Rossmann Fadenkreuz
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-99037-046-9
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Mira-Valensky-Krimi
E-Book, Deutsch, 271 Seiten
Reihe: Mira-Valensky-Krimi
ISBN: 978-3-99037-046-9
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eva Rossmann, 1962 geboren, lebt im Weinviertel/Österreich. Verfassungsjuristin, politische Journalistin, seit 1994 freie Autorin und Publizistin. Seit ihrem Krimi Ausgekocht auch Köchin in Buchingers Gasthaus 'Zur Alten Schule'. Drehbuchautorin, Moderatorin der ORF-Radio-Sendung 'Café Sonntag'. Zahlreiche Sachbücher. Österreichischer Buchliebling 2009, Leo-Perutz- Preis 2014. Fadenkreuz ist ihr 17. Mira-Valensky-Krimi.
Autoren/Hrsg.
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[ 1. ]
Ich bin allein. Die Wände sind grau. Muffige Kühle. Das ist in einem alten Wiener Keller ganz normal. Ich höre meinen Atem. Dann höre ich noch etwas. Ein Schaben. Ein Klopfen. Es ist nicht einmal zwei Wochen her, dass Hanh ermordet worden ist.
Ich blinzle nach oben. Eine Glühbirne. So eine, die den Fortschritt überlebt hat. Ihr Schein reicht nicht weit. Am Boden Kunststoffbelag mit Parkettmuster. Da und dort fehlt ein Stück. Ratten. Fressen die wirklich alles?
Ich hole so leise wie möglich Luft. Und öffne vorsichtig die Tür.
Messer. Es blitzt im Licht. Tote Körper. Weißbleich übereinander auf einem Tisch aus Stahl. Und eine schmale Gestalt, die sie zerteilt. Flügel, Keule, Brust. Mit flinken Schnitten. Ich habe hier nichts verloren, will die Tür wieder zuziehen. Sie knarrt und die Frau dreht sich abrupt zu mir um. Vor Schreck aufgerissene Mandelaugen, ein schmales Gesicht. Schwarze Haare, zu einem dicken Zopf geflochten. Das Messer noch immer in der rechten Hand.
„Oh, ich hab die Tür verwechselt. Gibt es heute Huhn?“, frage ich. Das ist Hanh. Die vor kurzem erschossen worden ist.
Hanh starrt mich an. Dann lässt sie das Messer fallen, es klirrt auf den Betonboden. Sie sieht sich panisch um, macht einen Sprung auf mich zu, ich taumle, kann mich gerade noch an der Wand abstützen. Sie ist an mir vorbei, sie rennt, hin zum bunten Webteppich. Dort sind die Toiletten. Die Stufen nach oben. Ich hetze ihr nach. „Hanh!“, will ich schreien und stöhne bloß „Hhhhh“. Brauche alle Luft, um sie einzuholen. Sie ist schlank und klein und schnell wie der Wind. Mehr ein Schatten als eine reale Person. Sie fliegt den Gang entlang, reißt die Tür ins Freie auf. Asphalt, ein winziger Innenhof, Müllcontainer. Fauliger Geruch. Ich sehe gerade noch, dass sie sich zwischen den Behältern für Altpapier und Plastik durchzwängt. Ich muss die Container verschieben, um weiterzukommen. Ein Vieh, das davonhuscht. Katze? Marder? Ratte? Dann die Tür zum nächsten Haus. Was, wenn sie mir auflauert? Hanh? Sie ist einen Kopf kleiner als ich. Wiegt dreißig Kilo weniger. – Und sie ist eigentlich tot.
Wieder Stufen nach oben. Keine Spur von ihr, nur mein Atem. Ich renne Richtung Licht, wieder eine Tür. Und eine schmale Gasse. Geparkte Autos. Straßenlaterne. Keine Hanh. Nirgendwo. Ich lausche. Sehe mich um. Es ist kurz nach zehn am Abend. Es ist so menschenleer, als hätte man die Gehsteige hochgeklappt. Wohnhäuser, renovierungsbedürftige zweigeschoßige Handwerkshäuser aus der Biedermeierzeit. Eine unspektakuläre Gasse in der Nähe des Wiener Gürtels. Mir ist empfindlich kalt, es ist Mitte März und ich hab meine Jacke in dem kleinen vietnamesischen Restaurant gelassen. Sng Lâu – was so viel wie „Langes Leben“ bedeutet. Auch wenn die meisten es Song nennen und sich wundern, warum es „Lied“ heißt. Ich spähe zwischen die geparkten Autos, keine Hanh. Sie hat das Lokal gemeinsam mit ihrem Mann geführt. Und sie hat kein langes Leben gehabt – oder kann sie doch noch eines haben? Ich begreife es nicht. Ich bin hinunter auf die Toilette. Und ich bin eben ein wenig neugierig. Also bin ich den Kellergang entlang. Dann habe ich dieses Geräusch gehört. Sieht so aus, als wäre Hanh doch nicht tot. Ich bleibe stehen. Zuerst einmal sollte ich überlegen, wo ich bin. Wohl in einer Parallelgasse zum Lokal. Aber in welcher? Ich gehe weiter bis zur Kreuzung. Entscheide mich für die Straße, die zum Gürtel führt. Zwei ältere Männer und ein Hund. Soll ich sie fragen, ob sie eine Vietnamesin vorbeirennen gesehen haben? Aber wäre es so, hätte ich sie wohl gehört. Nicht einmal sie kann sich lautlos bewegen. Oder doch? Ein Schatten? Ein Trugbild? Ihr Geist? Ich hole tief Luft. Ich neige nicht besonders zu parapsychologischen Begegnungen. Wahrscheinlich, weil es so niemandem zu begegnen gibt. – Hanh ist auf dem Weg vom Lokal zu ihrer Wohnung erschossen worden. Vermutlich von einem fahrenden Motorrad aus abgeknallt. Die einen reden von einer Schutzgeldgeschichte. Die anderen von Ausländerfeinden. In den letzten Monaten haben es einige Idioten geschafft, die Stimmung besonders aufzuheizen. Allerdings richtet sich der Zorn eher gegen die türkische Community. Mitglieder einer Türkenbande haben Feuer in einer Kirche gelegt. Zwar war keiner älter als vierzehn und der Schaden beim Seitenaltar war nicht größer, als wenn ein paar Opferkerzen umgefallen wären, aber es hat gereicht, um die Boulevardpresse zu alarmieren. Und um auch in seriöseren Medien lange Diskussionen darüber zu führen, ob jetzt der Kampf des Islam gegen das Christentum Wien erreicht hat.
Ein großer dunkler Wagen biegt um die Ecke. Ich drücke mich an die Hausmauer. Ich höre, dass drinnen Musik läuft. Schwere hämmernde Bässe. Er fährt vorbei. Ich gehe rasch, renne beinahe. Ruhig bleiben. Hausecke. – Und die Gasse, die ich kenne. Nicht weit von Vesnas Büro entfernt. „Sauber – Reinigungsarbeiten aller Art“. Keine noble Gegend, aber eine ruhige. Arbeiter, Migrantinnen, Pensionisten, immer mehr junge Leute, die erschwingliche Wohnungen brauchen. Vesnas Haus soll seit Jahren abgerissen werden. Aber Spekulanten, Erben und Stadtverwaltung streiten. Meine Freundin ist gerne hier. Auch weil es da weniger Schwellenangst gibt, was ihren kleinen Nebenberuf angeht. Auf dem Schreibtisch ihres gutgehenden Reinigungsunternehmens steht nämlich noch ein anderes Telefon. Seine Nummer kann man wählen, wenn man mehr wissen will. Über verschwundene Freunde, den Lebenswandel der Freundin des einzigen Söhnchens, den Verbleib von Stereoanlage, Fernseher oder Laptop. Meine Freundin liebt das Abenteuer. Während ich eigentlich eher für ein ruhiges Leben bin. Und trotzdem stehe ich jetzt da und überlege, ob ich soeben eine Tote gesehen habe. Beziehungsweise, ob die angeblich Tote gar nicht tot ist. Aber eine Schusswunde kann man schlecht vortäuschen. Ganz abgesehen davon, dass Hanh sicher verwahrt in der Gerichtsmedizin liegt. Oder schon begraben ist. – Wie begraben die Vietnamesen eigentlich ihre Toten?
Vom Gürtel her entfernter Straßenlärm. Was weiß ich schon von den Besitzern des Sng Lâu? Dass er hervorragend Deutsch spricht und sie es auch ganz gut kann. Dass sie bis vor ein paar Monaten in Deutschland waren. Dass sie ausgezeichnet kochen. Warum zerlegt Hanh im Keller Hühner? Weil sie nicht gesehen werden möchte. Die Gänsehaut auf meinen Armen kann nur von der Kälte hier draußen kommen. Dort ist die Eingangstür. Hell. Freundlich. Vietnamesische Schriftzeichen, darunter unsere Buchstaben. Und eine Reihe Fähnchen, auf denen „Langes Leben“ steht. Ich stoße die Tür auf, bin vom Stimmengewirr, von der plötzlichen Wärme irritiert. Alles normal. Das Lokal ist voll, plaudernde, zufrieden aussehende Gäste. Sui, die serviert. Sie heißt eigentlich Susi und studiert technische Mathematik. Vesna starrt mich fragend an.
„Dachte schon, du bist in Klo gefallen.“
Oskar sagt etwas von „Montezumas Rache“.
„Ist ja keine lateinamerikanische Küche“, murmle ich zerstreut.
„Die frische Frühlingsrolle mit Mango und Erdnüssen war großartig“, bestätigt Vesna.
„Mir haben die gebackenen Frühlingsrollen mit Huhn und Ingwer fast noch besser geschmeckt“, ergänzt Oskar.
„Und erst der grüne Papayasalat mit Rindfleisch“, setzt Vesna fort. „Du sollst auch einmal vietnamesisch kochen.“
„Das Schwein in Kokosmilch mariniert war derart zart und dazu die feine Chilischärfe“, macht Oskar weiter und sieht mich aufmerksam an. „Was ist los mit dir? Seit wann redest du nicht mehr übers Essen? Ist dir schlecht? Das kommt sicher nicht von dem, was wir hier bekommen haben.“
Ich versuche ein Lächeln und sehe mich nach Tien um. Hanhs Mann. Ein liebenswürdiger, höflicher Vietnamese. Der womöglich ein ziemlich finsteres Geheimnis hat. Dann erzähle ich.
Am Ende meines Berichts schüttelt Vesna den Kopf. „Schauen doch viele sehr ähnlich aus, die Vietnamesen“, meint sie. „Du hast zu viel Fantasie.“
Oskar sagt nichts, aber ich sehe ihm an, dass er meiner Freundin recht gibt.
„Das ist ein dummes Klischee. Wir sehen nur oft nicht genau hin. Es war Hanh“, beharre ich.
Vesna nimmt einen Schluck Mangosaft. „Hanh ist vor zehn Tagen erschossen worden. Ich habe euch schon erzählt, ich kenne einen, der hat es beinahe gesehen. Er ist auf die Straße. Da ist Hanh gelegen. Und er hat Motorrad gehört, fast wie Formel-1-Wagen, laut, stark.“
„Das ist in der Zeitung gestanden. Wahrscheinlich hat er es einfach gelesen“, widerspreche ich.
„Es soll um Schutzgelder gegangen sein. Die beiden sind noch nicht lange da, vielleicht wollten sie nicht zahlen“, überlegt Oskar.
„Schutzgelder? Ich weiß nicht....