Ruile | Dark Noise | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Ruile Dark Noise

Jugendthriller ab 14 Jahre
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7320-0777-6
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Jugendthriller ab 14 Jahre

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-7320-0777-6
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zafer arbeitet als freiberuflicher Bild- und Videoretuscheur. Und er ist der Beste. Einen Mann in das Überwachungsvideo einer Tiefgarage einzufügen, ist für ihn ein Kinderspiel. Merkwürdig ist nur, dass dieser Auftrag anonym war. Tage später erkennt Zafer durch Zufall eines seiner Videos in den Nachrichten über einen Journalistenmord wieder. Es zeigt, wie der mutmaßliche Täter den Tatort, eine Tiefgarage, verlässt. In Wirklichkeit ist der Mann nie dort gewesen. Aber das weiß nur Zafer ...

Margit Ruile lernte das Geschichtenerzählen zuerst beim Film. Sie studierte und lehrte an der Münchner Filmhochschule, drehte Dokumentationen und arbeitete als Drehbuchlektorin. Später fand sie dann heraus, dass Schreiben sich anfühlt wie im Schneideraum zu sitzen - mit dem riesengroßen Vorteil, dass man die fehlenden Szenen nicht nachdrehen muss, sondern einfach erfinden kann.
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Ich fange nicht mit mir an. Das kann ich nicht. Denn dieses Ich, das ich jetzt bin, wundert sich über die Figur, die sie war. Die beiden sind nicht deckungsgleich. Ich drehe mich um und schaue zurück auf jemanden, den ich gut kenne. Sehr gut kenne. Nennen wir ihn – Zafer.

Zafer wohnte also in einer Stadt, die ich nicht verrate. Darin eine Straße, unweit einer großen U-Bahn-Station. Die Nummer 12 lag am Ende einer Sackgasse. Bäume und Büsche verstellten den Blick auf die Stadtautobahn. Das Haus war ein schmuckloses Gebäude mit vier Stockwerken, das vor vielen Jahren einmal mit blutroter Farbe gestrichen wurde und nun einen schmutzig braunen Ton angenommen hatte.

Ging man durch die türkisfarbene Tür, die rechts und links von zwei verwitterten Steinlöwen bewacht wurde, kam man an zwei weiteren Gebäuden vorbei, nur um dann im zweiten Hinterhof auf ein drittes Haus zu stoßen. Der Hinterhof vom Hinterhof. Dort gab es eine Erdgeschosswohnung mit drei hohen Fenstern. Einem zur Küche, einem zum winzigen Schlafzimmer und einem zum Wohnzimmer, in dem ein großer Kachelofen stand. Von außen konnte man das alles nicht sehen. Auch nicht bei Licht. Die Scheiben der Fenster waren einfach zu verschmutzt. Innen war es immer dunkel, selbst im Hochsommer. Das lag an den Hinterhofhäusern, die so hoch waren, dass sie keinen Sonnenstrahl in die Erdgeschosswohnung durchließen. Es gab einen Winkel, von dem aus man den Himmel sehen konnte. Man musste das Fenster öffnen, sich auf das Bett legen und mit dem Kopf ganz nah an den Ofen rücken. Einmal lag Zafer so auf der Lauer, um zwischen den aufragenden Mauern den Blick auf eine Wolke erhaschen zu können.

Eine echte Wolke. Kaum nachzubauen.

Kam man durch den Hausflur mit gesprungenen Fliesen und eingedellten Briefkästen in die Wohnung, so stolperte man als Erstes über einen Kabelstrang im Gang. Die Kabel durchliefen den vorderen Teil des Wohnzimmers, vorbei an einer Zimmerpflanze mit ledrigen grünen Blättern, die später noch eine Rolle spielen wird, und Pizzaschachteln, die kunstvoll übereinandergestapelt waren zu einem schiefen Turm, der fast bis zur Decke reichte. Neben dem alten Kachelofen stand – den Lattenrost auf vier Bierkästen gestützt – ein ungemachtes Bett; die blauen Überzüge mit Fußbällen bedruckt und vom vielen Waschen ausgebleicht. Die Kabel führten in einem breiten Bogen um die Kästen herum und landeten schließlich im Zentrum der Welt. Dem Rechner.

Hier wurden Dinge geschaffen, Welten verändert, neue Kreaturen geboren. Und mitten drin saß der Schöpfer – Zafer, leicht gebückt, mit Nackenschmerzen.

Noch wenige Wochen zuvor hatte er mit einem Heer anderer Retuscheure in Schneideräumen geschuftet, deren Fenster mit schwarzer Folie verklebt waren. Stundenlang konnte man nichts anderes als das leise Klicken der Maustasten hören. Mittags gab es immer einen, der sich an die Herdplatte der Küchenzeile stellte und kochte. Zafer schlang dankbar die Nudeln in sich hinein, vermied es aber, Dinge aus den verschimmelten Kühlschränken zu essen oder den geschäumten Milchkaffee aus den leicht säuerlich riechenden Kaffeemaschinen zu trinken. Er vermied es auch, sich zu den anderen zu setzen, die zusammen vor den Rechnern aßen, über Programme sprachen oder sich neue Spiele zeigten, bevor sie sich wieder ihren Filmsequenzen zuwandten. Er konnte nicht von seinen Monstern sprechen. Er hatte sie noch niemandem gezeigt. Sie könnten sie ihm klauen.

Es war zu früh. Noch war es zu früh.

Sobald sich auf seinem Konto ein bisschen Geld angehäuft hatte, war er froh, dass er den großen Schneideräumen entfliehen konnte. Er kaufte sich einen schnelleren Rechner und eigene Programme und baute alles in seiner Wohnung auf, die er nun nicht mehr zu verlassen brauchte. Die Aufträge bekam er per E-Mail zugeschickt, mit einem Link zu den Sequenzen. Er lud sich die Szenen auf die Festplatte, bearbeitete sie und schickte sie wieder zurück.

Er wusste nicht, ob seine Auftraggeber zufrieden waren, denn man gab ihm nie eine Rückmeldung. Nur die Zahlungen gingen mehr oder weniger pünktlich auf seinem Konto ein und er bekam immer neue Links zugeschickt, sodass er annahm, dass man seine Arbeit in Ordnung fand.

Anfangs hatte er noch vor, um elf Uhr vormittags mit der Arbeit zu beginnen, aber das verschob er jeden Tag ein wenig nach hinten. Je kürzer die Tage wurden, desto später fing er an. Kaum noch verließ er das Haus bei Tageslicht. Manchmal blieb er auch tagelang zu Hause. Er hasste die Straßen mit den vielen Menschen, die U-Bahnen, das Gedrängel. So viele Details, so viele Kleinigkeiten. Ohren, Augen, Körper, Bewegungen, Haare. Perfekt erschaffen. Wie sollte er das jemals nachahmen? Manchmal ertappte er sich dabei, dass er sich wünschte, die Szene in der U-Bahn anzuhalten, um sie sich etwas genauer anzusehen. Einen Haarschopf, ein Tattoo, perlendes Wasser auf den Mänteln, die Augen eines Hundes. Doch alles lief unerbittlich in Echtzeit weiter in einer verwirrenden Geschwindigkeit.

Nur vor seinem Rechner war er sicher. Hier konnte er alles tun, die Zeit verlangsamen, sich in ihr vor und zurück bewegen, und vor allem konnte er den Rechner in den Ruhezustand versetzen, wann immer er wollte.

Seit Wochen schon bearbeitete er Sequenzen aus Wahre Liebe, einer vor Jahren hastig produzierten Soap um drei Mädchen Mitte zwanzig, die ihr Glück in der Großstadt versuchten. Zafers Auftrag war es, Produktnamen und Schriftzüge von Zeitschriften, Flaschen, Shampoos und Damenbindenschachteln in den Filmszenen wegzuretuschieren. Was einmal sehr sorgfältig und scheinbar zufällig in der Filmkulisse platziert worden war, verhinderte nun die Ausstrahlung der Serie, da die Nebenverdienste der Produzenten plötzlich jemandem aufgefallen waren, der das all die Jahre vorher scheinbar nicht bemerkt hatte. Man nannte es Schleichwerbung. Und die musste nun entfernt werden.

Zafer war es egal, was er tat. Ihn interessierte die Arbeit an sich und nachdem er zuvor monatelang Mikrofone und Lampenkabel aus Bildern herausgenommen hatte, empfand er es nun zumindest als kleine Herausforderung, Produkte umzubenennen oder sie gleich ganz logofrei zu machen. So verbrachte er Stunden mit den Szenen und schon nach ein paar Tagen fühlte er sich als Teil der Soap. Und obwohl er der Handlung nicht richtig folgen konnte, da er immer nur einzelne Szenen bearbeitete, glaubte er bald, die Figuren so gut zu kennen, als sei er ihnen im wirklichen Leben schon einmal begegnet.

Später konnte er nicht mehr sagen, wann er das Monster zuerst eingebaut hatte. Es musste zwischen Folge 2435 und 2438 gewesen sein.

Eine der Hauptfiguren aß Gurken aus einem Glas. (Es war die Vorbereitung für die Enthüllung ihrer Schwangerschaft, zwei Folgen später.) Zafer hatte gerade den Schriftzug der Gurkenherstellerfirma getilgt und stattdessen eine weitere Gurke hineingeschmuggelt, die durch das Glas hindurchschien – in Flüssigkeit – ganz schwierig, vor allem wegen der Lichtbrechung –, als er plötzlich eine Idee hatte. Das Glas stand die restliche Szene über unbeachtet rechts hinten auf dem Küchenbord und er gab seiner neu erschaffenen Gurke Augen, einen Mund und ließ sie schließlich mit zwei kleinen Flügeln schlagen.

Zafer schickte die Szene zurück und wartete den ganzen Tag auf eine Reaktion. Unwahrscheinlich, dass sie den neuen Statisten im Hintergrund nicht bemerkten. Hatten sie Humor? Wohl eher nicht, denn diese Soap war, soweit Zafer das beurteilen konnte, eine todernste Angelegenheit und noch dazu handelte es sich bei dieser Szene um den Cliffhanger.

Er wartete. Einen Tag, zwei Tage. Doch es kam nichts zurück. Eine Woche später hatte er das Geld auf dem Konto. Keinem schien die Flügel schlagende Gurke aufgefallen zu sein und Zafer fühlte eine angenehme Aufregung in sich aufsteigen. Er hatte nicht nur retuschiert, er hatte etwas hinterlassen, er, Zafer, hatte sich für eine Sekunde, 25 Frames, in der wirklichen Welt sichtbar gemacht.

Er speicherte die Gurke auf einer externen Festplatte, die auch andere derartige Kreaturen beherbergte. Monster. Kleine und große, komische und solche, denen man lieber nicht begegnen würde. Es war ein ganzer Zoo von Geschöpfen, darunter Drachen, fleischfressende Pflanzen und riesige Insektenwesen.

Nachdem die Sache mit der Gurke unentdeckt blieb, fasste Zafer Mut und fügte seine Kreaturen noch anderen Szenen hinzu. Dabei ging er äußerst vorsichtig vor. Mal ließ er einen Reptilienschwanz aus einem Cocktailglas hängen, dann tauchte plötzlich ein lederner Flügel aus einer Kleenexschachtel auf. Besonders stolz war Zafer auf einen Drachenkopf, den er auf ein Familienfoto im Hintergrund montierte. Um sich nicht verdächtig zu machen, achtete er genau darauf, seine Geschöpfe gleichmäßig zu verteilen und zwischen ihren einzelnen Hintergrundauftritten ein paar Folgen verstreichen zu lassen.

Obwohl er froh darüber war, dass seine Aktivitäten seinen Auftraggebern bisher verborgen geblieben waren, begann er sich im Stillen zu ärgern, dass sie sonst von noch niemandem bemerkt worden waren. Er fing an, die Internetforen zu Wahre Liebe zu durchstöbern, aber niemand schrieb etwas über ungewöhnliche Figuren im Hintergrund. Nur eine »stupsi21« postete etwas von einem »irgendwie putzigen« Familienbild und hüpfende gelbe Smileys mit allen Gesichtausdrücken unterstrichen ihren Post.

So verbrachte Zafer den Herbst. Nachdem ihm klar wurde, dass er nun zwar sichtbar war, aber trotzdem niemandem auffiel, hatte er das Gefühl, wieder in die Dämmerung zurückzufallen. Er gehörte dem Zwielicht und war ohne Schatten.

...


Margit Ruile lernte das Geschichtenerzählen zuerst beim Film. Sie studierte und lehrte an der Münchner Filmhochschule, drehte Dokumentationen und arbeitete als Drehbuchlektorin. Später fand sie dann heraus, dass Schreiben sich anfühlt wie im Schneideraum zu sitzen - mit dem riesengroßen Vorteil, dass man die fehlenden Szenen nicht nachdrehen muss, sondern einfach erfinden kann.



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