E-Book, Deutsch, 488 Seiten
Salomon Praxisbuch Ethik in der Intensivmedizin
4. aktualisierte und erweiterte Auflage 2021
ISBN: 978-3-95466-664-5
Verlag: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Konkrete Entscheidungshilfen in Grenzsituationen
E-Book, Deutsch, 488 Seiten
ISBN: 978-3-95466-664-5
Verlag: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Intensivmedizin ist durch die weltweite COVID-19-Pandemie wie nie zuvor ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Einerseits sind ihre hohe Leistungsfähigkeit und der personelle Einsatz aller dort Tätigen deutlich geworden. Andererseits lenkten alle medizinischen, gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen sowie die Erfahrungen von Patienten und Angehörigen den Blick darauf, dass es in der Intensivmedizin um den Einsatz an den Grenzen des menschlichen Lebens geht. In diesem Kontext sind Handlungsleitlinien sowie Ethik- und Wertekonzepte, die sich an den konkreten Fragestellungen der täglichen Arbeit orientieren, unendlich wertvoll.
Das Praxisbuch Ethik in der Intensivmedizin wendet sich berufsgruppenübergreifend an Ärzte, Pflegende, Lehrende und Klinikleitungen sowie an Ethikberatende oder Ethikkomitees, die zu Entscheidungen bei intensivmedizinischen Behandlungen hinzugezogen werden. In emotional belastenden Situationen bietet es praxisnah Entscheidungshilfen, Denkanstöße und ethische Argumente.
Neben dem Verständnis von Ethik, rechtlichen Aspekten und der Zielorientierung von Intensivmedizin vermittelt das Buch Handwerkszeug für konkrete Fragestellungen. Die ethischen Dimensionen von Entscheidungen werden an anschaulichen Fallbeispielen versteh- und handhabbar gemacht.
Neu in der 4. Auflage:
- neue Beiträge zu den Herausforderungen der COVID-19-Pandemie für die Intensivmedizin
- Menschen mit Demenz in der Intensivmedizin
- ein differenziertes Stufenkonzept von Ethikberatung
Zielgruppe
Ärzte und Pflegende in Intensivmedizinischen Abteilungen; Chefärzte, Oberärzte, Pflegedirektoren, Teamleitung in der Intensivmedizin, Klinikleitung; Mitglieder ethischer Beratungsdienste und Ethikkomitees im Krankenhaus; Studenten gesundheitsbezogener Spezialstudiengänge wie Health Care Management, Gesundheitsökonomie, Public Health, Pflegemanagement u.a.m.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2 Ziele und Aufgaben der Intensivmedizin
Michael Quintel
2.1 Konzentration von Mitteln und Kompetenz
Ausgangspunkt für die Entstehung und Entwicklung der Intensivmedizin waren die großen Polio-Epidemien in den 50er-Jahren, insbesondere in den skandinavischen Ländern und den Vereinigten Staaten. Die Erkenntnis, dass eine einfache, aber apparativ und personell aufwändige Maßnahme – namentlich die Überdruckbeatmung – zu einer dramatischen Reduktion der Letalität der an Polio erkrankten Patienten führte, etablierte nicht nur diese Form der Behandlung als akzeptierten medizinischen Standard, sondern lieferte gleichzeitig das Wissen, dass eine derartige Therapie, die eine besondere Ausstattung und hohen personellen Aufwand erfordert, sinnvoller Weise nicht verteilt über die unterschiedlichen Stationen eines Krankenhauses angeboten werden kann, sondern viel mehr eine Konzentration auf spezielle, dafür vorgesehene, geographisch gebündelte Einheiten erfordert. Henrik Ibsen, einer der Protagonisten dieser Entwicklung, formulierte bereits 1952 während der Hochphase der Polioepidemie: „All patients with respiratory problems were collected in a special department, where they were under constant observation by a team, consisting of the epidemiologist, the ear, nose and throat surgeon, and the anaesthesist, all working with help from an excellent and capable laboratory. Later on radiologists and physiotherapists also helped“. [Ibsen 1954] In seinem Rückblick auf 25 Jahre Tätigkeit als Anästhesist in Kopenhagen schreibt er: „Soon after (the polio epidemic) I could offer the following suggestions: […] 6. Centralization of the treatment to special departments (of intensive therapy) according to certain rules“. [Ibsen 1975]
Bereits die Anfänge der Intensivmedizin lassen somit zwei wesentliche Charakteristika erkennen:
1. Intensivmedizin erhält die vitalen Funktionen, unterstützt und ersetzt Organfunktionen und überwacht kontinuierlich die damit verbundenen Prozesse.
2. Intensivmedizin stellt medizinische und medizintechnische Verfahren, fachliches Wissen gepaart mit einer hohen Personaldichte zur Verfügung, um Zeit für das Wiedererlangen und die Stabilisierung gestörter oder verlorener Körper- bzw. Organfunktionen zu gewinnen und damit die betroffenen Patienten in eine Situation zu versetzen, in der sie wiederhergestellt oder mit bleibenden Defekten ein individuell akzeptables Leben unabhängig vom Umfeld der Intensivstation führen können. Damit überbrückt und ermöglicht Intensivmedizin im Erfolgsfall das Überleben und die Rückkehr des betroffenen Patienten in unabhängiges, selbstbestimmtes Leben.
2.2 Fachexpertise und Interdisziplinarität
Bereits 1929 hatte Walter Dandy im Johns Hopkins Hospital in Baltimore über die Einrichtung und den Betrieb einer speziellen Einheit für die postoperative Nachsorge von neurochirurgischen Patienten berichtet [Hanson et al. 2001]. Dieser Ansatz blieb aber bis zur Polioepidemie zu Beginn der 50er-Jahre singulär. Die erste Intensiveinheit war somit offensichtlich eine fachspezifische Einrichtung. Mit der Polioepidemie entstand die Notwendigkeit, Patienten, die durch eine Virusinfektion akut in einen lebensbedrohlichen Zustand geraten waren, durch den Einsatz von Überdruckbeatmung am Leben zu erhalten. Die Unterstützung und Aufrechterhaltung vitaler Funktionen und das besondere Wissen, die dazu notwendigen Maßnahmen adäquat durchführen zu können, erlangte vordergründigere Bedeutung als die Behandlung des Grundleidens selbst. Intensivmedizin eröffnet die Möglichkeit und das erforderliche Zeitfenster, das Grundleiden zu behandeln und dem Organismus die Chance zur Heilung zu geben. Daraus entstand das Modell einer „allgemeinen“ nicht fachgebundenen Intensivmedizin im Gegensatz zur fachspezifischen wie zum Beispiel der oben erwähnten, neurochirurgischen Intensivmedizin. In den Folgejahren entwickelte sich eine bis heute anhaltende Kontroverse um die Vor- und Nachteile von fachspezifischer versus „allgemeiner“ Intensivmedizin. Ohne fachspezifische Anforderungen in ihrer Bedeutung minimieren oder gar ignorieren zu wollen, bestimmen heute mindestens ebenso viele allgemein-intensivmedizinische und organisatorische Kenntnisse wie fachspezifische das Outcome und die Qualität einer Intensivstation. Diese Aussage wurde nachdrücklich durch die Ergebnisse einer Studie unterstrichen, die keinen Outcome-Unterschied beim Vergleich der beiden Modelle finden konnte und schlussfolgerte: „In a diverse group of United States hospitals, risk-adjusted in-hospital mortality did not differ between specialized and nonspecialized ICUs. Investment in ICU specialization may not improve mortality.“ [Lott et al. 2009]
Die Diskussion war und ist weit mehr von berufspolitischen Aspekten als von Sinnhaftig- oder Inhaltlichkeit bestimmt. Der bei weitem größte Anteil von dem, was wir heute unter Intensivmedizin verstehen, ist fachübergreifend identisch. Moderne Intensivmedizin schafft und sichert den Rahmen und organisiert die Interdiziplinarität, um ein Leben zu erhalten und gleichzeitig die größtmögliche Expertise an das Bett des individuellen Patienten zu bringen.
2.3 Verantwortlicher Einsatz der intensivmedizinischen Technologien
Die Intensivmedizin hat unzweifelhaft wesentliche Fortschritte in der Medizin ermöglicht. Interventionen, die heute für uns zum selbstverständlichen Standard medizinischer Versorgung gehören, wären ohne intensivmedizinische Betreuung und Versorgung nicht möglich.
Die Anfänge der Intensivmedizin waren davon gekennzeichnet, dass nahezu jeder Intensivpatient – selbst im offensichtlichen Sterbeprozess – wenigstens einen, meistens sogar mehrere Wiederbelebungsversuche über sich ergehen lassen musste und schließlich unter aggressiver Fortführung der Beatmungstherapie und anderer invasiver Prozeduren, häufig in Abwesenheit seiner Vertrauten und Angehörigen, verstarb. Diese im historischen Rückblick sicher verstehbare Praxis hat das Bild einer kalten, entmenschlichten Apparatemedizin entstehen lassen, das bei Betroffenen und Angehörigen häufig mehr Ängste und Besorgnis als die eigentlich intendierte Sicherheit hervorruft, dass alles für die Betroffenen Sinnvolle und Mögliche für die Erhaltung und Wiederherstellung seines individuellen Lebens getan wird. In diesem Spannungsfeld ist in der Intensivmedizin in den letzten Jahren zunehmend die Erkenntnis gewachsen, dass Lebenserhalt und Lebensverlängerung um jeden Preis in manchen Fällen kein adäquates, eben diesem individuellen Wunsch und Auftrag des Patienten entsprechendes Ziel der Behandlung darstellt. Diese Entwicklung wird auch durch die Tatsache unterstützt, dass medizinische Entscheidungen am Lebensende immer häufiger nicht im häuslichen Umfeld, sondern in Krankenhäusern und dort gerade auf den Intensivstationen getroffen werden, ja getroffen werden müssen. In den letzten Jahren setzt sich mehr und mehr eine patienten- und familienbezogene Haltung durch, die die physischen, emotionalen und existenziellen Bedürfnisse der Beteiligten und damit die Autonomie der individuellen Persönlichkeiten zu berücksichtigen versucht. 1978 beschrieben Beauchamp und Childress vier Prinzipien zur Ausübung der Medizin unter Berücksichtigung ethischer Gesichtspunkte:
1. beneficience, die Verpflichtung des Arztes, dem Patienten zu helfen, wann immer er kann;
2. nonmaleficience, die Verpflichtung Schaden zu vermeiden;
3. respect for autonomy, das Recht des Patienten auf Selbstbestimmung und
4. justice, die Sicherstellung des gerechten Zugangs zu medizinischer Versorgung [Beauchamp u. Childress 1978].
Das Handeln nach diesen sicher noch immer uneingeschränkt gültigen ethischen Regeln stellt gerade für die Intensivmedizin eine besondere Herausforderung dar, da das Recht auf Selbstbestimmung zwar juristisch uneingeschränkt erhalten bleibt, de facto aber durch die häufig fehlende Fähigkeit zur Willensäußerung vom Patienten nicht selbst wahrgenommen werden kann. In diesem Konfliktfeld mag die Verpflichtung, Schaden zu vermeiden, dem Behandelnden zur Rechtfertigung aller Interventionen und Maßnahmen auch in aussichtsloser Situation dienen, der betroffene Patient (so er sich äußern könnte) dagegen mag den Einsatz dieser Mittel als Zufügen von Schaden, Leid und unwürdigem Umgang mit seiner Person am Ende seines Lebens empfinden. Dieses Dilemma wird sich nicht auflösen lassen, es ist der medizinischen Betreuung von Schwerstkranken und damit meist nicht willensbekundungsfähigen Patienten immanent. Für die Intensivmedizin gelten aber trotz und gerade wegen ihres Anspruches auf Lebenserhalt unter Extrembedingungen uneingeschränkt die in der Präambel zur Sterbebegleitung fixierten Grundsätze der Bundesärztekammer: „Aufgabe des Arztes ist es, unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten Leben...