Rühle / Müller | Mehrsprachigkeit - Diversität - Internationalität | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 314 Seiten

Rühle / Müller Mehrsprachigkeit - Diversität - Internationalität

Erziehungswissenschaft im transnationalen Bildungsraum

E-Book, Deutsch, 314 Seiten

ISBN: 978-3-8309-7899-2
Verlag: Waxmann Verlag GmbH
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



„Die Ziele der allgemeinen und der beruflichen Bildung haben sich mit der Interkulturalität und Internationalität auseinanderzusetzen, und zwar nicht nur im Hinblick auf interkulturelle Situationen, die sich aus einem hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund oder Minderheiten in pädagogischen Institutionen ergeben können, sondern auch im Hinblick auf jegliche Formen des interkulturellen Kontakts. So gesehen, hat interkulturelle Bildung keine sektorielle Aufgabe, sondern eine Querschnittsdimension der Bildung zu sein.“
(Allemann-Ghionda 2013, S. 48)

In Anbetracht globaler und soziokultureller Veränderungsprozesse fühlen sich immer mehr Menschen verschiedenen Ländern, Kulturen und Sprachen zugehörig. Diese Komplexität von Mehrfachzugehörigkeiten erfasst Cristina Allemann-Ghionda in ihrem Konzept der polyphonen Identität (Allemann-Ghionda 2003). Gemeint ist damit „ein Repertoire an sprachlich kodierten »Stimmen«“ (Allemann-Ghionda 2004, S. 83). Wie in einem Orchester können sich diese Stimmen „im Sinne von »Ausdrucksweisen«“ und „je nach kommunikativem Zusammenhang isoliert äußern, oder aber in einer Weise kombiniert auftreten, dass der Klang einen eigenen, unverwechselbaren Ausdruck hervorbringt“ (ebd.). Diese musikalische Vielstimmigkeit wird in einem Aquarell von Paul Klee aus dem Jahre 1929 dargestellt. Aus diesem Grund haben wir das Bild Polyphone Strömungen für das Cover der vorliegenden Festschrift ausgewählt, welches die Faszination für die Verbindung unterschiedlicher Stimmen in ihrer Diversität verbildlicht. Für Cristina Allemann-Ghionda sind vor diesem Hintergrund pädagogische und erziehungswissenschaftliche Fragestellungen, die Mehrsprachigkeit, Diversität und Internationalität nicht berücksichtigen, obsolet. Die drei zentralen Begriffe dieses Bandes, für die sich die allgemeine Bildung öffnen und denen sich die Erziehungswissenschaft stellen muss, bilden die Kernbereiche der Forschungs- und Lehrtätigkeiten von Cristina Allemann-Ghionda ab. Ihr ist diese Festschrift gewidmet. So sind erstens Fragestellungen zu den Themen Mehrsprachigkeit und Interkulturalität in der Bildung seit ihren frühen Schriften feste Bestandteile von Cristina Allemann-Ghiondas wissenschaftlichem Denken und Wirken (Allemann-Ghionda 1995, 1997). Eng damit verknüpft sind die Frage nach dem Bildungserfolg bzw. -misserfolg von Schüler/innen mit Migrationshintergrund (Allemann-Ghionda / Pfeiffer 2008; Allemann-Ghionda et al. 2010) sowie das Thema der interkulturellen Sensibilisierung (Allemann-Ghionda / Ogay 1995).

Zweitens bilden das Postulat der Anerkennung von Diversität sowie die sich daraus ergebende Forderung nach einer entsprechenden Professionalisierung übergreifende Ziele und Schwerpunkte in Cristina Allemann-Ghiondas Forschung und Lehre. Während sich Cristina Allemann-Ghionda dabei einerseits der Professionalisierung angehender Lehrkräfte (Allemann-Ghionda / Terhart 2006), einschließlich deren Beurteilungs- und Diagnosekompetenzen in sprachlich und soziokulturell heterogenen Klassen (Allemann-Ghionda et al. 2006), widmet, setzt sie sich andererseits auch mit dem Thema der interkulturellen Kompetenzen angehender Ärzt/innen auseinander (Allemann- Ghionda / Hallal 2011). Drittens nehmen die internationale Öffnung der Erziehungswissenschaft und der Hochschulen sowie die vergleichende Erziehungswissenschaft (Allemann- Ghionda 1999, 2004, 2014) eine bedeutende Rolle in Cristina Allemann- Ghiondas Arbeiten ein.

Soziokulturelle Veränderungsprozesse tragen zur Pluralisierung von Gesellschaften bei. Migration ist dabei ein wichtiges und unübersehbares, jedoch nicht das einzige Phänomen soziokultureller und sprachlicher Vielfalt. In ihrem Modell der vier Achsen der Pluralität erfasst Cristina Allemann-Ghionda neben der Migration die infranationale Mehrsprachigkeit, die Europäische Integration und die Globalisierung als drei weitere ‚Quellen‘ soziokultureller und sprachlicher Pluralität (vgl. Allemann-Ghionda 2013, S. 47). Diese Manifestationen von Pluralität stellen wichtige Begründungszusammenhänge für die Umsetzung interkultureller Bildung dar. Für Cristina Allemann-Ghionda ist interkulturelle Bildung dabei ein pädagogischer Ansatz, der die Berücksichtigung von Differenzen in der Bildung in einem umfassenden Sinne als Pädagogik der Diversität versteht (Allemann-Ghionda 2013). Eines der zentralen Ziele einer solchen Bildung in pluralen Verhältnissen ist die Sensibilisierung pädagogischer Akteure und – im Kontext von Schule – der Schüler/innen für interkulturelle Fragestellungen, Machtverhältnisse und (Bildungs-)Ungerechtigkeiten. Die Förderung interkultureller Kompetenz ist somit ein oberstes Anliegen interkultureller Bildung.
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1;Inhalt;4
2;Einleitung;6
3;Interkulturalität und Transkulturalität;16
3.1;1 Unitarismus und Föderalismus;16
3.2;2 Föderalistisches Kulturprojekt als Übersetzungsprojekt;17
3.3;3 Formen des Übersetzens;19
3.4;4 Übersetzung und Bildung;23
3.5;5 Selbstübersetzung und Selbstbildung;25
3.6;6 Zusammenfassung;28
4;Interkulturelle Kompetenzen und Mehrsprachigkeit für die globale Welt;31
4.1;1 Einleitung;31
4.2;2 Sprache und Kultur: Eine Prämisse;32
4.3;3 Kommunikative Kompetenzen;34
4.4;4 Interkulturelle kommunikative Kompetenzen;36
4.5;5 Einschränkungen und Fallen;42
5;Ritualisierte Mehrsprachigkeit und Umgang mit Schweizerdeutsch in vorschulischen Bildungseinrichtungen;47
5.1;1 Sprachliche Förderung im pädagogischen Alltag europäischer Bildungseinrichtungen – Konzeptionelle Verbindung der Forschungsprojekte HeLiE und MEMOS;47
5.2;2 Umgang mit individueller Mehrsprachigkeit, Standardsprache und Schweizerdeutsch im Kindergarten – strukturelle und curriculare Bedingungen;51
5.3;3 „Und Italienisch können wir das Lied auch noch“ – Ritualisierte Mehrsprachigkeit und Exotisierung der ‚anderen‘ Sprachen im Kindergarten;54
5.4;4 „Hier sagst du: Ich ha ä Larve“ – Umgang mit Schweizerdeutsch im Kindergarten;59
5.5;5 Fazit;62
6;Der Lehrer erzieht nicht nur, er selbst wird erzogen.Von reformpädagogischen Zumutungen und der beruflichenSozialisation des Lehrpersonals;67
6.1;1 Einleitung;67
6.2;2 Forderungen an Lehrkräfte in der heutigen Gesellschaft;69
6.3;3 Vom Ideal zum schulischen Alltag;77
6.4;4 Schluss;81
7;Diversität, Interkulturalität und Multiperspektivität im Unterricht. Möglichkeiten und Grenzen einer mehrperspektivischen allgemeinen Bildung für alle im Kontext von Chancengerechtigkeit;85
7.1;1 Einleitung;85
7.2;2 Bildung und Erziehung im Kontext von Diversität und Interkulturalität;87
7.3;3 Interkulturelle und Diversitätskompetenz;93
7.4;4 Methodisch-didaktische Überlegungen zur Kanongestaltung im Kontext von Diversität, Interkulturalität und Chancengerechtigkeit;97
8;Diversity-Management: ein Potenzial für die Lehrer/innenbildung im 21. Jahrhundert? Einblicke in das Forschungsprojekt DIVAL an der Pädagogischen Hochschule St.Gallen;103
8.1;1 Einleitung;103
8.2;2 Begriffsklärung: Diversität / Diversity;104
8.3;3 Diversity-Management an Hochschulen;106
8.4;4 Zwischenfazit;109
8.5;5 Forschungsprojekt DIVAL;111
8.6;6 Ausblick;115
9;Sprachkompetenzen Studierender. Design und Ergebnisse einer empirischen Studie;119
9.1;1 Untersuchungsgegenstand und -ziele;119
9.2;2 Die Stichprobe und das Untersuchungsdesign;121
9.3;3 Erster Testteil: Ein modifizierter C-Test;125
9.4;4 Zweiter Testteil: Die Schreibaufgabe;129
9.5;5 Fazit und Ausblick;144
10;HAVAS 5. Diagnostik von Sprachkompetenzen im Vor- und Grundschulalter bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund;151
10.1;1 Einleitung;151
10.2;2 Zum Hintergrund der Entwicklung;153
10.3;3 Vorgehensweise und Auswertung;153
10.4;4 Zur Konzeption des Instruments;155
10.5;5 Linien der Sprachentwicklung;161
10.6;6 Zwei Beispiele;166
10.7;7 Wissenschaftliche Überprüfung;169
10.8;8 Kritik;172
10.9;9 Ausblick;174
11;Medizin und Diversität. Eine interdisziplinäre Konnektivität in der hochschulmedizinischen Ausbildung;179
11.1;1 Hinführung;179
11.2;2 Soziokultureller Kontext ärztlicher Agitation und Reaktion;181
11.3;3 Perspektiven der Internationalisierung des deutsch-medizinischen Bildungs- und Forschungsstandortes – Ein Vergleich;184
11.4;4 Ausblick;190
12;Differenzen kritisch hinterfragen, Diversität reflexiv gestalten;195
12.1;1 Einleitende Bemerkungen;195
12.2;2 Differenz und Diversität in der Sozialen Arbeit;196
12.3;3 Kritische Differenzforschung und reflexive Diversität als Zielperspektive;200
12.4;4 Eine Fallbeschreibung aus dem Forschungs- und Praxisfeld „Partnergewalt gegen Frauen im Migrationskontext“;206
12.5;5 Fazit;213
13;Der methodologische Nationalismus und Kulturalismus in der Vergleichenden Erziehungswissenschaft;218
13.1;1 Nationen und Kulturen im Fokus der Vergleichenden Erziehungswissenschaft;218
13.2;2 Nationalkulturell ausgerichtete Vergleichsmethodik: die ‚Klassiker‘;222
13.3;3 Komplexe Vergleichsdesigns unter- und oberhalb nationaler und monokultureller Kategorien;225
13.4;4 Transnationale Bildungsräume und transkulturelle Identitäten;227
13.5;5 Methodologische Dimensionen der heutigen Vergleichenden Erziehungswissenschaft – eine Zusammenschau;230
14;Weltweiten Enthusiasmus aufbauen. ,Typisierte Akteure‘ in der transkontinentalen Verbreitung des wechselseitigen Unterrichts am Anfang des 19. Jahrhunderts;235
14.1;1 Der wechselseitige Unterricht als ,globales‘ Modell: Einige internationale Belege;236
14.2;2 ,Theoretisierung‘: Umfang und Grenzen eines Verbreitungsmechanismus;239
14.3;3 ,Typisierte Akteure‘ und die textbasierte Bildung von Adressatenkreisen in verschiedenen kulturellen Kontexten;242
14.4;4 Weltweiten Enthusiasmus ausführen: Abstraktion und ,simulierte Konkretheit‘ als Formen der De-Kontextualisierung;251
15;Internationalisierung der Berufsbildungsforschung;258
15.1;1 Einleitung;258
15.2;2 Berufsbildungsforschung;258
15.3;3 Was ist Internationalisierung?;260
15.4;4 Zum Stand der Internationalisierung der Berufsbildungsforschung;264
16;Grade Promotion Policies and Societal Contexts. The cases of Finland and Japan;275
16.1;1 Introduction;275
16.2;2 Grade promotion policies;276
16.3;3 The case of Finland;278
16.4;4 The case of Japan;280
16.5;5 The challenges of providing equitable learning opportunities;282
16.6;6 Closing remarks;283
17;Reflektierter Euro- und Okzidentozentrismus. Über die Verortung von Bildung und Erziehungswissenschaft im Kontext globaler Pluralität;286
17.1;1 Pluralität als Herausforderung;286
17.2;2 Bildung und Erziehungswissenschaft im Kontext globaler Pluralität;287
17.3;3 Ausblick auf eine pluritopische Erziehungswissenschaft;307
18;Autorinnen und Autoren;310


Rainer Wisbert
Interkulturalität und Transkulturalität (S. 19-20)

Die Bildungsentwürfe der europäischen Aufklärung sind zureichend nur zu verstehen vor dem Hintergrund von Telosschwund und Globalisierungstendenzen in der Neuzeit. Der Niedergang des teleologischen Denkens führte zur Freilassung des Menschen aus theologischer und metaphysischer Vormundschaft; Gott zog sich mehr und mehr aus der Welt zurück und überließ die Gestaltung der Welt zunehmend stärker der Menschheit selbst. Gleichzeitig dehnte sich der Erfahrungsraum der Menschen immer weiter aus und führte zu heftigen Debatten über die Gestaltungsprinzipien einer sich nun als Weltgemeinschaft fühlenden Menschheit. Die mannigfaltigen Beiträge in den staatspolitischen, universalgeschichtlichen und kulturtheoretischen Debatten der Aufklärung zur Kosmopolitismusfrage lassen sich auf zwei grundlegende Ordnungskonzepte reduzieren, einen Unitarismus, der im ‚philosophischen Zeitalter‘ in all seinen Varianten lange Zeit dominierte, und einen Föderalismus, der mit Abkehr von einer eurozentrischen Sichtweise in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zunehmend an Boden gewann.

Die Unitaristen gehen aus von der universalen Geltung einheitlicher Vernunftprinzipien, behaupten den Vorrang des Ganzen vor den Teilen, betonen dasjenige, worin alle Völker und Kulturen übereinstimmen, und verlangen, das Weltganze vom Gleichheitsprinzip her zu gestalten. Die Föderalisten halten es für unmöglich, das Weltganze auf nur einen Diskurs, eine Gleichung, eine Formel, ein Bild oder einen Mythos zu reduzieren. Sie fordern vielmehr eine Gemeinschaft der Völker und Kulturen, in der Vielfalt, Eigenart und Eigenständigkeit der Teilbereiche gesichert sind. Das Leitbild dieser sich an Vico und Montesquieu, aber auch an Leibniz orientierenden Bewegung ist die Idee der ‚Einheit in der Vielheit‘.

Ganz unterschiedliche Gefahren haben beide Ordnungskonzepte im Blick. Auf eine Gefährdung des Zusammenhalts der Weltgemeinschaft durch zu starke Gewichtung oder Verselbstständigung von Sonderinteressen lenken die Unitaristen unter den Aufklärern ihre Aufmerksamkeit und suchen folglich die Zentralgewalt zu stärken. Die Föderalisten hingegen befürchten eine Vernichtung des Singulären, sehen in allen allzu starken zentripetalen Tendenzen hegemoniale Bestrebungen, weisen hin auf die Gefahren von Fremdbestimmung und Eintönigkeit und verlangen eine behutsame Integration, bei der die einzelnen Partner weitgehend unabhängig und mitverantwortlich bleiben. Einig sind sich beide Seiten in dem Bekenntnis zu einem universalen Patriotismus und in der Ablehnung jeder Form partikularistischen oder relativistischen Denkens, dem sie vorwerfen, die gemeinsame Sache der Menschheit aus dem Blick zu verlieren und einen Egoismus zu predigen. Zumindest stellen sie die Partikularisten unter Separatismusverdacht.

Auch für Johann Gottfried Herder war die Welt universal geworden und universal neu zu entwerfen. Schon in frühen Königsberger und Rigaer Tagen beteiligte er sich lebhaft an den facettenreichen Aufklärungsdebatten, wandte sich zunächst gegen den machtpolitischen Zentralismus Preußens, die kulturellen Hegemonialansprüche Frankreichs und den universalistischen Rationalismus und später gegen ‚Schwärmerei‘, Geniekult und Empfindsamkeitsbewegung und entwickelte ein eigenes Ordnungskonzept zur Weltgemeinschaft. Seine Theorie der Bildung der Menschheit ist eine deutliche Absage nicht nur an Unitarismus und Partikularismus, sondern auch an alle starren und statischen Ordnungsvorstellungen. Herder entwickelt, so meine These, ein dynamisch föderalistisches Ordnungskonzept zur Weltgemeinschaft, in dem dem Übersetzen eine zentrale Rolle zukommt.


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