E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Ryan Behalte das für dich!
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7348-0431-1
Verlag: Magellan Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Young Adult Murder Mystery - fesselnd bis zur letzten Seite
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-7348-0431-1
Verlag: Magellan Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tom Ryan ist Autor zahlreicher Kinder- und Jugendbücher, für die er schon viele Auszeichnungen erhalten hat. Die Lebenswelten queerer Teenager spielen in seinen Büchern eine wichtige Rolle. Sein Jugendroman Radio Silent - Melde dich, wenn du das hörst wurde mit dem Lambda Award for Best LGBTQ Mystery ausgezeichnet. Er lebt mit Mann und Hund in Nova Scotia, Kanada.
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EINS
Um ehrlich zu sein, hatte ich gar nicht damit gerechnet, dass jemand kommen würde, doch als ich das Ende des von Gagelgestrüpp und Wildrosen zugewucherten Pfads erreiche und unseren Aussichtspunkt vor mir sehe, ist Ben schon da.
Er hat sich nicht umgezogen seit der Zeugnisverleihung, sondern trägt immer noch Khakihose und Hemd. Nur die Krawatte hat er gelockert, sodass sie ihm wie eine Schlinge um den Hals hängt. Sein Fahrrad liegt im Gras. Er sitzt auf der Granitklippe, hinter der es steil abwärtsgeht, und lässt die Beine über die Kante baumeln. Als ich mich nähere, dreht er sich um und winkt.
»Hey.«
»Hey.« Ich lächele und versuche, mich möglichst normal zu geben, so als würden wir uns noch immer jeden Tag hier treffen. Als würden wir uns überhaupt noch treffen.
»Du konntest dich also loseisen«, sagt er.
»Ja, nach ’ner Ewigkeit«, stöhne ich. »Meine Eltern haben mich mit meinen Großeltern ins Restaurant geschleppt. Ich dachte echt, die werden nie fertig.«
Ben lässt ein abgehacktes Lachen hören, ein einzelnes »Ha!«, das sofort leblos zu Boden plumpst.
»Meine Eltern können sich nicht mal im selben Raum aufhalten«, entgegnet er. »Die haben sich noch auf dem Schulparkplatz drüber gezofft, wer mich zum Essen ausführen darf, da bin ich lieber direkt abgehauen und hergekommen.«
»So lange wartest du schon?«, frage ich überrascht. Die Feier ist seit über zwei Stunden vorbei.
Er zuckt mit den Schultern. »Ist doch schön hier.«
Ungeschickt klettere ich neben ihn und wir blicken gemeinsam raus aufs Wasser. Er hat recht – es ist schön. Besonders an einem strahlenden Juniabend wie heute, während die Sonne langsam in Richtung einer dichten, wie aufgemalt wirkenden Wolkenbank am Horizont sinkt.
Von hier oben hat man Blick auf ganz Camera Cove mit seinen bunten Holzhäuschen, den urigen Läden und Restaurants im Stadtzentrum, dem schlanken Rathausturm und der Promenade bis zu den zerklüfteten, von Höhlen durchzogenen Felsen am Ende des Sandstrands.
Die reinste Postkartenidylle, könnte man meinen. Und genau die war es ja auch – bis letzten Sommer.
»Hey, Leute.«
Wir drehen uns um. Hinter uns hat sich wie aus dem Nichts Doris materialisiert. Sie gehört zu den Leuten, die heute noch genauso aussehen wie als kleines Kind und es wahrscheinlich auch mit achtzig noch werden. Schnittlauchglattes, schulterlanges schwarzes Haar, akkurat geschnittener Pony, Schildpattbrille, stabile Leinenumhängetasche. Jedes Kleidungsstück sauber und gebügelt, makellos.
»Glückwunsch. Oder sollte ich lieber sagen: ›Jeder Abschluss ist ein neuer Anfang‹?«, äfft sie ziemlich gekonnt Anna Silver nach, die als Jahrgangsbeste vorhin die Rede gehalten hat. »Alter, war das kitschig. Ich hab fast ’nen Zuckerschock bekommen.«
Noch so etwas, das sich an Doris wohl nie ändern wird: ihr Hang zum Sarkasmus. Hinter der braven, geordneten Fassade lauern massenweise Stacheldraht und scharfe Kanten. Ich kenne sie seit unserer Kindheit, aber sie ist und bleibt eine harte Nuss.
»So schlimm war’s ja wohl auch nicht«, wiegelt Ben ab. »Ich finde, sie hat das eigentlich ganz okay gemacht.«
»Nicht dein Ernst! Dieser vergurkte Metaphernsalat von wegen flügge werden und auf eigenen Beinen stehen? Ein Wunder, dass sie nicht auch noch ’ne Ballade geschmettert hat.«
Ich sage nichts. Klar war Annas Rede ein bisschen abgedroschen, aber unter den gegebenen Umständen hätte dieses Jahr wohl jeder seine Schwierigkeiten gehabt, sich was Passendes einfallen zu lassen.
»Bist du gar nicht mit deiner Familie feiern?«, erkundige ich mich stattdessen.
Doris verdreht die Augen. »Als ob. Ich war schon überrascht, dass meine Eltern überhaupt aufgetaucht sind.« Sie deutet auf die Sonne, die jetzt die Wolken berührt. »Anscheinend hab ich’s ja gerade noch rechtzeitig geschafft. Lasst uns loslegen.«
Wir wenden uns alle der uralten, knorrigen Eiche zu, dem einzigen Baum auf der windumtosten Klippe.
»Wollen wir nicht noch auf Carrie warten?«, fragt Ben.
»Ich war mir so sicher, dass sie kommt«, sage ich, dabei stimmt das gar nicht. Ich habe es mir bloß gewünscht. Die Carrie, mit der ich aufgewachsen bin, hätte sich das hier um keinen Preis entgehen lassen, aber seit letztem Sommer haben wir kaum mehr ein Wort miteinander geredet.
Er zuckt mit den Schultern. »Vielleicht lässt sie sich ja noch blicken. Ist immerhin ziemlich wichtig.«
»Wichtig«, schnaubt Doris. »Na klar. Carrie kommt nicht, Leute. Sie hat das mit dem Vergessen einfach besser drauf als wir.«
»Wenn es nicht wichtig ist, was machst du dann hier?«, fragt Ben, untypisch aufgebracht.
Mein Blick wandert zwischen den beiden hin und her, während sie weiterzanken. Vage registriere ich, wie sich das Licht verändert, während die Sonne hinter den Wolken verschwindet. Doris und Ben sind mir so fern, als wären sie Figuren in irgendeinem Film. Kaum zu glauben, dass wir mal beste Freunde waren.
»Ist einfach ein guter Schlussstrich«, erklärt Doris. »Dann kann ich den ganzen Kram endlich hinter mir lassen. Ich hab’s so satt, ständig darüber nachzugrübeln und zu wissen, dass alle anderen dasselbe machen. Ich will bereit für Neues sein.«
»Als ob das so leicht wäre«, brummt Ben.
»Es ist kein bisschen leicht.« Jetzt ist es Doris, die aufgebracht klingt. »Aber nun mal nötig. Also, lasst uns endlich anfangen mit unserer kleinen Zeremonie oder was das hier werden soll und die Sache hinter uns bringen.«
Sie marschiert auf die Eiche zu und hockt sich vor den Stamm. Ben und ich folgen ihr.
»Warum bist du hier, Mac?«, will Ben wissen, als wir uns neben Doris knien.
»Weil wir es einander versprochen haben«, antworte ich.
Die beiden wechseln einen Blick. Flüchtig, unwillkürlich und kaum merklich, aber mir fällt es trotzdem auf. Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass sie womöglich nur meinetwegen hier sind. Weil sie Mitleid mit mir haben. Ihrem seltsamen Freund.
Nur dass wir keine Freunde mehr sind. Nicht seit letztem Sommer.
Schweigend starren wir auf das dichte, kräftige Wurzelgeflecht. Es erinnert an eine gekrümmte Klaue, von der man sich nur zu leicht vorstellen kann, wie sie sich tief unter uns in den Boden krallt. Vor uns öffnet sich eine kleine Senke, die mit schwarzer Erde gefüllt ist.
»Wie machen wir’s überhaupt?«, frage ich schließlich. »Darüber hab ich gar nicht richtig nachgedacht. Soll ich kurz nach Hause laufen und einen Spaten holen?«
Doch Doris hat bereits ihre Tasche von der Schulter rutschen lassen und kramt einen großen Gefrierbeutel daraus hervor. Er enthält, sicher verstaut wie ein polizeiliches Beweisstück, eine schlammverkrustete Handschaufel.
»Gehört meiner Mutter«, erklärt sie, während sie den Zipverschluss aufzieht. Dann rammt sie die Schaufel in die Erde und fängt umständlich an zu graben.
»Lass mich mal«, sagt Ben. »Ich hab längere Arme.«
Ohne Einspruch zu erheben, reicht Doris ihm die Schaufel. Schon nach wenigen Sekunden stößt Ben auf etwas Hartes und ein paar weitere Schaufelhübe später greift er ins Loch und zieht einen Metallzylinder heraus.
»Das war jetzt einfacher, als ich dachte«, merke ich an.
»Wir haben das Ding damals ja auch nicht tief verbuddelt«, erwidert Doris. »Hat außer uns doch eh keinen interessiert.«
Ben trägt seinen Fund rüber zur Kante und wir setzen uns drum herum: Es ist eine alte Thermosflasche aus Edelstahl.
»Du machst den Zeremonienmeister, Mac«, bestimmt Doris. »Das Ganze war schließlich deine Idee.«
Ich greife nach der Flasche. Sie ist leichter, als sie aussieht. Nach kurzem Zögern wische ich mit meinem Hoodieärmel etwas von der Erde ab, die sie wie eine Haut überzieht. Das Metall spiegelt trübe den Sonnenuntergang wider. Dann gucke ich hoch, zuerst nach links, zu Doris, dann nach rechts, zu Ben. Die beiden erwidern erwartungsvoll meinen Blick, und in diesem merkwürdigen Licht wirken sie beinahe surreal – wie vertraute Gesichter, durch Buntglas betrachtet.
Ich fange an, den Deckel abzuschrauben. Es knirscht und dann geht die Flasche auf.
Ganz oben liegt ein zusammengefaltetes Stück Papier. Ich ziehe es raus, falte es auseinander und lese vor, was in meiner schörkeligen Achtklässlerschrift darauf geschrieben steht.
An diesem unserem letzten Tage an der Junior Highschool vergraben wir, die Unterzeichneten, diese Zeitkapsel.
»Das war wohl...




