigung und allen Möglichen, die aus unterschiedlichsten Gründen etwas für ein gemeinsames Europa übrighaben, unterstützt.
Jetzt steht Othello mit einigen anderen auf der Bühne. Auf dem Videoscreen in Großaufnahme seine blutbefleckte Brust. Und der Text:
Wieder Stahl und wieder alles blutrot.
Cassio redet deutsch.
Lodovico redet finnisch. Hört sich besonders seltsam an. SMS-Anzeige. Ich habe mein Telefon natürlich auf lautlos gestellt, aber es vibriert. Auf der Leinwand Meer, viel schön wogendes sonniges Meer, quasi im Meer der hingesunkene Othello, darüber diffuse Gestalten.
Tosender Applaus. Ich klatsche mit. Ich glaube, der Einfall mit dem Videoscreen hätte Shakespeare gefallen. Desdemona mit aufgerissenen blauen Augen. Gemeuchelt von ihrem Mann, weil sie dummerweise ein Taschentuch verloren hat. Und er sich von Jago einreden hat lassen, dass sie ihn betrügt.
Ich stehe mit den anderen auf. Ich hoffe, es geht sich aus, dass ich etwas zu trinken ergattere. Sehe aufs Telefon. Meine Freundin Vesna. Die eigentlich neben mir hätte sitzen sollen. Hat sie auch ein Taschentuch verloren? Und wenn schon. Ihr Valentin neigt nicht zu rasender Eifersucht.
„Muss was überprüfen. Komme danach zu Empfang. Wenn ausgeht. Vesna.“
Typisch für sie. Sie fasst sich kurz. Sie liebt es, wenn ich mehr wissen möchte. Vesna ist seit mehr als zwanzig Jahren in Österreich. Ihr Deutsch ist besser als das vieler Einheimischer. Aber noch immer verzichtet sie gern auf „unnötige Zwischenworte“, wie sie das nennt. Damals, im Bosnienkrieg und den Jahren danach, hatte sie keine andere Chance, als illegal putzen zu gehen. Ihre Zwillinge waren trotzdem gut in der Schule. Jana ist gerade dabei, ihr Studium abzuschließen. Fran hat theoretische und praktische Computerwissenschaften studiert und träumt nach einem Stipendium in den USA von der eigenen Softwarefirma. Zwei junge Menschen mit eigenem Kopf und jeder Menge Energie. Inzwischen hat Vesna die Staatsbürgerschaft und ein Reinigungsunternehmen. Und dann hat sie noch ein Telefon für ganz spezielle Aufträge. Eigentlich wäre sie ja gerne Privatdetektivin geworden. Aber die Ausbildung ist ziemlich öde. Und sie hatte gar keine Lust, untreue Ehefrauen zu beschatten. – Na gut. Hätte Othello seine Desdemona beschatten lassen, dann hätte ihm der Detektiv wohl gesagt, dass sie ohnehin treu ist. Und wäre der Detektiv auch noch gut gewesen, dann hätte er ihn vor Jago gewarnt. – Was Vesna heute wohl „überprüft“?
Zwei Frauen winken mir von Weitem zu. Auf diese Distanz sehe ich nicht besonders gut. Ist schon lange so. Ich winke zurück. Wem auch immer. Und drehe Richtung Buffet ab. Ein weißer Sommergespritzter. Draußen ist zwar Oktober und das Wetter wechselt zwischen viel zu warm und viel zu kalt für diese Jahreszeit, aber hier drin ist es heiß. Ich mag das. Wenn ich etwas zu trinken kriege.
Ich bin gespannt, was sich Reisinger für die zweite Halbzeit ausgedacht hat. Noch einmal Othello. Ehrlich gestanden hätte ich damit leben können, dass das Liebespaar tragischerweise tot und Jago gefasst ist. Und Aus und Ende und Abfahrt von Zypern.
Dass Othello hier von einem Zyprer gespielt wird, habe ich dem Programmheft entnommen. Und dass der „Mohr“ bei Shakespeare nie als Schwarzer, sondern als Maure, Araber oder Vergleichbares gedacht gewesen sei. Eben als ein Dunkler, Fremder, Anderer.
Ich werde Paulus Reisinger beim Empfang nach der Premiere treffen. Und vielleicht auch Vesna. Schade, dass sie die Aufführung verpasst. Ich hätte gerne gewusst, was sie dazu sagt. Ich werde für meine Reportage über den neuen Othello jedenfalls mit einigen der Mitwirkenden reden. Desdemona kommt aus Schweden. Groß und blond und schön. Am Ende nackt. Und tot.
Gerade als ich den ersten kräftigen Schluck von meinem Gespritzten mache, kommt das Zeichen, dass die Pause aus ist. Viele Beflissene, die sich an mir vorbeidrängeln.
„Gelungene Metapher“, höre ich und: „Wenn die EU nur so schön wäre wie die Desdemona.“ – „Hast schon recht, sie müsste sexyer sein.“ – „Kein Wunder, dass sie sich bei den vielen Sprachen nicht verstehen.“ – „Der arme Shakespeare kann sich nicht mehr wehren.“ – „Wir haben für nachher im ‚Hold‘ einen Tisch bestellt.“ – „Ich hab gedacht, der Reisinger spielt mit, mir hat er als Kommissar im Fernsehen total gut gefallen.“ – „Der wird inzwischen auch ganz schön alt geworden sein.“ – „Eigentlich hätte die eine EU-Kommissarin kommen sollen, aber die haben gerade wieder irgendeine wichtige Sitzung, steht in der Zeitung.“
Eine Stunde später sind wir wieder am Anfang angelangt.
Jago ruft auf Italienisch:
Dahinter tauchen zwei in Schottenröcken auf, sie stellen einen warnenden Chor dar und begleiten alles, was im Stück geschieht und nicht geschehen sollte, mit ihren Kommentaren. Sie gleichen einander wie ein Ei dem anderen. – Kunst der Maske? Zwillinge? , singsangen sie auf Griechisch, Auf dem Videoscreen wogendes Meer und Othello und Desdemona Hand in Hand. Sozusagen Happy End und Anfang zugleich.
Und wieder, wieder Applaus.
Tja, wenn sich bloß alle Missverständnisse durch einen schottischgriechischen Chor vermeiden ließen. Ich suche den Weg zum Empfang. Er soll auf der Bühne stattfinden. Ich lande in einer Garderobe. Emilia, das heißt, die spanische Schauspielerin, deren Namen ich mir nicht gemerkt habe, starrt...