E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Roy Gebrauchtes Glück
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8412-2569-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-8412-2569-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Gabrielle Roy war ihrer Zeit weit voraus.' Margaret Atwood
Zum ersten Mal in der Geschichte Québecs wagte es Gabrielle Roy, von den sozialen Missständen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zu erzählen und den Frauen eine Stimme zu geben. Ihre Hauptheldin ist die 19-jährige Florentine, eine lebenshungrige Kellnerin aus ärmlichen Verhältnissen, die sich auf der Suche nach Liebe und Glück verrennt. Roy verwebt das Schicksal der jungen Florentine gekonnt mit dem ihres Angebeteten, einem kaltherzigen Emporkömmling, sowie den Nöten der Mutter und Geschwister. Der Roman schildert drei Monate in Montreal im Jahr 1940 - und zoomt mitten hinein in eine Zeit der Klassenkämpfe, enttäuschten Hoffnungen und Zukunftsträume.
Gabrielle Roy gilt als Wegbereiterin der Moderne und Grande Dame der feministischen Literatur Kanadas. Mit ihren Heldinnen hat sie ganze Generationen geprägt.
Gabrielle Roy wurde 1909 als jüngstes von elf Kindern in Saint-Boniface geboren. Sie arbeitete als Lehrerin, bevor sie nach England und Frankreich ging, um dort Drama zu studieren. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kehrte sie nach Kanada zurück und ließ sich in Montreal nieder, wo sie als Journalistin tätig war. Ihr Debütroman 'Gebrauchtes Glück' (»Bonheur d'occasion«, 1945) gilt als einer der Auslöser der Stillen Revolution. Allein in den USA verkaufte sich der Roman über eine Dreiviertelmillion Mal. Gabrielle Roy starb im Alter von 73 Jahren an Herzversagen.
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II
Nach der Rückkehr in die Gießerei, wo er seine gesamte Aufmerksamkeit eigentlich der Reparatur eines Motors hätte widmen sollen, dachte Jean den ganzen Nachmittag: ›Was bin ich dumm, was bin ich verrückt! Ich will doch gar nichts von dieser Florentine. Wenn solche Mädchen erst einmal angebissen haben, wird man sie nicht wieder los. Ich will sie doch gar nicht wiedersehen. Was hat mich nur geritten, mich mit ihr zu verabreden?‹
Er hatte geglaubt, den Flirt jederzeit beenden zu können, einen Flirt, der im Übrigen noch gar nicht richtig begonnen hatte. Immer wenn er in der Vergangenheit, was ohnehin nur selten vorgekommen war, ein Mädchen zu erobern versucht hatte, war er die Sache halbherzig angegangen, entweder weil das Mädchen es ihm allzu leicht machte oder weil er ihm nicht seine ganze Freizeit opfern wollte. Denn nur eins war ihm in seinem Ehrgeiz wirklich wichtig: seine Zeit sinnvoll zu nutzen. Und bislang hatte er sie zum Studium genutzt, ohne Bedauern und ohne es als Belastung zu empfinden, fleißig und zielstrebig.
Doch als er an diesem Abend zu Fuß zurück zu seinem Zimmer in der Rue Saint-Ambroise am Kanal Lachine ging, wunderte und ärgerte er sich über die Beharrlichkeit, mit der Florentines Bild sich ihm aufdrängte.
›Dabei ist sie wie alle Mädchen‹, dachte er. ›Sie will sich auf Kosten eines Mannes amüsieren, will ihm das Geld aus der Tasche ziehen, ihm seine Zeit stehlen … Mehr will sie nicht. Von mir oder einem anderen …‹ Dann sah er wieder ihren mageren Körper, den kindlichen Mund, die gequälten Augen. ›Nein‹, dachte er. ›Sie ist anders … Und deshalb interessiert sie mich … vielleicht … ein bisschen.‹
Während er allein durch die dunklen Straßen lief, musste er mit einem Mal lachen. Denn plötzlich sah er sich mit Florentines Augen: ein Possenreißer, ein böser Junge, vielleicht sogar gefährlich, mit Sicherheit aber anziehend wie jede echte Gefahr. Und er sah die Widersprüche zwischen ihm selbst, dem wahren Jean Lévesque, und der Kunstfigur, die er erschaffen hatte, einem verschlagenen Burschen mit großspurigem Auftreten und einem vermeintlich ausschweifenden Leben, jemand, den alle bewunderten. Der wahre Jean Lévesque war anders. Wortkarg, stur, vor allem arbeitsam. Dieser Jean Lévesque gefiel ihm eigentlich besser, ein praktisches Wesen, das die Arbeit liebte, nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie zu Ehrgeiz und Erfolg anstachelte, ein junger Mann ohne hochfliegende Träume, der sich der Arbeit hingab wie einer Rache.
›Das ist es!‹, dachte er und sah sich abends allein in seinem kleinen Zimmer über den Hausaufgaben sitzen, die per Post kamen. Dieses Bild erfüllte ihn mit Genugtuung. Kein Hindernis war zu hoch für ihn. Seine Bildung war ungenügend, also sorgte er für Abhilfe. Im Übrigen, wer hatte in der Schule jemals etwas Sinnvolles gelernt? Er war sein eigener Lehrer, unnachgiebig, streng. Er hatte sich selbst gut im Griff. Alles andere, und darunter verstand er auch die äußeren Zeichen des Erfolgs wie Reichtum und Ansehen, konnte warten. Den wahren Rausch des Erfolgs kannte er längst, wenn er sich in sein Zimmer zurückzog wie in eine Wüste, sich mit einer kniffligen Algebra- oder Geometrieaufgabe herumschlug und zähneknirschend dachte: ›Eines Tages werde ich allen zeigen, wie weit ich’s gebracht habe!‹ Noch ein paar Jahre, dann hätte er sein Ingenieurdiplom in der Tasche. Dann würde die Welt, die zu dumm war, seinen Wert schon jetzt zu erkennen, nicht schlecht staunen. Alle würden sehen, wer er war, er, Jean Lévesque. Und wenn er selbst später an diese Zeit zurückdenken würde, wüsste er, dass die Bestandteile seines Erfolgs bereits im Keim vorhanden gewesen waren und diese Jahre allem Anschein zum Trotz nicht nutzlos und erbärmlich gewesen waren.
In seinem Zimmer angekommen, setzte er sich aus Gewohnheit an seinen Schreibtisch, aber schon bald begann der Gedanke an seine Verabredung mit Florentine erneut an ihm zu nagen.
»Pah! Ich gehe einfach nicht hin«, murmelte er und schlug seine Bücher auf. Doch die Gedanken waren aufsässig. Er ahnte, dass er an diesem Abend weniger Lernstoff schaffen würde als sonst, und vor lauter Ärger darüber schob er die Hefte mit einer unwilligen Bewegung fort.
Normalerweise reichte es ihm voll und ganz, einmal in der Woche auszugehen. Das entspannte ihn und verlieh den Abenden, an denen er lernte, einen größeren Wert. Einmal in der Woche, am liebsten samstags, ging er allein auf die Rue Sainte-Catherine, sah sich im Palace oder im Princess einen Film an und aß hinterher in einem Restaurant im Westen der Stadt zu Abend. Danach kehrte er beschwingten Schrittes und vergnügt vor sich hinpfeifend in das rauchverhangene Arbeiterviertel zurück, denn er empfand diese Ausflüge als Bestätigung seiner heimlichen Ambitionen. In jenen Momenten beglückwünschte er sich selbst noch überschwänglicher als sonst, dass er frei war, vollkommen frei, ohne Familie oder Freunde, die ihn zu sehr in Anspruch genommen und ihn von seinem vorgezeichneten Weg abgebracht hätten. Die Samstage bestärkten seine Hoffnungen auf eine strahlende Zukunft. Und deshalb waren sie für ihn unverzichtbar. Genauso wie die gute Kleidung, die er trug, Ausdruck seines Selbstbewusstseins war, musste er ab und zu unter Leute gehen, um die ganze Kraft seiner Überzeugungen zu spüren, seiner standhaften Weigerung, auch nur eine Faser seiner Einzigartigkeit, seines individuellen Werts aufzugeben.
Manchmal machte er sich jedoch Sorgen wegen einer Neigung, die er ebenfalls in sich spürte: einer unbändigen Neugier auf andere Menschen, die bisweilen Mitleid gleichkam. Oder Verachtung, das wusste er nicht so recht. Doch er hatte den Eindruck, dass sein ständiges Bedürfnis nach Überlegenheit vielleicht auf einer Art Mitgefühl für all jene Menschen beruhte, die ganz unten standen, weit weg von ihm selbst.
›Mitleid oder Verachtung?‹, fragte er sich auch, als seine Gedanken zu Florentine zurückkehrten. Wer war sie? Wie lebte sie? Es gab so viele Dinge, die er gern über sie gewusst hätte, ohne ihr deshalb gleich seine kostbare Zeit widmen und vor allem ohne ihr etwas von sich selbst verraten zu wollen. Seit er zum ersten Mal im Quinze-Cents zu Mittag gegessen und Florentine erblickt hatte, erschien sie ihm in den unpassendsten Momenten, mal in der Gießerei, wenn die Klappe des Hochofens offenstand und ihm die Flammen vor Augen tanzten, mal sogar hier in seinem Zimmer, wenn der Wind wie heute Abend an seinen Fenstern rüttelte und ihn von allen Seiten umzingelte. Irgendwann war seine Obsession so stark geworden, dass es nur einen Weg gab, sich davon zu befreien: Er war besonders zynisch und hart zu dem jungen Mädchen gewesen, um es dazu zu bringen, ihn zu hassen, zu fürchten und zu meiden, damit er dies nicht selbst tun brauchte. Dennoch hatte er, nach einem oder zwei Vorstößen in diese Richtung, das Restaurant erneut aufgesucht. Er hatte Florentine wiedergesehen, und heute hatte er sich sogar dazu hinreißen lassen, sie einzuladen. Aus Mitleid? Interesse? Oder einfach nur, um ihr etwas anzutun, was sie ihm nicht würde verzeihen können, denn eine so plumpe, barsche Einladung hätte sie eigentlich ablehnen müssen. Hatte er sich darauf verlassen, dass sie Nein sagen würde?
Er sah sie wieder vor sich, blass, mit diesem unruhigen Flackern in den Augen, und fragte sich: ›Ob sie mir geglaubt hat? Ob sie wohl den Mumm hat, zu der Verabredung zu kommen?‹
Die Neugier, das wusste er nur zu gut, würde ihm keine Ruhe lassen, eine Neugier, die brannte wie eine Leidenschaft, das einzige Gefühl im Übrigen, das er nicht zu unterdrücken suchte, weil es ihm für sein persönliches Fortkommen unentbehrlich schien. Seine Neugier war entfesselt wie der Wind, der heute Abend durchs Viertel blies, entlang des Kanals, durch die menschenleeren Straßen, rings um die kleinen Holzhäuser, überall, bis hinauf zum Mont Royal.
Nach einer Weile versuchte er, sich wieder auf seine Hausaufgaben zu konzentrieren, aber sein Bleistift machte sich selbstständig und setzte Florentines Vornamen unter die Gleichungen. Zögernd fügte Jean »Lacasse« hinzu, radierte den Namen jedoch gleich wieder aus. Florentine, dachte er missmutig, das klang so jung und fröhlich, nach Frühling, aber der Nachname hatte etwas Ärmliches, Proletarisches, das den Charme des Vornamens zerstörte. Und so war sie selbst vermutlich auch, die kleine Kellnerin aus dem Quinze-Cents: halb Proletariat, halb anmutiger Frühling, ein kurzer Frühling jedoch, der rasch verwelkte.
Diese müßigen Überlegungen, die vollkommen untypisch für ihn waren, wurmten ihn gewaltig. Er stand auf, trat ans Fenster, öffnete es trotz Wind und Schnee sperrangelweit, steckte den Kopf hinaus und atmete die Nachtluft ein.
Der Wind fegte durch die leeren Straßen und wirbelte den Schnee auf, pudrig, blendend weiß. Die Flocken erhoben sich in die Luft, stoben an den Häusern empor, machten kleine, unberechenbare Sprünge wie eine Tänzerin, die von einer Peitsche verfolgt wird. Der Wind war der Herr, der die Gerte schwang und den Schnee vor sich hertrieb. Die wendige Tänzerin drehte Pirouetten und warf sich auf seinen Befehl zu Boden. Dann sah Jean nur noch einen langen weißen Schal, der sich leicht flatternd an die Türschwellen der Häuser schmiegte. Doch schon knallte der nächste Peitschenhieb, und die Tänzerin sprang wieder auf und umhüllte die Straßenlaternen mit ihrem Schleier. Sie schraubte sich in die Höhe, immer weiter bis zu den Dächern, wo sie umherirrte, während ihr Klagelaut und ihre unendliche Müdigkeit an den geschlossenen Fensterläden abprallten.
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