E-Book, Deutsch, 408 Seiten
Rothenberger Indigene Soziale Arbeit
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-593-44945-6
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kulturadäquate Ansätze einer lokalen Nichtstaatlichen Organisation in Sierra Leone
E-Book, Deutsch, 408 Seiten
ISBN: 978-3-593-44945-6
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stella Rothenberger ist Mitbegründerin der gemeinnützigen Organisation »PfefferminzGreen«, die mit lokalen NGOs in Subsahara-Afrika kooperiert.
Autoren/Hrsg.
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1Einleitung
1.1Relevanz des Themas
»To the excellencies and officials of Europe: We suffer enormously in Africa. Help us. We have problems in Africa. We lack rights as children. We have war and illness, we lack food […] we want to study, and we ask you to help us to study so we can be like you, in Africa.«
[Ausschnitt eines Briefes der zwei westafrikanischen Flüchtlinge Yaguine Koita und Fodé Tounkara, beide Teenager, die auf der Flucht nach Europa im Jahr 1999 im Frachtraum eines Flugzeuges erfroren sind.]1
In diesen wenigen Zeilen werden jene sozialen Missstände deutlich, die in den meisten Ländern südlich der Sahara den Alltag des Großteils der Bevölkerung betreffen. Es ist ein trauriges Beispiel für die Vielzahl der gegenwärtigen Probleme – wie mangelnde Chancen auf Bildung und Einkommen, Armut, Hungersnöte, Fluchtbewegungen und marode Gesundheitssysteme –, die Subsahara-Afrika zu bewältigen hat. Die Aussichtslosigkeit der Menschen vor Ort führt oftmals zu der Annahme, man könne ausschließlich außerhalb Afrikas bessere Lebensumstände erlangen. Moyo beschreibt aus rein ökonomischer Perspektive, warum in den meisten afrikanischen Ländern trotz langjähriger Entwicklungshilfe kein wirtschaftlicher und sozialer Aufschwung zu verzeichnen ist. Afrika weist von allen Kontinenten die höchste Zahl an absolut armen Staaten auf, obwohl es pro Kopf den höchsten Betrag an Entwicklungshilfe aus reicheren Industriestaaten erhält.2 Moyo wirbt für autonome Entwicklungsansätze mittels alternativer Finanzierungsformen, da die bis dato erfolgte Entwicklungshilfe in vielen Fällen nachweislich keine oder gar negative Auswirkungen hervorgerufen habe.3 Moyo ist eine der stetig wachsenden Zahl afrikanischer Stimmen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die externe Entwicklungshilfe kritisieren und endogene, selbstbestimmte Herangehensweisen bei der Bekämpfung wirtschaftlicher und sozialer Missstände propagieren.4 Bis heute werden jedoch soziale Fragen seitens der Regierungen der meisten Länder südlich der Sahara, häufig aus Mangel an finanziellen Mitteln, unzulänglich behandelt. Die seit Jahrzehnten andauernde Diskussion über die Indigenisierung Sozialer Arbeit und die Gestaltung einer angemessenen Sozialpolitik findet weiterhin fast ausschließlich in den entsprechenden Fachbereichen statt. So wurde das Department of Social Work an der Fourah Bay University in Freetown erst im Jahr 2013 eingerichtet. Die dort tätige Dozentin Cyllah betont in einem Interview zur Situation Sozialer Arbeit in Sierra Leone:
»Social Work is the only chance for needy communities/individuals, if they are to change their disadvantaged situations they find themselves in […] There is an urgent need to promote the profession of Social Workers in Sierra Leone.«5
Der Beginn Sozialer Arbeit, so Cyllah, sei im Westen vor allem auf die Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert zurückzuführen. Cyllah stellt die Frage, ob man sich im Westen überhaupt vorstellen könne, dass derselbe Fachbereich in Sierra Leone hingegen erst im 21. Jahrhundert langsam anfange, an Aufmerksamkeit zu gewinnen.6 Zum Grundverständnis Sozialer Arbeit betonen Deller/Brake, dass eine Theorie der Sozialen Arbeit immer schon Praxis voraussetze. So gab es, historisch betrachtet, erst die Armenfürsorge, später die Theorie nach Scherpner. Seit Jahrhunderten, so möchte diese Forschungsarbeit hervorheben, besteht in Sierra Leone ein geordnetes Fürsorgesystem innerhalb der Communities. Dieses System kann heute infolge der extremen Armut in Sierra Leone nicht ausreichend funktionieren. Die vorliegende Arbeit fordert dazu auf, die Aufmerksamkeit auf diese lokalen Strukturen zu richten, deren Praxis die Entwicklung einer Theorie der Sozialen Arbeit in Sierra Leone ermöglichen könnte. Das folgende Zitat von Jarrett, Dozent im Fachbereich Social Work and Law des Fourah Bay College (FBC) in Freetown, bestätigt:
»Let’s look at the Social Work evolution in Sierra Leone, how Social Work started in Sierra Leone. It didn’t start from the coming of the Portuguese by Pedro da Sintra in 1462, it was here even before, because the aborigines were here cohabitating long before Pedro da Sintra discovered this place. Now, if I go back to this pillar, I look at an environment with structured individual interaction. If you look at the Western model of Social Work, it is there. If you look at the extended family system, it is also there. But it has a different interpretation and application.«7
Des Weiteren betonen Deller/Brake, dass, »wenn Theorie Sozialer Arbeit also Theorie eines Handelns sein will und soll, so beinhaltet dieser Gedanke, dass ein als Soziale Arbeit qualifiziertes Handeln im Fokus stehen muss.«8 In diesem Sinne wird die vorliegende Forschungsarbeit die Bemühungen und das »qualifizierte Handeln« der lokalen nichtstaatlichen Organisation AIM analysieren und dessen Beiträge zu einer Etablierung Sozialer Arbeit in Sierra Leone aufzeigen.
Eine theoretische Fundierung zur komplexen Bevölkerungsstruktur sowie der gesellschaftlichen und kolonialen Geschichte des Landes ist dabei notwendiges Basiswissen. Die mangelnde Berücksichtigung der seit präkolonialer Zeit tief verwurzelten sierra-leonischen Kultur behindert, so wird in der vorliegenden Forschungsarbeit ersichtlich, die Nachhaltigkeit zahlreicher Ansätze zur Linderung sozialer Missstände in Sierra Leone. Laut Deller/Brake ist:
»[…] Soziale Arbeit sowohl Produkt als auch Medium moderner Gesellschaften. Produkt ist sie, indem sie eine Reaktion auf den Wandel der Gesellschaft ist (in der westlichen Welt vor allem vor dem Hintergrund der Industrialisierung des 18. und 19. Jahrhunderts). Medium ist sie, indem sie die Modernisierung der Gesellschaft ermöglicht und absichert.«9
In Sierra Leone könnte Soziale Arbeit als Medium eine Modernisierung der Gesellschaft »ermöglichen und absichern«. Als Voraussetzung, so wird diese Forschungsarbeit aufzeigen, müsste sich Soziale Arbeit in Sierra Leone zunächst als Disziplin und Beruf etablieren. Die Beiträge der hier ausgewählten NGO könnten als ein solches Medium verstanden werden, das eine Modernisierung – in diesem Fall die Stärkung der sierra-leonischen Frau und demzufolge der gesamten Gesellschaft des Landes – ermöglicht.
Zahlreiche WissenschaftlerInnen belegen die fatalen Folgen der insbesondere seit Live Aid10 entstandenen Hilfswelle für Afrika. Die ärmsten Länder der Welt befinden sich in Subsahara-Afrika.11 Durch internationale Entwicklungshilfe wurden allein in den letzten 50 Jahren mehr als 2,3 Billionen US-Dollar für sogenannte Hilfsprojekte ausgegeben.12 Internationale Hilfsorganisationen versuchen nach wie vor, durch mannigfaltige Ansätze eine Verbesserung der Lebenslage afrikanischer Gemeinden zu erreichen. Trotz aller Bemühungen hat jedoch die Armut in den meisten Ländern südlich der Sahara seit 1970 zugenommen.13 Lachmann fasst zusammen:
»Entwicklungshilfe (EH) ist zu einem Milliardengeschäft geworden; jährlich werden zurzeit zwischen 80 und 110 Mrd. US$ hierfür aufgewendet. Die EU hat im Jahre 2007 insgesamt ca. 73 Mrd. US$ an EH vergeben. Alleine von 1997 bis 2006 betrug die von der Bundesrepublik geleistete EH 113 Mrd. US$. Schätzungsweise 300.000 bis 500.000 Personen sind weltweit im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Die fünf großen internationalen Entwicklungsbanken beschäftigen ungefähr 12.000 Mitarbeiter mit einem Personal- und Verwaltungskostenaufwand von ca. 2 Mrd. US$.«14
Zahlreiche Untersuchungen begründen diese kontraproduktive Entwicklung aus ökonomischer Perspektive.15 Kristof/WuDunn kritisieren, wie einseitig die Ansätze bis dato erscheinen, wenn es um die Erklärung von Armut und sozialen Missständen innerhalb Subsahara-Afrikas geht.16 Im Zentrum der meisten Forschungsaktivitäten in diesem Bereich steht weiterhin die Analyse von wirtschaftlichen und...