E-Book, Deutsch, 119 Seiten
Reihe: Carl-Auer Compact
Ruf Einführung in die systemische Psychiatrie
2. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8497-8496-6
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 119 Seiten
Reihe: Carl-Auer Compact
ISBN: 978-3-8497-8496-6
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Systemisches Denken erlaubt es, die Frage nach Ursachen und Hintergründen zu ergänzen um die Suche nach Bedeutung und Sinn. Auch wenn die ähnlich schwer und endgültig gar nicht zu beantworten ist, erlaubt diese Veränderung eine andere Blickrichtung und auch eine neue Orientierung – auf Genesung.
In diesem Sinne kann ich die Einführung in die systemische Psychiatrie von Gerhard Dieter Ruf sehr empfehlen."
Prof. Dr. Thomas Bock, UKE Hamburg
"Sehr kompetent und verständig wird durch dieses Buch in die zentralen Denkweisen und Begriffe der systemischen Psychiatrie eingeführt, und die für die psychiatrische Arbeit relevanten Prinzipien und einschlägigen Konzepte werden kompetent erläutert sowie mit zahlreichen Fallbeispielen aus der Praxis veranschaulicht."
Zeitschrift für das Fürsorgewesen
Psychische Krankheit als Lösungsversuch
Die systemische Psychiatrie sieht psychische Störungen nicht nur als Krankheit, sondern versteht sie vor dem Hintergrund des jeweiligen sozialen Kontextes auch als Lösungsversuch für problematische Lebenskonstellationen. Mit dieser ressourcenorientierten Sicht auf Sinn und Funktion von psychischen Krankheiten verlässt sie die Defizitorientierung der traditionellen Psychiatrie.
Gerhard Dieter Ruf stellt in dieser kompakten Einführung die Grundlagen und Prinzipien der systemischen Psychiatrie dar. Anhand der wichtigsten psychiatrischen Störungsbilder stellt er diagnosenspezifische psychosoziale Muster und entsprechende Interventionsmöglichkeiten vor und illustriert sie mit Fallbeispielen. Dabei wird deutlich, dass die systemische Psychiatrie auch bei Störungen, die sonst als chronische Erkrankung mit schlechter Prognose gelten, grundsätzlich zu einer Änderung der Symptomatik beitragen kann.
Der Autor:
Gerhard Dieter Ruf, Dr. med., Studium der Medizin in Tübingen, Weiterbildung zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie in den Kliniken Ludwigsburg und Weinsberg, Oberarzttätigkeit in Weinsberg, Leitung einer Abteilung der Rhein-Haardt-Klinik Bad Dürkheim, Fachklinik für Suchterkrankungen. Seit 1991 eigene Praxis in Asperg. Systemischer Therapeut (IGST, SG, DGSF), Lehrender (DGSF) am Bodensee-Institut für Systemische Therapie und Beratung.
Schwerpunkte: systemische Psychiatrie, systemische Therapie bei psychischen Störungen, Psychotherapie bei Psychosen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
3 Psychische Störungen
3.1 Intelligenzminderung
Bei der Intelligenzminderung sind die intellektuellen Fähigkeiten durch eine angeborene oder erworbene Störung des zentralen Nervensystems begrenzt. Betroffene verstehen komplexe Sachverhalte nicht und kommunizieren auf einem einfachen Niveau. Üblicherweise richtet sich das soziale Umfeld auf die intellektuelle Störung ein. Schwierigkeiten können entstehen bei Veränderungen der Lebenssituation, zum Beispiel bei der Arbeit oder in der Familie, bei einer neuen Bezugsperson im Behindertenheim oder einer Veränderung in der Heimgruppe. Die Fähigkeit, daraus resultierende Probleme zu lösen, ist eingeschränkt, und es können Verhaltensstörungen, Anpassungsstörungen oder paranoide Befürchtungen auftreten, wenn der Betroffene das Verhalten seiner Umgebung nicht verstehen kann. Bezüglich der intellektuellen Fähigkeiten ist eine defizitorientierte Sichtweise nützlich dafür, die individuellen Grenzen angemessen zu berücksichtigen. Falls jedoch eine Lösung persönlicher oder sozialer Probleme vom Betroffenen oder von Bezugspersonen gewünscht wird, sollte sich der Fokus der Betrachtung auf die vorhandenen Ressourcen richten. Problematische zirkuläre Prozesse treten häufig in Überforderungssituationen auf, wenn die Umwelt die intellektuelle Einschränkung nicht ausreichend berücksichtigt. Betroffene reagieren dann mit Verhaltensstörungen, depressiven oder paranoiden Symptomen, sind dann natürlich noch weniger leistungsfähig, werden von der Umwelt noch mehr überfordert, die Symptome nehmen zu usw. Therapie bedeutet dann Hilfe bei der Anpassung an die Lebenssituation. Liegt eine Überforderung vor, sollten die Leistungsanforderungen den intellektuellen Fähigkeiten angepasst werden. Im biologischen System kann eine Behandlung mit Psychopharmaka bei der Anpassung an die Lebenssituation helfen. Lösungsorientiertes Vorgehen ist meistens einfacher zu verstehen als komplexe Fragen oder paradoxe Interventionen und deshalb zu bevorzugen. Bei schweren Formen der Intelligenzminderung sind die Klienten selbst nicht in der Lage, ein Problem zu formulieren und an einer Lösung zu arbeiten. Angehörige oder Betreuer definieren das Problem und erwarten eine Lösung. Dann kann neben einer medikamentösen Behandlung eine Beratung oder Supervision der Bezugspersonen erfolgen, eventuell mit dem Ziel entsprechender pädagogischer Maßnahmen. 3.2 Organische psychische Störungen
Organische psychische Störungen sind definitionsgemäß Folgen krankhafter Veränderungen der Gehirnsubstanz, der Neurochemie oder der Neurophysiologie des Gehirns. Die Prozesse im psychischen System werden durch die hirnorganische Beeinträchtigung limitiert. Komplexe Denkprozesse sind beeinträchtigt und die Auffassung erschwert bis hin zu Orientierungsstörungen und Verwirrtheitszuständen. Die Symptomatik kann überlagert werden von Problemen des Betroffenen, die Auswirkungen dieser hirnorganischen Störung psychisch zu bewältigen. Die von Betroffenen wahrgenommenen Gedächtnisstörungen verursachen Stress, der wiederum in einem zirkulären Prozess die Gedächtnisstörungen verschlimmern kann (Gürtler 2006). Verschiedene Familien gehen unterschiedlich mit den kognitiven Defiziten Demenzkranker um (Hanson 1989). Manche Familien lassen die Betroffenen ohne Pathologisierung an familiären Entscheidungsprozessen teilhaben. Andere Familien schließen Betroffene schon bei leichten Auffassungsstörungen aus den familiären Entscheidungen aus und weisen ihnen vorschnell eine Demenzdiagnose zu; diese »Exkommunikation« (Retzer 1994) mit fehlender Ansprache und fehlender intellektueller Forderung kann in einem zirkulären Prozess die Demenzentwicklung verschlimmern. Das Familienleben verändert sich, weil Angehörige die Defizite des Demenzkranken ausgleichen und neue Rollen und Funktionen einnehmen müssen. Der Ehepartner muss sich von der früheren vertrauten Beziehung verabschieden und Trauerarbeit leisten. In manchen Fällen haben Kinder schon immer zu wenig Zuneigung von dem erkrankten Elternteil erhalten und erhoffen sie sich nun von der Pflege; diese Hoffnung wird meistens enttäuscht. Problematische Familienbeziehungen werden durch die Demenzentwicklung oft akzentuiert, wenn Demente die Hilfe demonstrativ einfordern und Aggressionen bei den pflegenden Angehörigen auslösen. Pflegepersonen werden oft selbst depressiv, wenn es ihnen nicht gelingt, den Verlust der früheren Beziehung zu betrauern und eine neue Beziehung zu dem Betroffenen aufzubauen. Bei organischen psychischen Störungen ist eine Kombination defizitorientierter und ressourcenorientierter Sichtweisen nützlich. Im biologischen System erfolgt eine defizitorientierte medizinische Untersuchung und Behandlung der Beeinträchtigungen. Für eine systemische Lösung von Problemen werden die vorhandenen Ressourcen genutzt. Die systemische Therapie (Ruf 2005) erfolgt nach der Klärung der Frage, wer welches Problem und welches Therapieziel definiert. Bei einem Auftrag durch einen Demenzkranken kann eine Therapie z. B. mit der Frage erfolgen, wie er sich mit seinen Defiziten abfinden und seine Lebensweise danach ausrichten kann. In der Therapie verschieben Fragen nach den Stärken den Fokus von den Defiziten zu den Ressourcen. Andererseits sollten die hirnorganisch bedingten Grenzen der kognitiven Fähigkeiten und der Belastbarkeit verdeutlicht werden. Eine entsprechende Lebensplanung kann sich anschließen. Der Therapeut fungiert quasi als Hilfs-Ich, um Ordnung in die Denkvorgänge zu bringen. Für den Patienten sind bestätigende Rückmeldungen durch andere, Alltagsaktivitäten und die systematische Beschäftigung mit noch erhaltenen Erinnerungen (Wächtler et al. 2005) wichtig. Bei der Beratung der Angehörigen (Gunzelmann et al. 1996; Shields 1992; Boss et al. 1990; Johannsen u. Fischer-Johannsen 2011) können die verbliebenen Fähigkeiten und die Grenzen des Betroffenen verdeutlicht, Krankheitskonstrukte verflüssigt und Verhalten rekontextualisiert werden mit dem Ziel eines besseren familiären Umgangs mit dem Kranken. 3.3 Reaktive Störungen
Nach der Diagnosenklassifikation ICD-10 (Dilling et al. 1993) werden reaktive Störungen eingeteilt in akute Belastungsreaktionen, posttraumatische Belastungsstörungen und Anpassungsstörungen. Eine akute Belastungsreaktion (im Volksmund »Schock«) tritt im Anschluss an eine außergewöhnliche körperliche oder seelische Belastung auf und dauert nur Stunden bis höchstens einige Tage an. Die posttraumatische Belastungsstörung ist eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf eine extreme Bedrohung katastrophalen Ausmaßes (z. B. Krieg, Folter, Missbrauchserlebnisse) und beginnt mit einer Latenz von Wochen bis Monaten; typisch ist das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen oder Albträumen. Anpassungsstörungen mit Ängsten oder depressiven Verstimmungen treten häufig auf als Ausdruck eines gestörten Anpassungsprozesses nach einer einschneidenden Lebensveränderung, nach belastenden Lebensereignissen oder bei schwerer körperlicher Erkrankung. Bei der akuten Belastungsreaktion sind therapeutisch entlastende Gespräche und eine antidepressive Behandlung möglich. Die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung wird beeinflusst von der subjektiven Bewertung des Traumas. In der traumatischen Situation wurden die schmerzlichen Gefühle zum Selbstschutz dissoziiert, d. h. abgespalten. Sie werden auch nach dem Trauma nicht aus der Dissoziation in die bewusste Lebensgeschichte integriert, sondern in sich aufdrängenden Erinnerungen und Albträumen aktiviert, z. T. durch Alltagssituationen ausgelöst. Auslösesituationen werden dann vermieden, und es kommt zu einem emotionalen und sozialen Rückzug. Es gibt Übergänge zur dissoziativen Störung (vgl. S. 90), wenn eine solche Traumainszenierung bei Stress immer wieder konditioniert ausgelöst wird und dann regelmäßig zu tranceähnlichem Verhalten führt (Fiedler 2001). Die systemische Therapie der posttraumatischen Belastungsstörung (Hanswille u. Kissenbeck 2008; Oestereich 2011; Bittenbinder 2000; Signer-Fischer 2001) zielt darauf ab, die abgespaltenen traumatischen Erinnerungen ressourcenorientiert mit vorwiegend narrativen Methoden in die Lebensgeschichte zu integrieren. Der Patient soll in die Lage versetzt werden, zwischen dem jetzigen erwachsenen Ich und dem früheren traumatisierten Ich zu unterscheiden und zu erkennen, dass die jetzigen Flash-backs nur die Bilder des Traumas und nicht das Trauma selbst sind. Eine positive und tragfähige therapeutische Beziehung ist Voraussetzung dafür, dass in der Gegenwart die Sicherheit gewährleistet wird, die bei der früheren...