E-Book, Deutsch, Band 3, 320 Seiten
Runcie Das Problem des Bösen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-455-00062-7
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sidney Chambers ermittelt
E-Book, Deutsch, Band 3, 320 Seiten
Reihe: Die Grantchester Mysteries Reihe
ISBN: 978-3-455-00062-7
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
James Runcie, geboren 1959, ist ein britischer Autor, Fernsehproduzent, Theaterregisseur, Dokumentarfilmmacher und seit 2009 Intendant des Bath Literature Festivals. Sein Vater war Erzbischof von Canterbury, aber nicht detektivisch tätig. Runcie lebt mit seiner Frau in Edinburgh. Einige der Geschichten um Sidney Chambers wurden für das britische Fernsehen verfilmt. Im Atlantik Verlag erschien zuletzt Die Vergebung der Sünden(2019).
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
Widmung
Motto
Das Problem des Bösen
Weiblich, nackt
Der nasse Tod
Weihnachten 1963
Über James Runcie
Impressum
Weiblich, nackt
Es war ein Mittag im Oktober, und Sidney wartete in den oberen Galerien des Fitzwilliam Museums in Cambridge auf seine gute Freundin, die Kunsthistorikerin Amanda Kendall. Sie hatten vereinbart, sich ein neu erworbenes Gemälde von Matisse, , anzusehen und danach im Bleu Blanc Rouge gemütlich zu Mittag zu essen. Am Nachmittag hatte Amanda einen Termin mit dem Direktor des Museums, um zu bestätigen, dass das Porträt William Fitzwilliams, des Earls von Southampton, lediglich »nach« Hans Holbein dem Jüngeren gemalt worden war und daher erheblich weniger wertvoll, als das Museum gehofft hatte. Dies könnte das Renommee der Sammlung schmälern, würde aber zumindest die Versicherungsprämie senken.
Es war lange her, dass Sidney das letzte Mal im Museum gewesen war, und er hatte ganz vergessen, dass das Fitzwilliam Kunstwerke beherbergte, die weitaus beeindruckender waren, als viele sich vorstellten. Es gab hier Gemälde von venezianischen Renaissance-Künstlern, eine herausragende Sammlung von Landschaftsbildern sämtlicher Schulen, eine bemerkenswerte Zusammenstellung von Miniaturporträts britischer Künstler und eine beachtliche Anzahl französischer Impressionisten, die ihm wie alte Freunde vorkamen: eine in verwaschenem Lila gehaltene Frühlingsszene von Monet, ein schlichter Teller mit Äpfeln von Cézanne und ein Frauenporträt von Matisse, , das ihn jedes Mal an Amanda erinnerte. Ihm fiel auf, dass es sich stets lohnte, bedeutende Gemälde immer wieder zu betrachten. Wie ein klassisches Werk der Literatur oder ein Shakespeare-Stück boten sie Raum für verschiedene Interpretationen. Was in der Kunst zählte, war nicht die spontane Wirkung, sondern der Nachklang.
Diesen Herbst gab es eine Sonderausstellung weiblicher Akte mit Werken von Rodin, Whistler, Burne-Jones und Augustus John. Während er auf seine Freundin wartete, stellte sich Sidney vor, wie es wohl wäre, an einer Aktzeichenstunde teilzunehmen. Er würde dabei viel über Geduld, die Kunst der Betrachtung und die menschliche Anatomie lernen. Und er fragte sich, ob sein künstlerischer Blick eher der eines Geistlichen oder eines Detektivs wäre. Doch vielleicht könnte er, wie in Henry James’ berühmtem Ausspruch, versuchen, jemand zu sein, »an dem nichts verloren gegangen ist«.
Er war gerade stehen geblieben, um sich zwei Studien eines weiblichen Akts von Eric Gill näher anzusehen, als er jemanden singen hörte.
Es war eine weibliche Stimme; sie klang hoch und zart zugleich.
Mon amant me délaisse
Ô gué, vive la rose!
Je ne sais pas pourquoi
Vive la rose et le lilas!
Er wandte sich um und sah, wie eine junge blonde Frau ihren Pelzmantel aufknöpfte und darunter ihre Nacktheit offenbarte. Sie drapierte den Mantel über ihre rechte Schulter und ging, noch immer singend, langsam im Raum umher.
Il va-t-en voir une autre,
Ô gué, vive la rose!
Qu’est plus riche que moi
Vive la rose et le lilas!
Ein Wächter rief ihr zu: »Hören Sie auf damit. Ziehen Sie sich wieder an, Madam.«
Doch die junge Frau fuhr fort:
On dit qu’elle est fort belle,
Ô gué, vive la rose!
Je n’en disconviens pas
Vive la rose et le lilas!
On dit qu’elle est malade
Ô gué, vive la rose!
Der Wächter rief um Hilfe. »Omari! Komm her, schnell!«
Irritierte Besucher aus den umliegenden Museumsräumen wurden von der Stimme der Frau angelockt.
Peut-être qu’elle en mourra
Vive la rose et le lilas!
Si elle meurt dimanche
Ô gué, vive la rose!
Lundi on l’enterrera
Vive la rose et le lilas!
Sie umrundete zweimal den Raum.
Mardi il r’viendra m’voir
Ô gué, vive la rose!
Mais je n’en voudrai pas
Vive la rose et le lilas!
Dann verließ sie den Saal, den Pelzmantel noch immer über der Schulter, und war verschwunden.
Sidney versuchte gerade, sich wieder zu sammeln, als Amanda zu ihm stieß. »Was ist los?«, fragte sie. »Du blickst drein, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Sie war schöner als jedes Gespenst – ein Wesen aus einer anderen Welt …«
»Wer?«
»War es ein Wachtraum oder ein Phantom?«
»Wovon redest du?«
»Wache, schlafe ich?«
Amanda war verärgert, dass ihr Freund so abwesend war. »Reiß dich zusammen, Sidney.«
Dazu war er nicht imstande. »Tut mir leid. Ich habe gerade etwas ganz Außerordentliches erlebt. Eine wunderschöne Frau, die durch den Raum glitt, ja regelrecht schwebte …«
»Hör auf. Es ist ziemlich unanständig, einer Frau hinterherzuschmachten, wenn gerade eine andere anwesend ist. Außerdem bist du ein verheirateter Mann. Was ist, führst du mich jetzt zum Mittagessen aus oder nicht?«
Erst nachdem die Kellnerin im Bleu Blanc Rouge ihre Bestellung aufgenommen hatte – Schweineschnitzel mit Pilzen –, war Sidney so weit gefasst, dass er Amanda erklären konnte, was ihn derart aufgewühlt hatte. Amanda hörte ihm so aufmerksam wie nur möglich zu, gestand ihm jedoch, sich nicht konzentrieren zu können, da sie ihm unbedingt erzählen müsse, dass sie kürzlich mit Kronanwalt Gerald Gardiner diniert habe, dem Verteidiger in dem berühmt-berüchtigten Gerichtsprozess um den Roman .
»So ein kluger Mann«, begann sie. »Ich wünschte, ich wäre ihm früher begegnet.«
»Ist er nicht schon über sechzig?«
»Ich glaube, ich bevorzuge reife Männer. Die sind gefestigter, charmanter, und ich kann in der Regel sicher sein, dass sie nicht hinter meinem Geld her sind.«
Sidney versuchte, das Gespräch zurück auf die junge Frau im Museum zu lenken. Könnte es eine Art modernes »Happening« gewesen sein, überlegte er, oder steckte etwas Unheilvolleres dahinter?
»Ehrlich, Sidney, ich weiß nicht, weshalb dich das so beschäftigt. Manche Frauen stellen sich einfach gern zur Schau.«
»Ich glaube, sie war Französin.«
»Na also, da hast du’s.«
»Nicht alle Französinnen sind Exhibitionistinnen.«
»Warst du schon mal in Saint-Tropez?«, fragte Amanda.
»Nein, natürlich nicht.«
»Na, da wimmelt es jedenfalls von solchen Frauen, das kann ich dir sagen. Hatte sie die Achseln rasiert?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Sidney hilflos. »Ich habe nicht hingesehen.«
»Unsinn.«
»Es war peinlich, Amanda. Aber auf eine seltsame Art auch mutig. Ich frage mich, was eine Frau dazu bringt, so etwas zu tun?«
»Ich bin mir sicher, sie würde es dir sagen, solltest du jemals die Gelegenheit bekommen, sie zu fragen. War sie dunkelhaarig oder blond?«
»Blond.«
»Ihre natürliche Haarfarbe?«
»Ja, Amanda, sie war aschblond.«
»Deshalb sind dir wahrscheinlich ihre Achselhaare auch nicht aufgefallen. Isst du deine Pilze nicht?«
»Der Schauplatz war offensichtlich mit Bedacht gewählt. Eine Ausstellung von Aktgemälden.«
»Vielleicht war es eine Art politischer Protest, oder sie wollte auf den Unterschied zwischen der Kunst und dem Leben hinweisen, zwischen Realität und Vorstellung, zwischen Nacktheit und Akt? Davon hat Kenneth Clark ununterbrochen geredet, als ich Studentin war.«
»Ich kann mir vorstellen, dass die männlichen Studenten dieses auf das Wesentliche konzentrierte Studium genossen haben?«
»Natürlich, zumindest die, die nicht vom anderen Ufer waren. Wovon es übrigens genau drei gab. Ich war mal in einer Vorlesung, in der Clark erklärt hat, ›Nacktheit‹ sei der ungeschönte Körper, der voller Scham betrachtet werde, wohingegen ein ›Akt‹ ein zur Kunst geformter Körper sei – ein verfeinertes Bild, ausgewogen, blühend und selbstbewusst. Meinst du, deine neue Freundin war nur nackt oder schon ein Akt?«
»Irgendwas dazwischen, würde ich sagen. Allerdings ist sie wohl kaum meine Freundin.«
Sie warteten darauf, dass die Mousse au Chocolat serviert wurde, als Inspector Keating eintraf. »Endlich«, sagte er. »Ich habe schon überall nach dir gesucht. Am Ende musste ich Hildegard anrufen.«
Amanda war amüsiert. »Normalerweise sind wir es, die nach Ihnen suchen müssen, Inspector.«
»Nun, diesmal ist es umgekehrt, Miss Kendall. Ich hörte, Sie haben einen Termin mit dem Direktor des Fitzwilliam?«
»Ja, um drei Uhr«, erwiderte Amanda.
»Er könnte sich verspäten.«
»Und aus welchem Grund?«
»Aus dem Grund, dass ein Gemälde aus dem Museum gestohlen wurde.«
»Wie bitte?«
Der Inspector wandte sich an seinen Freund. »Sidney, ich glaube, du warst zur Tatzeit dort?«
»Ich weiß nicht …«
»Es passierte, während irgendeine französische Mademoiselle eine peinliche Show abzog. Aber das war nur ein Ablenkungsmanöver, damit sich der Dieb zwei Räume weiter einen Sickert schnappen konnte.«
»Eine seltsame Wahl«, sagte Amanda. »Für einen Matisse würde man mehr kriegen.«
»Möglich. Aber das Ganze kann kein Zufall sein, das Mädchen und der Dieb müssen unter einer Decke gesteckt haben. Und du, Sidney, warst dabei.«
»Nicht bei dem Diebstahl.«
»Ich will trotzdem, dass du mir genau erzählst, was passiert ist. Und Sie, Miss Kendall, möchte ich bitten, dem Direktor ganz beiläufig ein paar Fragen zu stellen. Ist er wirklich der, der zu sein er vorgibt? Weiß er vielleicht mehr, als er sagt? Ich werde Sie auf dem Weg zum Museum instruieren.«
»Haben Sie schon mit den Wachleuten gesprochen?«, fragte Amanda. »Meistens sind Angestellte in solche Fälle...