E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Sanden Das zweite Band
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7460-1953-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-7460-1953-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wolfgang Sanden, 1946 in Hildesheim geboren, übte nach Abitur und Mathematikstudium dreißig Jahre lang verschiedene Berufe in der IT-Branche aus. Unter anderem war er als Programmierer, Systemanalytiker, Berater, Qualitätsmanager und Ausbilder tätig. In jener Zeit konnte er sich dem Schreiben nur sporadisch widmen. Heute arbeitet Wolfgang Sanden als freier Schriftsteller.
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2.
Der Friedhof lag am Rande von Gerbersdorf. Nach dem Verlassen der Autobahn war Dagolf Sennwang durch eine ziemlich langweilige Landschaft gefahren. Plattes Ackerland, ein paar Waldzungen, ein so großspuriges wie häßliches Einkaufszentrum auf grüner Wiese. Der Ort selbst eher ein Straßendorf mit ein paar alten Fachwerkhäusern inmitten einer ansonsten kaum erwähnenswerten Bebauung. Wieder stellte er sich die Frage: Warum gerade dieses Nest?
Der kleine Parkplatz neben dem Friedhofseingang war überfüllt. Dagolf mußte wenden und die Straße ein Stück zurückfahren. Halb auf dem Bürgersteig stellte er sein Auto ab.
Welch ein schöner Märztag. Ein wolkenloser Himmel in Frühlingsblau und eine kühle Luft, die das Atmen angenehm machte. Die kleine, moderne Trauerhalle mit ambitioniertem Schrägdach befand sich wenige Schritte hinter der Pforte. Für Dagolf nicht mehr ganz so überraschend – weshalb denn sonst die vielen Autos? –, drängte sich eine große Anzahl von Leuten auf dem kiesbestreuten Vorplatz, die allermeisten schwarz gekleidet. Von wegen, er allein mit Buschmann! Viele standen in Grüppchen, etliche schauten dem Ankömmling neugierig entgegen.
Dagolf nickte verhalten in die Runde, hielt aber Abstand. Er bemerkte, daß man sich etwas zuflüsterte. Gleich darauf löste sich aus der Menge ein Mann, weißhaarig und wohl im Alter von Onkel Hans, und kam entschlossen auf ihn zu.
„Sie müssen Gangolf sein.“ Dabei streckte er ihm die Hand mit einem flüchtigen Lächeln hin und ergänzte: „Buschmann, Günther Buschmann, ein alter Freund Ihres Onkels. Mein herzliches Beileid.“
„Danke, vielen Dank. Aber ich bin der jüngere Neffe Dagolf – Dagolf Sennwang. Mein Bruder ist heute leider verhindert.“ Eigentlich blöd, Gangolf auf diese Weise Absolution zu erteilen, dachte er im nächsten Moment. Aber auf die Familie ließ man Fremden gegenüber eben nichts kommen.
„Folgen Sie mir doch bitte, ich möchte Ihnen ein paar gute Bekannte Ihres Onkels vorstellen.“ Damit bahnte sich Buschmann energisch den Weg zwischen den Leuten hindurch bis vor den Eingang der Trauerhalle. Die dort wartenden Personen drückten Dagolf unter teils gemurmelten, teils deutlich artikulierten Beileidsbekundungen die Hand.
„Ihr Onkel war ein großartiger Mensch. Wir sind über sein völlig unerwartetes Ableben alle ziemlich erschüttert“, versicherte man ihm. „Er ist beim Joggen einfach umgefallen. Bei aller Schrecklichkeit – eigentlich ein schöner Tod.“ Eine Frau behauptete sogar: „Der Hans hat viel von Ihnen erzählt.“
Glücklicherweise erschien der Friedhofsdiener, öffnete die Flügeltür und lud mit einer sparsamen Geste zum Betreten des Gebäudes ein. Im Vorraum lag auf einem schmalen Pult das Kondolenzbuch aus, vor dem sich nun eine kleine Schlange bildete. Dagolf ging direkt zur Halle durch. Das Tageslicht wurde vom vielfarbigen Glas der langen, schmalen Fenster kaum behindert, so daß der Raum von lebendiger Helligkeit erfüllt war. Selbst die auf einem Podest ruhende und von einem Blumenmeer umwogte Urne verlor auf diese Weise etwas von ihrem leisen Schrecken.
Dagolf war durch den kurzen Mittelgang nach vorne geschritten. Mit in Bauchhöhe gefalteten Händen betrachtete er die aufwendige Dekoration, ohne sie richtig wahrzunehmen. Hängen blieb sein Blick am großen Porträtfoto des Verstorbenen, das man etwas seitlich zwischen zwei hohen Kerzen auf einen Bilderständer gesetzt hatte. Ja, so hatte er ihn in Erinnerung, seinen Onkel Hans.
Als nun andere Trauergäste hinzutraten, wendete er sich ab und suchte sich auf der linken Seite einen Platz in der ersten, noch leeren Reihe – nicht in der Mitte, sondern mehr zu den Fenstern hin. Aus seinen Gedanken, die eigentlich keine wirklichen Gedanken waren, sondern eher ein Auf- und Absinken unscharfer Vorstellungen, Empfindungen und Bilder, wurde er von Buschmann gerissen.
„Ich darf mich doch neben Sie setzen?“ Er wartete eine Antwort gar nicht erst ab. „Ich habe mir erlaubt, die Trauerfeier zu organisieren“, raunte er Dagolf zu. Sein rechter Zeigefinger beschrieb dabei einen vagen Kreis. „Nur zu Ihrer Information – ich habe für nachher in der ‚Post‘ einen Raum reservieren lassen. Keine Sorge, das habe alles ...“ Seine letzten Worte gingen im einsetzenden Orgelspiel unter.
Durch eine halb verborgene Tür betrat mit feierlicher Miene der Pfarrer, lang und schmal in seinem schwarzen Talar, den Raum. Vor der Urne verbeugte er sich, verharrte für einen Augenblick in kurzem Gebet und ging dann zum Rednerpult hinüber. Die Trauerfeier begann.
Die von manchem unterdrückten Schluchzen begleitete Ansprache zeichnete Hans Raabes Erdenleben in wenigen, jedoch bewegenden Worten nach und nahm dabei mehrfach Bezug auf einen Brief des Apostels Paulus. Sehr viel bekam Dagolf Sennwang nicht mit, aber zwei Textstellen machten doch Eindruck auf ihn. Die eine lautete , die andere .
Nach einem weiteren Lied, von der Trauergemeinde kräftig mitgesungen, erhob sich Buschmann und trat nach vorn. In freier und fester Rede gedachte er des toten Freundes. Wie sie sich kennengelernt hatten damals in München, wie sehr man sich auf Hans habe verlassen können – im Dienst und in privaten Dingen. Und daß man sich leider – aber so spiele das Leben nun einmal – später aus den Augen verloren, dann aber gottseidank vor ein paar Jahren wiedergefunden habe. Schnell habe sich der Freund hier im beschaulichen Gerbersdorf eingelebt, was die große Trauergemeinde nur zu gut bezeuge. Beliebt sei er gewesen – ja, geliebt. Etwas, das sich wie ein mühsam ersticktes Kichern anhörte und sofort in ein lautes Räuspern überging, ließ Buschmann für den Bruchteil einer Sekunde stutzen. Dann fuhr er mit noch lauterer Stimme fort: „Hans Raabe, wir werden dich nicht vergessen, du wirst in unseren Herzen weiterleben.“ Noch eine Verbeugung zur schwarzglänzenden Urne hin, dann kehrte er an seinen Platz zurück. Beim Hinsetzen drückte er Dagolfs Hand.
Was Dagolf bei der Predigt, dort noch nicht ganz faßbar, und nun recht deutlich bei Buschmanns Rede aufgefallen war: Die Bonner Jahre und die vielen Auslandsaufenthalte im diplomatischen Dienst hatte man überhaupt nicht erwähnt. Statt dessen Anspielungen auf knifflige und gefahrvolle Situationen, die zum Wohle des Landes zu bestehen gewesen seien. Das bekam er nicht auf die Reihe. Unklar blieb ihm auch der Umstand, daß Buschmann seinen Onkel in München kennengelernt hatte. Er würde ihn nachher in der „Post“ deswegen einmal fragen.
Unter den Klängen der Orgel zogen sie zum Seitenausgang hinaus ins Freie. Vorweg mit der Urne der Friedhofsdiener, als nächstes der Pfarrer, dann Dagolf und Buschmann, direkt hinter ihnen eine einzelne, verschleierte Dame und schließlich in langer Reihe die übrige Trauergemeinde.
So grau und unbedeutend Dagolf der Ort erschienen war, so hübsch kam ihm jetzt der Friedhof vor. Auf sorgfältig gepflegten Gräbern und zwischen braunem Laub blühten Krokusse, Primeln, Märzenbecher und Lenzrosen. Rhododendronblätter glänzten in der Sonne. Ein Eichhörnchen wischte vor ihnen über den Weg und jagte den Stamm einer hohen Fichte hinauf. In den Bäumen zwitscherten Vögel. Hier möchte man auch begraben sein. Im nächsten Moment kam Dagolf dieser Gedanke schon wieder ganz komisch vor. Doch befand er sich denn nicht in einer merkwürdigen Stimmung?
Zweimal bewegte sich der Zug um die Ecke, dann machte er vor einem frisch ausgehobenen Loch, halb unter einer noch kahlen Linde, halt. Der Pfarrer wartete, bis jeder einen Platz gefunden hatte. Nach weiteren tröstenden Sprüchen und dem gemeinsamen Vaterunser wurde die Urne hinabgelassen.
Nach dem Pfarrer nahm Dagolf die kleine Schaufel in die Hand und warf dreimal Erde in die Öffnung. Ein kurzer Moment des Verharrens, eine leichte Verbeugung, dann machte er Buschmann Platz und stellte sich seitlich des Grabes auf. Die Trauergäste zogen an ihm vorüber, drückten ihm dabei die Hand. Das nahm einige Zeit in Anspruch. Einige Frauen umarmten ihn sogar. Nicht so die Verschleierte, die sich gleich darauf rasch entfernte.
Als es endlich vorbei war, wartete Dagolf zusammen mit Buschmann, dem Pfarrer und ein paar anderen, bis der Friedhofsdiener das Loch gefüllt und darüber einen kleinen Erdhügel geformt hatte. Von einem etwas abseits stehenden Wagen, den Dagolf noch gar nicht bemerkt hatte, holte der Mann nach und nach Kränze und Blumengestecke, die bald die gesamte Grabstätte und das Umfeld gnädig bedeckten. Buschmann zog die eine oder andere Schleife glatt und machte auf einzelne Inschriften aufmerksam. Die Namen sagten Dagolf natürlich nichts, doch allein die große Zahl bedeutete ihm einen gewissen Trost: Onkel Hans hatte in den letzten Jahren wenigstens kein einsames Leben geführt. Warum...