Sabbag Stolperherz
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8387-5280-8
Verlag: Boje
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-8387-5280-8
Verlag: Boje
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Sanny kann ihr Glück kaum fassen: Ausgerechnet Greg, der coole Bassist der Schulband Crystal, lädt sie ein, bei der letzten Probe vor den Sommerferien dabei zu sein. Doch es kommt noch besser: Die Jungs fragen sie, ob sie Lust hat, die Band auf ihrer Tour zu begleiten.
Bisher war Sanny immer nur das unscheinbare Mädchen mit dem Stolperherzen, so genannt, weil sie mit einem Herzfehler geboren wurde. Doch Sanny zögert nicht lange - tischt ihrer Mutter kurzerhand eine Lüge auf und steht am nächsten Morgen pünktlich am Treffpunkt. Und einmal unterwegs beginnt für Sanny die aufregendste Zeit ihres Lebens ...
Autoren/Hrsg.
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Where there is desire There is gonna be a flame Where there is a flame Someone’s bound to get burned But just because it burns Doesn’t mean you’re gonna die You’ve gotta get up and try try try Gotta get up and try try try You gotta get up and try try try (Pink, Try) 1. KAPITEL: KIRA Mut: auch Wagemut oder Beherztheit; bedeutet, dass man sich traut und fähig ist, etwas zu wagen. Die Bereitschaft, angesichts eines zu erwartenden Nachteils etwas zu tun, was man für richtig hält. Mut zeigt, wer einer bestehenden Gefahr ins Auge sehend eine Handlung ausführt, obwohl man sich der Gefahr durchaus bewusst ist. Ich klappte den Duden zu und legte ihn neben mich auf das Kopfkissen. Unsere Klassenlehrerin Frau Weinberg hatte mal wieder mit einer ihrer ausgefallenen Ideen für den Deutschunterricht brilliert. »Schreibt einen freien Aufsatz über eines der folgenden Wörter: Liebe, Hass, Wut, Vergebung, Glück oder Mut«, hatte sie erklärt. »Den Aufsatz macht ihr über die Sommerferien fertig und im August lesen alle nacheinander vor, was sie geschrieben haben.« Dann hatte sie uns in Vierer-Gruppen aufgeteilt. Ich war in der Mut-Gruppe. Ausgerechnet. Denn ich war nicht mutig. Noch nie gewesen. »… dass man sich traut, etwas zu wagen«, murmelte ich leise vor mich hin, während ich mich von der Seite auf den Rücken rollte und die Arme hinter meinem Kopf verschränkte. Ich traute mich nie irgendetwas. Ich hatte mich noch nicht mal getraut zu sagen, dass die Mut-Gruppe vielleicht nicht gerade das Richtige für mich war. Ich hatte es versucht, das schon. Aber mein Arm war wie bleiern, als ich aufzeigen wollte, und ich brachte nichts heraus außer einem leisen »Ich, also ich würde ja gern …«. Niemand schien meinen halbherzigen Versuch bemerkt zu haben, kein Wunder, sogar eine Grille in einer lauen Sommernacht, 200 Kilometer von hier entfernt, hätte mich übertönt. Danach hätte ich am besten in die Wut-Gruppe gepasst, so sauer war ich. Und zwar auf mich selbst, denn ich war noch nicht mal in der Lage zu sagen, dass ich gerne gewechselt hätte. Ich befürchtete einfach, dass mir die Stimme versagte. Es war nicht so, dass ich generell Angst vorm Reden hatte, allerdings generell vorm Reden vor Menschengruppen. Immer wenn ich nur daran dachte, dass mehrere Menschen im Raum gleichzeitig meine Lippenbewegungen beobachten würden, um womöglich dem zu folgen, was ich sagte, bekam ich sofort einen Schweißausbruch. Keinen von der Sorte, bei der einem etwas peinlich ist und man davon einen hochroten Kopf kriegt. Eher einer der Art, bei dem der Schweiß kalt ist, so kalt, dass man davon Schüttelfrost bekommt und glaubt, der Raum sei in Sekundenbruchteilen um zehn Grad heruntergekühlt worden. Da Menschengruppen in Schulklassen nun mal zwangsläufig vorkommen, sprach ich wohl oder übel so gut wie nie. Nein, mutig war ich wirklich nicht. Aber wie auch? Meine Mutter Lisa sorgte ja Tag und Nacht dafür, dass ich immer schön vorsichtig war, mich bloß nicht anstrengte oder aufregte. Ich wusste, dass sie es gut meinte, dass sie sich Sorgen machte. »Dein Herz hat öfter mal einen kleinen Kurzschluss«, hatte uns der Kinderarzt damals gesagt, »aber mit ein paar Medikamenten bekommen wir das sicher in den Griff.« Das war jetzt sechs Jahre her und genauso lange war es auch her, dass meine Mutter mich auch nur eine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. Damals hatte sie sofort ihren Halbtagsjob als Bürokraft aufgegeben, um ganz für mich da zu sein. Paps, der immer viel auf Vertriebsreisen war und sich deswegen nicht genügend um mich kümmern konnte, hatte dieser Entscheidung sofort zugestimmt. Seitdem nahm ich Sotalol, ein Medikament, das das Ausströmen von Kalium aus den Herzmuskelzellen verhinderte und so die Erregungsleitung im Herzen verlangsamte, und noch ein paar andere Medis. Die häufig auftretenden, gefährlichen Extraschläge bekamen wir trotzdem nicht immer in den Griff, und an schlechten Tagen konnte es passieren, dass mein Kreislauf schlappmachte. An besseren Tagen wurde mir vom Schwindelgefühl lediglich übel. Richtig gute Tage hatte ich wenige, aber meine Mutter gab die Hoffnung nicht auf, dass ich irgendwann »geheilt« würde. Sie schleppte mich von einem Kardiologen zum nächsten, die ihr alle dasselbe sagten: »Ihre Tochter muss damit leben lernen.« Mein Herz schlug eben nicht in dem Takt, der allen anderen vorgegeben war. Meist schlug es schneller und oft stolperte es. Paps hatte irgendwann angefangen, es »Stolperherz« zu nennen. Das passte allerdings nicht ganz zu der Bedeutung meines Namens – Sanny – die niederländische Interpretation der amerikanischen Sunny, was Sonnenschein bedeutete. Paps war Niederländer und er hatte den Namen damals, höchstwahrscheinlich in hoffnungsvoller Erwartung eines echten Sonnenscheins, ausgesucht. Dass es sich bei seinem Sonnenschein ganz schnell um ein Sorgenkind handeln würde, das hatte er sicher nicht erwartet. Eigentlich hätte ich Sanny van Veen heißen sollen, aber Lisa hatte ihren Mädchennamen Tabor durchgesetzt, was angesichts ihrer universellen Durchschlagskraft ja auch kein Wunder war. »Na, mein kleines Stolperherz«, hatte er gesagt, »das wäre doch gelacht, wenn unsere Sanny nicht mindestens Olympiasiegerin im Vierhundert-Meter-Lauf wird. Oder zumindest im Sprint!« Mittlerweile hatte er wohl eingesehen, dass es mit dem Olympiasieg nichts werden würde, denn ich war kaum in der Lage, einen Spaziergang zu überstehen, ohne aus der Puste zu kommen. Vom Sportunterricht ganz zu schweigen. Ich war oft von diesen Stunden befreit und musste nur die leichteren, weniger anstrengenden Sachen mitmachen. Das Allerschlimmste war immer, am Turnhallenrand zuzusehen, wie die anderen Hallenfußball oder Volleyball spielten, während ich wie ein ausrangiertes, kaputtes Spielzeug in der Ecke saß. In diesen Situationen kam ich mir ganz und gar nutzlos vor, überflüssig, und hätte mich am liebsten einfach in Luft aufgelöst. Mein Herz war zur unsichtbaren Fußfessel geworden, mit der ich immer nur von den Zuschauerplätzen aus auf die Bühne des Lebens schauen konnte, ohne Aussicht auf eine Hauptrolle. Und so hatte ich mich in meiner Statistenrolle eingerichtet und oft war ich auch froh darüber. Es schien niemandem aufzufallen, wenn ich mal wieder einen Tag fehlte, oder früher nach Hause ging. Vor ein paar Jahren, am Anfang der 5. Klasse, hatte Frau Weinberg noch eine Karte gekauft, auf der »Gute Besserung« stand, und auf der alle unterschrieben hatten. Ich war mir sicher, dass einige gar nicht wussten, für wen die Karte überhaupt war. Dazu hatten sie ein großes Glas Fruchtgummi im Krankenhaus abgegeben, mit einer dicken roten Schleife drum herum. An die Schleife konnte ich mich noch genau erinnern, ich hatte sie kurz danach als Gürtel zu Karneval im Bett getragen. Meine Mutter fand nämlich die Idee, auf den Karnevalszug zu gehen, ganz und gar nicht originell. »Viel zu gefährlich! Denk nur an die ganzen Menschenmassen!«, redete sie auf mich ein. Und so blieb ich in meinem Piraten-Outfit mit rotem Gürtel im Bett und aß das Fruchtgummi-Glas halbleer. Ab und zu hatte ich später Besuch bekommen, wenn ich mal wieder ins Krankenhaus musste, und regelmäßig immer wieder neue Untersuchungen gemacht werden sollten. Luzie, meine Sitznachbarin aus der Klasse, kam vorbei, und einmal auch ein Nachbarsmädchen. Aber auch das war schon ein paar Jahre her. Heute kümmerte sich niemand mehr darum, was mit dem komischen Mädchen mit dem kaputten Herz aus der 9b los war. So wurde ich vom ohnehin stillen Mädchen zu einem noch stilleren. Mein Leben war ein einziger Totensonntag. Was also sollte ich, der unmutigste Mensch der Welt, bitte über Mut schreiben? * »Papa kommt heute nach Hause«, sagte meine Mutter und stellte mir meinen Vitamindrink auf den Frühstückstisch. »Super!« Ich nahm einen großen Schluck, während sie mich wachsam musterte. »Dann können wir endlich ins Kino. Ich freu mich schon total auf Iron Man.« Paps liebte Comic-Verfilmungen genauso wie ich, eine Gemeinsamkeit, für die Lisa weniger als null Verständnis aufbringen konnte. Es war das Heldenhafte, der Mut und die Zuversicht, dass ein Einziger über sich hinauswachsen konnte und imstande war, alles zu verändern, was mich so an diesen Filmen faszinierte. Genau das Gegenteil von mir. Letztendlich wünschte sich doch jeder, etwas zu bedeuten. Für irgendwen, irgendwas. Meine Mutter zwang sich zu einem schmalen Lächeln, nickte stumm und ging zu dem großen Küchenblock in der Mitte des Raumes. Sie begann, Äpfel für mein Müsli zu schälen, die sie mir dann in kleinen Stücken unterrührte. »Du brauchst das wirklich nicht zu machen, Lisa«, betonte ich scharf, »ich bin kein Baby mehr.« Meine Mutter hasste es, wenn ich sie beim Vornamen nannte, aber ich tat es trotzdem und vor allem immer dann, wenn sie mich behandelte, als sei ich gerade fünf Jahre alt. Im Grunde behandelte sie jeden, als sei er fünf Jahre alt. Lisa ignorierte meinen Einwurf und zerstückelte den Apfel in viele, fast exakt gleich große Würfel. Ich war mir sicher, dass sie es fertigbrachte, jeden Morgen die gleiche Anzahl Würfel zu produzieren. »Eventuell müsst ihr euren Kinobesuch verschieben, du und dein...