E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Saada / Merrill Das Prinzip des Terrors
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-03848-788-3
Verlag: Fontis
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Ex-Sniper Arafats über die dunklen Motive des ISIS und anderer Extremisten, über Abgründe und Alternativen
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-03848-788-3
Verlag: Fontis
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Medien berichten über die tragischen Vorfälle – die Bombenanschläge, die Massaker, die Selbstmordattentate. Die Nachrichtensprecher erklären ausführlich, wer dabei die Beteiligten sind: von der Hisbollah zur al-Quds-Einheit, vom IS zur Palästinensischen Autonomiebehörde. Doch was ist es, das hinter diesen Ereignissen steckt und eine Gräueltat nach der anderen produziert?
Tass Saada gibt darauf Antworten, während er das Prinzip des Terrors erläutert und erklärt, was die Extremistengruppen im ganzen Nahen Osten motiviert und antreibt. Tass kennt als ehemaliger Muslim und Scharfschütze für Arafats Fatah dieses Prinzip nur zu gut. Er hat selbst danach gelebt. Doch im Alter von 42 Jahren hat er in seinem Leben eine völlig neue Richtung eingeschlagen. Tass beschreibt nicht nur die Motive und Ziele der islamischen Terroristen, er weist auch auf eine mögliche friedliche Lösung hin. Wir können Samen der Hoffnung pflanzen, die nicht nur den Nahen Osten, sondern auch die wegen der vielen Flüchtlinge immer internationaler werdenden Orte unserer Heimat verändern.
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Kapitel 2
Ehre und Schande: Eine andere Denkweise
Wenn Sie in einer westlichen Gesellschaft leben, werden Sie sich selbst tendenziell hauptsächlich als begreifen. Von klein auf haben Sie verbreitete Redewendungen gehört wie «Du musst auf deinen eigenen Füßen stehen»; «Sei ein eigenständiger Mensch»; «Kümmere dich nicht darum, was andere über dich sagen»; «Jeder ist seines Glückes Schmied»; «Auf deinem Schiff bist du der Kapitän».
Wenn Angehörige oder Nachbarn etwas nicht gut finden, was Sie tun, dann ist das deren Problem, sagen Sie sich. Sie müssen sich an Ihre eigene Richtschnur halten.
Wenn ein Amerikaner, ein Deutscher oder ein Australier eine gesetzwidrige Handlung begeht, dann verlangt die Gesellschaft, dass diese Person festgenommen und vor Gericht gestellt wird, um bestraft zu werden. Ansonsten soll man die Leute in Ruhe lassen – jeder ist unschuldig, bis seine Schuld erwiesen ist.
Die Macht der Gruppe
Ich habe eine Neuigkeit für Sie: Im größten Teil der Welt läuft das ganz anders. Auf jeden Fall in der islamischen Welt. Ja, es gibt geschriebene Gesetze, an die man sich halten muss – aber tief in ihrem Innern sind die Leute nicht individualistisch; sie sind Sie sehen sich selbst als Teile von größeren Gruppierungen – der Familie, des Dorfes, des Stammes, der (das arabische Wort für die weltweite Gemeinschaft der Anhänger des Islams). Wie die Gruppe eine Person sieht, ist von höchster Wichtigkeit.
Deshalb liegt das Kontinuum, das die Menschen in jedem wachen Moment im Bewusstsein haben, nicht in erster Linie zwischen Schuld und Unschuld, sondern vielmehr zwischen Ehre und Schande. Mache ich meiner Gruppe Ehre? Was denken die Leute jetzt von mir? Bin ich ein angesehenes Mitglied? Habe ich irgendetwas getan, was meine Leute in Verlegenheit bringt? Kann ich erhobenen Hauptes meinen Eltern, meinen Großeltern, den Ältesten meiner Gemeinschaft, dem Imam in meiner Moschee unter die Augen treten?
Wenn ein Mitglied meiner Gruppe schlecht behandelt worden ist, ist es meine Pflicht, ihm Ehre zu erweisen, indem ich Maßnahmen zu seiner Verteidigung ergreife. Wenn jemand in meiner Gruppe sich illoyal verhalten hat, so muss ich ihn mit Schimpf und Schande dafür bestrafen.
Hier ist ein Beispiel: Als ich im Alter von zweiundvierzig Jahren in Kansas City (Missouri) Jasua (Jesus) als das wahre Wort Gottes annahm und ihm mein Leben anvertraute, da sagte meine Familie in Katar, zwölftausend Kilometer weit weg, nicht etwa: «Nun, er ist ein erwachsener Mann; lasst ihn tun, was er will» (individuelle Autonomie).
Sie sagte auch nicht: «Tass, du bist im Irrtum. Du hast eine falsche Religion angenommen» (intellektueller Widerspruch).
Sie sagte nicht: «Dafür wirst du in der Hölle schmoren» (praktische Konsequenz).
Nein, sie sagte sinngemäß: «Du hast unsere Familie entehrt! Du hast uns alle in Verlegenheit gebracht. Du hast der ganzen Familie Abu Saada Schande gemacht. Wir sind entsetzt darüber, wie du unseren Namen besudelt hast.»
Ich hatte ihnen einen sorgfältig formulierten Brief geschickt – handgeschrieben, sieben Seiten lang –, um ihnen zu erklären, was Gott in meinem Herzen und meinem Leben tat. Die postwendende Antwort meiner Familie war dreimal so lang – einundzwanzig Seiten, geschrieben von einem meiner Brüder im Namen der ganzen Gruppe. Der Inhalt lautete sinngemäß: «Du bist verrückt. Wenn du nicht sofort zum Islam zurückkehrst, bringen wir dich bei der ersten Gelegenheit um.»
Daraufhin rief ich meinen Vater an und versuchte, vernünftig mit ihm zu reden. Ich gab zu, dass ich während der letzten neunzehn Jahre, seit ich in Amerika lebte, so ziemlich jede Sünde begangen hatte, die man sich in irgendeiner Religion vorstellen kann. Ich hatte zügellos gelebt. Ich hatte Alkohol getrunken (im Islam ein absolutes Tabu), war ein Schürzenjäger gewesen und hatte meinen Bekannten Leid zugefügt. «Aber jetzt habe ich mich verpflichtet, ein neues Leben anzufangen, mich um meine Frau und meine beiden Kinder zu kümmern und den Armen zu helfen», fügte ich optimistisch hinzu.
Die Antwort meines Vaters war schroff: «Solange du lebst, werden wir nichts mehr mit dir zu tun haben.»
Elf Jahre später hatte ich den Eindruck, ich sollte das Risiko eingehen, zurückzukehren und meine alten Eltern noch einmal zu besuchen. Beide waren inzwischen gesundheitlich angeschlagen. Als ich meinen ältesten Bruder, den Erstgeborenen der Familie, anrief, um ihm meine Flugpläne mitzuteilen, fuhr er mich barsch an: «Du hast offenbar ein schlechtes Gedächtnis, Taysir. Weißt du nicht mehr, dass ich dich umbringen will?» Er und die anderen waren offensichtlich überzeugt davon, sie müssten mein Blut vergießen, um ihre Ehre zurückzugewinnen.
(Wie dieses Drama ausging, können Sie in meiner Autobiografie nachlesen.)
Reinheit oder Tod
Das ist keine extreme oder ungewöhnliche Reaktion in einer Kultur, die auf Ehre und Schande beruht. Wenn ein Mädchen entehrt wird, ist das ein besonders schwerer Schlag für eine arabische Familie. Deshalb entführen und vergewaltigen Terrorgruppen junge Frauen. Sie wissen, dass sie damit ganzen Familien tiefe Wunden zufügen.
Wird ein entführtes Mädchen irgendwie befreit und seiner Familie zurückgegeben, wird es nicht mit offenen Armen empfangen, wie es im Westen der Fall wäre. Die Familie ist entehrt worden. Diese Schande würde sich noch vergrößern, wenn die Tochter wieder aufgenommen würde und unter dem Dach der Familie leben dürfte. Sie ist «beschmutzt» worden. Deshalb glaubt die Familie in vielen Fällen, das Mädchen töten zu müssen, um ihren guten Ruf wiederherzustellen. Die Gruppenehre ist ein höherer Wert als ein individuelles Leben.
Wenn ein Mädchen entehrt wird, ist das ein besonders schwerer Schlag für eine arabische Familie. Deshalb entführen und vergewaltigen Terrorgruppen junge Frauen.
Ich werde nie den Abend der Hochzeit meiner Schwester in Katar vergessen. Ich war sechzehn Jahre alt, und sie heiratete meinen besten Freund. Die Trauung fand in dem großzügigen Haus der Familie des Bräutigams statt und wurde von dem örtlichen Imam vorgenommen. Nachdem die Formalitäten abgeschlossen waren, begann das Fest mit reichlich Essen, Gesang und Gelächter.
Ich war jedoch nervös, denn bald war es Zeit, dass sich das Paar zu seiner ersten (eigentlich Eheschließung; wird aber auch für Ehevollzug verwendet) in ein Schlafzimmer zurückziehen würde, um danach wieder zum Fest zurückzukehren. Dabei würden die Angehörigen des Ehemannes vor der Tür stehen, ebenso wie meine Eltern und mein ältester Bruder. Unglücklicherweise befand sich mein Bruder aber zu seinem ersten Studienjahr in Ägypten, so dass ich als das nächstälteste männliche Familienmitglied für ihn einspringen musste. Mir war das sehr peinlich.
Die Jungfräulichkeit meiner Schwester war absolut obligatorisch – und musste hinterher durch ein Betttuch mit frischem Blut von dem gerissenen Jungfernhäutchen bewiesen werden. Dies ist keine rein islamische Sitte; Sie können das auch schon im Gesetz des Mose nachlesen. In 5. Mose 22,13–21 finden wir die Vorschrift, wenn ein junger Ehemann behauptet, seine Braut sei in ihrer Hochzeitsnacht keine Jungfrau mehr gewesen, sollen ihre Eltern «das Gewand (aus der Hochzeitsnacht) vor den Ältesten der Stadt ausbreiten, dann sollen die Ältesten dieser Stadt den Mann packen und züchtigen lassen. Sie sollen ihm eine Geldbuße von hundert Silberschekel auferlegen und sie dem Vater des Mädchens übergeben, weil der Mann eine unberührte Israelitin in Verruf gebracht hat» (Vers 17–19; Einheitsübersetzung).
Andererseits, «wenn der Vorwurf aber zutrifft, wenn sich keine Beweisstücke für die Unberührtheit des Mädchens beibringen lassen, soll man das Mädchen hinausführen und vor die Tür ihres Vaterhauses bringen. Dann sollen die Männer ihrer Stadt sie steinigen und sie soll sterben, denn sie hat eine Schandtat in Israel begangen, indem sie in ihrem Vaterhaus Unzucht trieb. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen» (Vers 20–21; Einheitsübersetzung).
Genauso galt das in unserer islamischen Kultur auch noch 1967 – nur dass die Tötung, falls sie nötig werden sollte, schneller und effizienter vonstatten gehen würde. Ich starrte an jenem Abend auf die Pistole, die bereits im Hosenbund meines Vaters steckte. Ich wusste, er würde nicht zögern, sie zu benutzen, falls meine Schwester vorgetäuscht hatte, etwas zu sein, was sie nicht war. Meine Mutter und ich würden die offiziellen Zeugen sein.
Aber dann ging eine schreckliche Vorstellung durch meinen jungen Kopf: Was wäre, wenn mein Vater die Waffe geben und mir befehlen würde, die Tat an seiner Statt zu vollbringen? Ich erschauerte bei dem Gedanken. Würde ich seinem Befehl gehorchen können? Ich wusste es nicht. Händeringend stand ich da, während sich die Gedanken in meinem Kopf überschlugen.
Zäh verstrichen die Minuten. Ich gab mir alle Mühe, ruhig zu bleiben. Dann kam mein frischgebackener Schwager aus dem Schlafzimmer und hielt das befleckte Bettlaken empor. Meine Schwester hatte den Test bestanden. Alles war gut. Die Ehre unserer Familie war gewahrt. Ich stieß einen gewaltigen Seufzer der Erleichterung aus. Die Pistole würde heute Abend nicht gebraucht werden.
Gründe für den Hass auf den Westen
Jayson Georges, ein Mann aus dem Westen, der fast ein Jahrzehnt lang in Zentralasien gearbeitet hat und eine Website namens HonorShame.com betreibt, schreibt: «Wer einen [Muslim]...




