E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Roth Shop Talk
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25139-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Schriftsteller, seine Kollegen und ihr Werk
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-446-25139-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Philip Roth wurde 1933 in Newark, New Jersey, geboren und starb 2018 in New York City. 1998 erhielt er für Amerikanisches Idyll den Pulitzerpreis. Ebenfalls 1998 wurde ihm im Weißen Haus die National Medal of Arts verliehen, und 2001 erhielt er die höchste Auszeichnung der American Academy of Arts and Letters, die Gold Medal, mit der unter anderem John Dos Passos, William Faulkner und Saul Bellow ausgezeichnet worden sind. Er hat zweimal den National Book Award und den National Book Critics Circle Award erhalten, dreimal den PEN/Faulkner Award und außerdem den PEN/Nabokov Award und den PEN/Saul Bellow Award. Bei Hanser erschienen zuletzt u.a. Das sterbende Tier (Roman, 2003), Shop Talk (Ein Schriftsteller, seine Kollegen und ihr Werk, 2004), Jedermann (Roman, 2006), Mein Leben als Mann (Roman, Neuausgabe 2007), Eigene und fremde Bücher, wiedergelesen (2007), Exit Ghost (Roman, 2008), Empörung (Roman, 2009), Portnoys Beschwerden (Neuübersetzung, 2009), Die Demütigung (2010) und Nemesis (2011), außerdem 2018 in Neuausgaben die Romane Amerikanisches Idyll, Der menschliche Makel und Verschwörung gegen Amerika sowie Mein Leben als Sohn.
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Gespräch mit Primo Levi
in Turin
AN EINEM FREITAG im September 1986 kam ich in Turin an, um ein Gespräch mit Primo Levi wiederaufzunehmen, das wir in London im Frühling zuvor begonnen hatten. Ich bat ihn, mich durch die Farbenfabrik zu führen, in der er als Chemiker und später bis zu seiner Pensionierung als Betriebsleiter gearbeitet hatte. Insgesamt hat die Firma fünfzig Beschäftigte, hauptsächlich Chemiker, die in den Laboratorien arbeiten, und Facharbeiter im Erdgeschoß des Betriebs. Die Maschinen, die Reihe der Lagertanks, das Laborgebäude, die fertigen Produkte in mannshohen transportfertigen Containern, die Anlage zur Reinigung und Wiederverwendung der Abfälle – alles befindet sich auf einem Gelände von vier bis fünf Morgen, zehn Kilometer von Turin entfernt. Die Maschinen, die Harz trocknen, Farben mischen und Verunreinigungen abpumpen, sind niemals beunruhigend laut, der scharfe Geruch auf dem Fabrikhof – ein Geruch, wie Levi mir erzählte, der noch zwei Jahre nach seiner Pensionierung in seinen Kleidern hing – ist keineswegs ekelerregend, und der dreißig Meter lange Abfallbehälter mit den schwarzen schlammigen Rückständen des Reinigungsprozesses ist nicht übermäßig häßlich. Es ist wohl kaum das scheußlichste Fabrikgebäude der Welt, aber dennoch weit entfernt von jenen geistgetränkten Sätzen, die das Wesen von Levis autobiographischen Erzählungen ausmachen.
Andererseits ist dies, wenn auch weit vom Geist seiner Prosa entfernt, offensichtlich ein Ort, der ihm am Herzen liegt; während ich so viel wie möglich an Geräuschen, Gestank, dem Mosaik der Leitungen und Bottiche und Tanks und Meßinstrumente in mich aufnahm, erinnerte ich mich an einen Satz von Faussone, dem geschickten Mechaniker in dem Roman Der Ringschlüssel, den Levi als sein »zweites Ich« bezeichnete. »Ich muß Ihnen was sagen, auf einer Baustelle zu sein macht mir Spaß.«1
Als wir zusammen über den Hof zum Laboratorium gingen, einem einfachen zweistöckigen Gebäude, das während Levis Managerzeit gebaut worden war, erzählte er mir: »Ich bin seit zwölf Jahren von der Fabrik abgeschnitten. Das wird ein Abenteuer für mich.« Er glaube, fast jeder, der mit ihm zusammengearbeitet habe, sei inzwischen pensioniert oder tot, und tatsächlich, die wenigen, die noch da waren, erschienen ihm wie Gespenster. »Noch ein Geist«, flüsterte er mir zu, als jemand aus dem Zentralbüro, das einmal seines gewesen war, hervortrat, um ihn zu begrüßen. Auf unserem Weg zu der Abteilung des Laboratoriums, in der das Rohmaterial überprüft wird, bevor es zur Produktion zugelassen wird, fragte ich Levi, ob er das besondere chemische Aroma identifizieren könne, das schwach im Korridor zu spüren war; ich hatte das Gefühl, es rieche ein bißchen nach Krankenhaus. Er hob nur kurz den Kopf und setzte seine Nase der Luft aus. Mit einem Lächeln sagte er: »Ich kenne es und kann es herausriechen wie ein Hund.«
Er schien mir von innen belebt, wie ein kleines quecksilbriges Waldgeschöpf, das die schärfste Intelligenz weit und breit besitzt. Levi ist klein und schmal, wenn auch nicht so zart gebaut, wie ihn sein unprätentiöses Auftreten im ersten Augenblick erscheinen läßt, und er wirkt noch immer so behende, wie er mit Zehn gewesen sein muß. In seinem Körper wie in seinem Gesicht sieht man – anders als bei den meisten Männern – Gesicht und Körper des Jungen, der er einmal war. Seine Wachsamkeit ist fast greifbar, eine Aufmerksamkeit, die in ihm glüht wie eine Kontrollampe.
Es ist nicht so überraschend, wie man meinen möchte, daß Schriftsteller sich wie alle anderen Menschen in zwei Kategorien einteilen lassen: solche, die einem zuhören, und solche, die das nicht tun. Levi hört zu, mit seinem ganzen Gesicht, einem präzis modellierten Gesicht, das mit seinem weißen Kinnbart mit siebenundsechzig Jahren ebenso jugendlich wirkt wie professoral, einem Gesicht voll ununterdrückbarer Neugier und zugleich dem Gesicht des angesehenen dottore. Ich verstehe Faussone, wenn er zu Beginn des Ringschlüssels zu Primo Levi sagt: »Aber wissen Sie, das ist schon ein starkes Stück, daß sie mich dazu kriegen, all diese Geschichten zu erzählen, die ich außer Ihnen noch niemand erzählt habe.« Es ist kein Wunder, daß Leute ihm ständig etwas erzählen und daß alles getreu aufgezeichnet wird, bevor es niedergeschrieben wird: beim Zuhören ist er so konzentriert und ruhig wie ein Eichhörnchen, das von einer Steinmauer aus etwas Unbekanntes beobachtet.
In einem großen, stattlich wirkenden Wohnhaus, das einige Jahre vor seiner Geburt erbaut wurde – und in dem er auch geboren wurde, denn es war früher das Haus seiner Eltern –, lebt Levi mit seiner Frau Lucia; außer dem Jahr in Auschwitz und den abenteuerlichen Monaten unmittelbar nach seiner Befreiung hat Levi sein ganzes Leben in dieser Wohnung verbracht. Das Gebäude, dessen bürgerliche Solidität allmählich Altersspuren aufweist, liegt an einer breiten Straße mit Wohnhäusern, die mir als norditalienisches Gegenstück zu Manhattans Westend Avenue vorkam: ein ständiger Strom von Autos und Bussen, Straßenbahnen, aber auch große Kastanien entlang der schmalen Inselchen zu beiden Seiten der Straße und die grünen Hügel um die Stadt, die man von einer Kreuzung aus sehen kann. Die berühmten Arkaden im Geschäftszentrum der Stadt sind in einer Viertelstunde zu erreichen, mitten durch das, was Levi »die obsessive Turiner Geometrie« genannt hat.
Die große Wohnung der Levis teilen sie mit Primo Levis Mutter, seit der Zeit, als das Paar sich kennenlernte und nach dem Krieg heiratete – sie ist einundneunzig. Levis fünfundneunzigjährige Schwiegermutter lebt in der Nähe, nebenan wohnt sein achtundzwanzigjähriger Sohn, ein Physiker, und einige Straßen weiter lebt seine achtunddreißigjährige Tochter, eine Botanikerin. Ich kenne keinen anderen zeitgenössischen Autor, der freiwillig über so viele Jahrzehnte mit seiner Familie so eng verbunden war und in so ungebrochenem Kontakt mit seinem Geburtsort, seiner Region, der Welt seiner Vorfahren und insbesondere mit der lokalen Arbeitswelt, die in Turin, der Heimatstadt von Fiat, weitgehend industriell geprägt ist, gelebt hat. Von allen intellektuell begabten Künstlern des zwanzigsten Jahrhunderts ist er vielleicht der Gesamtheit seiner Umwelt am besten angepaßt – und Levis Einzigartigkeit liegt darin, daß er eher ein kunstbegabter Chemiker ist als ein dem Broterwerb des Chemikers nachgehender Schriftsteller. Vielleicht bildet im Falle Primo Levis ein Leben in Verbundenheit mit der Gemeinschaft zusammen mit seinem Meisterwerk über Auschwitz seine zutiefst optimistische Antwort auf jene, die alles unternahmen, um ihn von jeglichen menschlichen Beziehungen abzuschneiden und ihn und seine Art aus der Geschichte zu löschen.
Im Periodischen System beginnt Levi einen Absatz, der einen der befriedigendsten Prozesse der Chemie beschreibt, mit dem ganz und gar simplen Satz: »Destillieren ist schön.«2 Auch das Folgende ist ein Destillat, eine Reduktion auf wesentliche Punkte der lebendigen, weitgespannten Konversation, die wir auf englisch im Verlauf eines langen Wochenendes führten, meist in dem ruhigen Arbeitsraum gegenüber dem Eingang zu seiner Wohnung. Levis Arbeitszimmer ist ein großer, sparsam möblierter Raum. Es gibt ein altes Sofa mit geblümtem Bezug und einen bequemen Sessel; auf dem Schreibtisch steht ein zugedeckter Schreibcomputer; ordentlich aufgereiht hinter dem Schreibtisch stehen auf einem Regal Levis verschiedenfarbige Notizbücher; Regale an allen Wänden des Raumes enthalten Bücher auf italienisch, deutsch und englisch. Der beziehungsreichste Gegenstand ist auch einer der kleinsten: eine unauffällig gehängte Zeichnung eines halbzerstörten Stacheldrahtzauns in Auschwitz. Auffallender an den Wänden plaziert sind verspielte Konstruktionen, die Levi selbst kunstvoll aus isoliertem Kupferdraht gebogen hat – einem Draht mit dem Überzug, der in seinem Laboratorium entwickelt wurde. Da ist ein großer Drahtschmetterling, eine Eule aus Draht, ein winziger Drahtkäfer, und hoch oben an der Wand hinter seinem Schreibtisch hängen zwei der größten Gebilde: das eine die Drahtfigur eines Vogelkriegers, der mit seiner Stricknadel bewaffnet ist, und das andere ein »Mann, der seine Nase spielt«, wie Levi erklärte, als ich nicht herausfand, was es darstellen sollte. »Ein Jude«, schlug ich vor. »Ja, ja«, stimmte er lachend zu, »natürlich, ein Jude.«
ROTH: Im Periodischen System, Ihrem Buch über den »starken und bitteren Geschmack« Ihrer Erfahrung als Chemiker, erzähen Sie von Giulia, Ihrer attraktiven jungen Kollegin in einer chemischen Fabrik, 1942 in Mailand. Giulia erklärt Ihre »Arbeitswut« mit der Tatsache, daß Sie, als Sie Anfang Zwanzig waren, schüchtern Frauen gegenüber waren und keine Freundin hatten. Aber ich glaube, sie irrte sich. Ihre wahre Arbeitswut leitet sich von etwas Tieferem ab. Arbeit ist für Sie eine Besessenheit, nicht nur im Ringschlüssel, sondern selbst in Ihrem ersten Buch über Ihre Gefangenschaft in Auschwitz.
»Arbeit macht frei« stand über dem Tor von Auschwitz. Aber die Arbeit in Auschwitz ist eine schreckliche Parodie auf die Arbeit, nutzlos und sinnlos – Arbeit als Strafe, die zu einem qualvollen Tod führt. Man könnte Ihr gesamtes literarisches Werk als dem Versuch gewidmet begreifen, der Arbeit ihre menschliche Bedeutung zurückzugeben, das Wort »Arbeit« zu befreien von dem verächtlichen Zynismus, mit dem Ihre Arbeitgeber in Auschwitz es verunstaltet hatten. Faussone sagt zu Ihnen: »Für mich ist jede Arbeit, die ich anfange, wie eine erste Liebe.« Er spricht fast ebenso gern über seine Arbeit, wie...