Sand / Edl | Nanon | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 496 Seiten

Sand / Edl Nanon

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-446-28510-1
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 496 Seiten

ISBN: 978-3-446-28510-1
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



George Sand über die Französische Revolution aus der Perspektive eines Bauernmädchens - eine der ersten feministischen Autorinnen der Weltliteratur in neuer Übersetzung
Revolution ist Männersache? Nein! Denn George Sand, die unkonventionelle, provozierende Frau unter den französischen Klassikern, erzählt es anders: Nanon ist vierzehn, als 1789 die Revolution losbricht und alle Stände niederreißt. Das Bauernmädchen, eine Leibeigene, wird Zeugin und Akteurin in einem der größten Umbrüche der Geschichte. Als Mädchen noch Analphabetin, schreibt Nanon im Alter ihr Leben auf: die packende Emanzipations- und Bildungsgeschichte einer Frau in einem männlich geprägten Jahrhundert. Neben ihren vielfach ausgezeichneten Neuübersetzungen von Stendhal und Flaubert präsentiert Elisabeth Edl jetzt diese reich kommentierte Ausgabe einer der großen Schriftstellerinnen der Weltliteratur.

George Sand (Pseudonym für Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil, geboren am 1. Juli 1804 in Paris, gestorben am 8. Juni 1876 in Nohant), schrieb zahlreiche Romane und Theaterstücke. Ihre Werke und ihre unkonventionelle Lebensweise machten sie bald zu einer bekannten, auch skandalisierten öffentlichen Person und zur erfolgreichste Autorin ihrer Zeit. Heute gilt George Sand als eine erste, engagierte feministische Schriftstellerin in der Weltliteratur.
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I.


In vorgerücktem Alter mache ich mich jetzt, 1850, ans Werk und schreibe die Geschichte meiner Jugend.

Damit will ich nicht meine Person in den Vordergrund stellen, bewahren will ich vielmehr für meine Kinder und Enkelkinder die teure und heilige Erinnerung an meinen einstigen Mann.

Ich weiß nicht, ob ich im Schreiben erzählen kann, denn mit zwölf war ich noch außerstande zu lesen. Ich versuch’s, so gut ich kann.

Ich will die Dinge mit innerer Heiterkeit angehen und mich bemühen, meine frühesten Kindheitserinnerungen wiederzufinden. Sie sind sehr verworren, wie bei Kindern, deren Verstand nicht durch Erziehung gefördert wird. Ich weiß, ich bin 1775 geboren, schon mit fünf hatte ich weder Vater noch Mutter, und ich entsinne mich nicht, sie gekannt zu haben. Beide starben an den Pocken, und auch ich wäre fast gestorben, das Impfen war damals noch nicht vorgedrungen bis zu uns. Erzogen wurde ich von einem alten Großonkel, er war Witwer und hatte zwei Enkelsöhne, Waisen wie ich und ein wenig älter als ich.

Wir gehörten zu den ärmsten Bauern im Kirchsprengel. Trotzdem bettelten wir nicht um Almosen; mein Großonkel arbeitete noch als Tagelöhner; und seine zwei Enkel fingen an, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen; aber wir hatten kein Fleckchen eigenes Land, und nur mit größter Mühe konnten wir die Miete für ein schäbiges strohgedecktes Haus mit einem kleinen Garten bezahlen, wo fast nichts wuchs unter den Kastanienbäumen des Nachbarn, die ihren Schatten herüberwarfen. Zum Glück fielen die Kastanien zu uns, und wir halfen ihnen ein bisschen beim Fallen; das konnte uns niemand verübeln, denn die Hauptäste hingen ja zu uns und schadeten unseren Rüben.

Trotz seiner Armut war mein Großonkel, der Jean Lepic hieß, ein sehr anständiger Mensch, und wenn seine Enkel auf fremden Feldern klauten, las er ihnen die Leviten und versohlte sie tüchtig. Mich möge er lieber, sagte er, denn ich sei keine geborene Diebin und Plünderin. Er verpflichtete mich zu Anständigkeit gegenüber jedermann und lehrte mich, meine Gebete sprechen. Er war sehr streng, aber sehr gut, und tätschelte mich manchmal am Sonntag, wenn er zu Hause blieb.

Das ist alles, woran ich mich erinnere, bis zu dem Augenblick, da mein kleiner Verstand sich von allein öffnete, dank eines Vorfalls, den man gewiss sehr kindisch finden wird, für mich aber war er ein großes Ereignis und so etwas wie der Ausgangspunkt meines Lebens.

Eines Tages klemmte Vater Jean mich zwischen die Beine, gab mir eine saftige Ohrfeige und sagte:

»Nanettchen, hört gut zu und merkt Euch genau, was ich jetzt sage. Weint nicht. Wenn ich Euch geschlagen hab, dann nicht, weil ich böse bin auf Euch: Im Gegenteil, es ist nur zu Eurem Besten.«

Ich wischte mir die Augen, schluckte meine Tränen hinunter und lauschte.

»Nun also«, fuhr mein Onkel fort, »Ihr seid elf und habt noch nie außer Haus gearbeitet. Das ist nicht Eure Schuld; wir besitzen nichts, und Ihr wart nicht kräftig genug für Tagelöhnerarbeit. Die anderen Kinder haben Tiere zum Hüten und führen sie auf den Dorfanger; wir freilich konnten uns Tiere nie leisten; jetzt aber hab ich endlich ein wenig Geld beiseitegelegt, und heute will ich auf den Viehmarkt gehen und kaufe ein Schaf. Ihr müsst mir beim lieben Gott schwören, dass Ihr Euch gut darum kümmert. Wenn Ihr für sein Fressen sorgt, wenn Ihr es nicht verliert, wenn Ihr seinen Stall in Ordnung haltet, wird es schön wachsen, und mit dem Geld, das es mir im nächsten Jahr einbringt, kaufe ich Euch zwei, und im Jahr darauf vier; dann könnt Ihr stolz sein und gleichauf gehen mit den andern jungen Dingern, die Grips haben und ihren Familien Gewinn eintragen. Habt Ihr verstanden, und werdet Ihr alles so machen, wie ich’s Euch sage?«

Ich war furchtbar aufgeregt und brachte kaum etwas heraus; doch mein Großonkel begriff, dass ich guten Willens war, und er machte sich auf zum Markt mit dem Versprechen, er sei gewiss vor Sonnenuntergang zurück.

Zum ersten Mal wurde mir die Dauer eines Tages bewusst, und auch, dass meine Beschäftigungen einen Sinn hatten für mich. Offenbar taugte ich schon für irgendwas, denn ich konnte fegen, im Haus aufräumen und Kastanien rösten; aber ich machte diese Dinge gedankenlos, ohne zu wissen, wer sie mir beigebracht hatte. An jenem Tag sah ich die Mariotte daherkommen, eine Nachbarin, etwas wohlhabender als wir, die mich wahrscheinlich großgezogen hatte und die ich jeden Tag auftauchen sah, ohne dass ich mich je gefragt hatte, warum sie sich um unser armseliges Haus kümmerte und um mich. Ich stellte ihr Fragen und erzählte zugleich, was Vater Jean mir gesagt hatte, und ich begriff, dass sie uns den Haushalt führte, als Gegenleistung für die Arbeit, die mein Großonkel verrichtete, denn er bestellte ihren Garten und mähte ihre Wiese. Sie war eine sehr gute und anständige Frau, die mir wahrscheinlich schon lange Unterricht und Ratschläge erteilte und der ich blind gehorchte, deren Worte mich nun aber verblüfften.

»Dein Großonkel«, sagte sie, »entschließt sich also endlich zum Viehkauf! Wie lange liege ich ihm damit in den Ohren. Habt ihr erstmal Schafe, dann habt ihr auch Wolle; ich zeige dir, wie man sie entfettet, wie man sie spinnt und wie man sie blau oder schwarz färbt; und wenn du mit den andern kleinen Hirtinnen aufs Feld gehst, lernst du stricken, und ich wette, du wirst stolz sein, wenn du Strümpfe machen kannst für Vater Jean, der mit halbnackten Beinen herumläuft, guter armer Mann, bis mitten in den Winter, so schlecht geflickt sind seine Hosen; ich hab keine Zeit, kann nicht alles machen. Würdet ihr eine Ziege halten, dann hättet ihr Milch. Du hast gesehen, wie ich Käse mache, und das kannst du auch. Kopf hoch, man darf den Mut nicht sinken lassen. Du bist ein sauberes, vernünftiges Mädchen und achtest auf die armseligen Kleider, die du am Leib trägst. Du wirst Vater Jean helfen, dem Elend zu entkommen. Das bist du ihm schuldig, denn er hat seine Armut verschlimmert, als er dich in Obhut nahm.«

Die Komplimente und Ermutigungen der Mariotte gingen mir sehr zu Herzen. In meinem Innern regte sich Eigenliebe, und ich fühlte mich um einen ganzen Kopf größer als tags zuvor.

Das war an einem Samstag; an diesem Tag aßen wir Brot zu Abend und auch zum nächsten Mittag. Den Rest der Woche lebten wir, wie alle armen Leute in der Provinz Marche, nur von Kastanien und Buchweizenbrei. Ich berichte von lang zurückliegenden Zeiten; wir waren, glaube ich, im Jahr 1787. Damals lebten viele Familien nicht besser als wir. Heutzutage essen arme Leute etwas besser. Es gibt Wege, über die können Nahrungsmittel getauscht werden, und gegen Kastanien bekommt man ein wenig Getreide.

Am Samstagabend brachte mein Großonkel ein Roggenbrot und ein kleines Stück Butter vom Markt mit nach Hause. Ich beschloss, ihm seine Suppe ganz allein zu kochen, und ließ mir von der Mariotte genau erklären, wie sie’s machte. Ich ging in den Garten ein bisschen Gemüse ausrupfen und putzte es säuberlich mit meinem schäbigen kleinen Messer. Als die Mariotte sah, dass ich mich allmählich geschickt anstellte, lieh sie mir zum ersten Mal ihres, das sie mir nie hatte geben wollen, aus Angst, ich könnte mir damit wehtun.

Mein Großcousin Jacques kam früher als mein Onkel vom Markt zurück; er brachte das Brot, die Butter und das Salz. Die Mariotte ging, und ich machte mich an die Arbeit. Jacques verlachte meinen Ehrgeiz, die Suppe ganz allein zu kochen, und behauptete, sie werde übel schmecken. Ich setzte meinen ganzen Stolz darein, die Suppe wurde für gut befunden, und ich bekam Lob.

»Jetzt, wo du eine Frau bist«, sagte mein Onkel zufrieden schlürfend, »verdienst du die Freude, die ich dir machen will. Komm, wir gehen deinem kleinen Cousin Pierre entgegen, er hat’s übernommen, das heimzuführen, und sicher ist er gleich hier.«

Dieses heißersehnte Schaf war eine Schäfin, und bestimmt war sie furchtbar hässlich, ...


Edl, Elisabeth
Elisabeth Edl, 1956 geboren, lehrte als Germanistin und Romanistin an der Universität Poitiers und arbeitet heute als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin in München. Sie wurde u. a. mit dem Celan-Preis, Petrarca-Preis, Voß-Preis, dem Österreichischen Staatspreis, dem Romain Rolland-Preis und dem Prix lémanique de la traduction ausgezeichnet. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich.

Edl, Elisabeth
Elisabeth Edl, 1956 geboren, lehrte als Germanistin und Romanistin an der Universität Poitiers und arbeitet heute als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin in München. Sie wurde u. a. mit dem Celan-Preis, Petrarca-Preis, Voß-Preis, dem Österreichischen Staatspreis, dem Romain Rolland-Preis und dem Prix lémanique de la traduction ausgezeichnet. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich.

Sand, George
George Sand (Pseudonym für Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil, geboren am 1. Juli 1804 in Paris, gestorben am 8. Juni 1876 in Nohant), schrieb zahlreiche Romane und Theaterstücke. Ihre Werke und ihre unkonventionelle Lebensweise machten sie bald zu einer bekannten, auch skandalisierten öffentlichen Person und zur erfolgreichste Autorin ihrer Zeit. Heute gilt George Sand als eine erste, engagierte Schriftstellerin in der Weltliteratur.

Edl, Elisabeth
Elisabeth Edl, 1956 geboren, lehrte als Germanistin und Romanistin an der Universität Poitiers und arbeitet heute als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin in München. Sie wurde u. a. mit dem Celan-Preis, Petrarca-Preis, Voß-Preis, dem Österreichischen Staatspreis, dem Romain Rolland-Preis und dem Prix lémanique de la traduction ausgezeichnet. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich.



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