E-Book, Deutsch, Band 2, 448 Seiten
Reihe: Map of Magic - Weltensegler
Ryan / Davis Map of Magic – Das Mysterium der sinkenden Stadt (Bd. 2)
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7336-5136-7
Verlag: FISCHER Sauerländer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2, 448 Seiten
Reihe: Map of Magic - Weltensegler
ISBN: 978-3-7336-5136-7
Verlag: FISCHER Sauerländer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Carrie Ryan lebt zusammen mit ihrem Mann John Parke Davis, zwei dicken Katzen und einem störrischen Hund in North Carolina, USA. Beide haben Jura studiert, bevor sie ihre Leidenschaft für Geschichten entdeckten und nun Romane und Kurzgeschichten schreiben. Carrie Ryans Debütroman stand wochenlang auf der New York Yimes-Bestsellerliste.
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Kapitel 1 Die Nachricht auf dem Stoppschild
Karnelius J. Mausington gehörte nicht zu den Katzen, die sich so einfach ignorieren ließen. Er zog an seiner Leine, die sich daraufhin fester um Marrills Arm wickelte und sie aus ihren Gedanken riss. Marrill machte eine ungeduldige Handbewegung. Karni sollte Ruhe geben. Ihr Blick blieb unverwandt auf die drei kleinen Jungs gerichtet, die vor ihr standen. Der Kleinste von ihnen hielt einen Gegenstand in der Hand, den es eigentlich gar nicht gab.
Zumindest nicht in Welt.
»So was hab ich noch nie gesehen«, sagte Tim und gab ihn ihr. Dabei wurde er rot.
Marrill musste das Zittern ihrer Finger unterdrücken, als sie den Gegenstand in ihren Händen wendete. Es handelte sich um eine Art Netz oder besser um eine Art Spinnwebe aus Seifenfilm, die mit einem einzelnen Faden an einem dünnen Stab aus Glas befestigt war. Das Gebilde wirkte so zart, dass sie fürchtete, es könnte sich auflösen, wenn sie es zu fest anfasste. Dabei hielt es sogar der Gewalt eines Hurrikans stand, hatte Fin einmal gesagt.
Die Hatch-Jungs blickten erwartungsvoll zu ihr auf. Sie hatten Marrill an diesem Tag schon zum dritten Mal zu dem leeren Grundstück am Rand der Wohnsiedlung gerufen, weil sie angeblich die bei der jüngsten Überschwemmung angespülten Schätze von Atlantis gefunden hatten. Bisher hatten diese »Schätze« allerdings nur aus der Hälfte eines alten Reifens, zwei Glasflaschen und einem Stein bestanden, der zwar stärker glänzte als andere Steine, aber auch wieder nicht so viel stärker.
Meist dachte Marrill sich für die Jungs eine entsprechende Geschichte aus – dass der alte Knochen einer Kuh in Wirklichkeit von einem Drachenbaby stammte oder eine verrostete Kaffeedose der Antrieb eines abgestürzten außerirdischen Raumschiffs war.
Diesmal brauchte sie nichts zu erfinden.
»Das ist ein Wolkenfängernetz«, erklärte sie.
Sie kaute auf ihrer Lippe. Auf dem Piratenstrom wäre ein solcher Fund nichts Ungewöhnliches. Im Gerümpelturm des Griesgrams in der Eiswüste hatte sie einen ganzen Haufen davon entdeckt.
Der Piratenstrom war allerdings auch ein mit reiner Magie gefüllter, endloser Fluss voller phantastischer magischer Gegenstände und verrückter magischer Orte. Aber hier war Arizona – und wohl kein anderer Ort hatte so wenig mit Magie zu tun. Entsprechend selten waren Wolkenfängernetze.
Marrill starrte das Gespinst an, und eine unbehagliche Mischung aus Aufregung, Furcht und Verwirrung stieg in ihr auf. »Wo genau habt ihr das gefunden?«, fragte sie.
»Unten in der Schlucht. Da liegen jede Menge tolle Sachen rum. Komm, wir zeigen sie dir!« Der mittlere Hatch marschierte über das leere Grundstück, dicht gefolgt von seinen Brüdern.
Es hatte erst vor ein paar Stunden geregnet, für Wüstenverhältnisse eine Menge, und der Boden war noch mit Pfützen übersät. Marrill nahm Karnelius auf den Arm und eilte den anderen über die feuchte Erde nach.
Die fragliche »Schlucht« war in Wirklichkeit eher ein großer, tiefer Graben, der am Ende des Grundstücks entlangführte und in einen schmalen Abzugskanal unter der Straße mündete. Meist war er knochentrocken, doch nach dem morgendlichen Regen schlängelte sich als letzter Rest der Überschwemmung ein dünnes Rinnsal über den Boden.
Die Hatch-Brüder führten Marrill zu einigen rostigen Metalltrümmern, die sich am Eingang des Kanals quergestellt hatten. Ted streckte die Hand aus. »Dort haben wir es gefunden. Sieh mal, was da noch alles ist!«
»Hm …« Marrill setzte Karni ab, ohne seinen Protest zu beachten, und stocherte vorsichtig in dem Metallschrott. Was sie entdeckte, verwirrte sie noch mehr: einen gesprungenen Schild gegen Albträume, der immer noch die Zähne bleckte, um die bösen Träume fernzuhalten; eine abgebrochene Angelrute, in die eine Möggelkrabbe geschnitzt war, und einen Gegenstand, der verdächtig wie ein Hoffnungskristall aussah. Alles Dinge, die es nur auf dem Piratenstrom gab.
Marrill begann, tiefer zu wühlen, und ihr Herz schlug schneller. Ein Klumpen, der aussah wie der wabbelige Schirm einer Qualle, rutschte zur Seite und plumpste hinunter, und darunter kam die untere Hälfte eines eingedellten Stoppschilds zum Vorschein, das sich im Kanal verkantet hatte. Das Schild trug eine Aufschrift in dicken, schwarzen Buchstaben:
Du wirst auf dem Piratenstrom gebraucht, Marrill
»Was um alles in der Welt …« Sie räumte einen sperrigen Ast zur Seite, zog das Schild heraus und las den Text noch einmal. Dann drehte sie es um. Auf die Rückseite hatte jemand mit denselben dicken, schwarzen Strichen ein Bild gezeichnet: einige gezackte Dreiecke in einem Kreis und darunter einen Drachen.
Marrill spürte einen Knoten im Magen. Jemand hatte ihr eine Botschaft geschickt: Sie wurde auf dem Piratenstrom gebraucht!
Aber sie konnte nicht zum Strom zurückkehren, das hatte Ardent ihr beim Abschied klargemacht. In ihrer Welt gab es Regeln, in der Zauberwelt des Stroms hingegen keine. Zu viel Kontakt zwischen den beiden Welten konnte ihre Welt zerstören.
Marrill schluckte. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie musste an Ardents letzte Worte denken. Der Zauberer hatte todernst geklungen.
»Was ist der Piratenstrom?«, fragte Tim und blickte ihr über die Schulter. »Kennst du Piraten? Von denen musst du uns erzählen.«
Marrill schüttelte langsam den Kopf. »Äh, nein … das ist nur eine Nachricht von Remy.« Sie sagte einfach den ersten Namen, der ihr einfiel.
»Deine Babysitterin schickt dir eine Nachricht auf einem Stoppschild?«, fragte Tom.
Marrill lachte, aber es klang künstlich. »Ich weiß schon, sie ist manchmal ziemlich schräg drauf! Aber sie will mich nur an meine Hausaufgaben erinnern. Über Piraten.«
Sie klemmte sich das sperrige Schild mit einiger Mühe unter den Arm und zog mit der freien Hand an Karnis Leine. Doch der war inzwischen im Tunnel verschwunden, um sich dort umzusehen. »Komm schon, Tigerchen«, rief sie in das dunkle Loch und zog erneut.
Die einzige Antwort war ein tiefes Knurren. Marrill seufzte, legte das Schild weg, kniete sich hin und kroch in den Tunnel, um den Kater zu holen.
Die Schwärze dort überraschte sie. Es war so dunkel, dass sie kaum Karnis Umrisse vor sich erkennen konnte. Er hatte Schwanz- und Nackenhaare gesträubt und fauchte.
Eine Gänsehaut überlief Marrill. Etwas stimmte hier nicht.
»Karni?«, flüsterte sie. Vorsichtig legte sie ihm die Hand auf den Rücken. »Alles okay?«
Da ertönte plötzlich die Stimme einer Frau – so laut und nah, dass Marrill zusammenzuckte. »Die Eiserne Flut kommt. Ihr müsst sie aufhalten! Haltet die Ei– MMMPFFF!«
Karni drückte sich ab und sprang. Es folgte ein kurzer Kampf mit einem Wesen, das Marrill nicht sehen konnte. Dann Stille.
»Hallo?«, flüsterte Marrill.
Ein unbestimmter Laut antwortete ihr, dann streifte Fell an ihrem Handgelenk vorbei. Fell und etwas Kaltes. Sie packte Karni am Nacken, hob ihn hoch und schleppte ihn nach draußen ins Licht.
Karni hing schlaff an ihrem Arm und starrte sie mit seinem einen Auge böse an. In seinem Maul hing genauso schlaff ein aufgedunsenes, weißbraunes Geschöpf.
»Igitt, ein Frosch!«, rief einer der Hatch-Jungs.
Es handelte sich tatsächlich um einen Frosch. Sein dicker, weißer Bauch glänzte und zeigte in der Mitte ein seltsames Muster aus schwarzen Linien.
»Ach, Karni«, seufzte Marrill. Sie befreite das arme Tier aus dem Maul des Katers und hoffte gegen alle Wahrscheinlichkeit, dass es nicht schwer verletzt war und sie ihm helfen konnte.
»Wer war da drin?«, fragte ein anderer Hatch. Bei dem Gedanken an die Stimme überlief Marrill ein Schauder, und sie blickte zu der Kanalöffnung zurück. Vielleicht war da ja noch jemand drinnen. Gesehen hatte sie allerdings niemanden.
Doch lag etwas Vertrautes in der Luft, ein salziger, belebender Geruch und das Gefühl, dass alles möglich sei. Eine plötzliche Sehnsucht stieg in ihr auf. Was sie roch, war der Piratenstrom – der Geruch von Magie.
»Niemand«, erwiderte sie. »Ich habe nur Karni angeschrien.«
Sie nahm das Stoppschild und Karnis Leine in die eine Hand und behielt den Frosch in der anderen. »Ich glaube, ich muss diesen Burschen verarzten.«
Der jüngste Hatch stellte sich auf die Zehenspitzen, und seine Augen begannen zu leuchten. »Au ja, können wir dir helfen?«
»Äh … hat nicht gerade eure Mutter gerufen?«, fragte Marrill. Der phantastischen Welt des Stroms wollte sie die Hatches lieber nicht aussetzen.
Die Jungs sahen sie enttäuscht an. »Aber jetzt wird es doch gerade erst richtig spannend!«, protestierte der Älteste. Marrill zuckte in gespieltem Mitgefühl die Schultern. Mit hängenden Köpfen stiegen die drei die Böschung hinauf und machten sich auf dem Heimweg.
Auch Marrill ging nach Hause. Der Frosch auf ihrem Handteller zuckte. Sie kannte sich mit Amphibien nicht aus, hatte aber schon einige verletzte Tiere gerettet und verarztet und wusste deshalb, dass sein Bein gebrochen war. »Du Armer«, sagte sie tröstend, »das bringen wir gleich in Ordnung.« Der Frosch öffnete das Maul, um zu quaken, aber kein Laut kam heraus.
Es war gar nicht so einfach, eine wütende Katze, einen verletzten Frosch und ein Stoppschild nach Hause zu tragen, aber irgendwie schaffte Marrill es schließlich doch. So leise wie möglich schlüpfte sie durch die...