E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Sarrazin Der neue Tugendterror
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7844-8402-0
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-7844-8402-0
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wer bestimmt, was gesagt werden darf - und worüber geschwiegen werden muss? Meinungsfreiheit ist hierzulande durch das Grundgesetz garantiert. Aber wie sieht es damit im Alltag aus? Dort begegnen wir immer wieder Denk- und Redeverboten und sind recht schnell an den Grenzen des Sagbaren angelangt. Thilo Sarrazin analysiert den grassierenden Meinungskonformismus und stellt fest: Wer Dinge ausspricht oder Zusammenhänge herstellt, die nicht ins gerade vorherrschende Weltbild passen, der wird gerne als Provokateur oder Nestbeschmutzer ausgegrenzt.
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Einleitung Am 10. September 2012, ziemlich exakt zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Deutschland schafft sich ab, erschien im Spiegel ein Interview mit drei jungen Persern, die als Flüchtlingskinder nach Deutschland gekommen waren. Darin fragte der Spiegel-Redakteur Maximilian Popp unter anderem: »Trifft es Sie, wenn Politiker wie Thilo Sarrazin behaupten, Migranten seien faul und hätten ohnehin kein Interesse, dieses Land mitzugestalten?« Die Antwort fiel erwartungsgemäß aus: »So etwas schmerzt mich, doch Sarrazins Thesen haben mich nicht überrascht. Aus ihnen spricht genau jener Rassismus, den wir jahrelang erfahren haben.« Der Fragesteller schien zufrieden, denn mit dieser Antwort endete das Interview.1 Ich schrieb daraufhin an die Spiegel-Redaktion: »Diese Wiedergabe angeblicher Aussagen von mir ist frei erfunden und weder in mündlichen noch in schriftlichen Äußerungen von mir zu finden. Entweder liegt Unkenntnis oder die Absicht zur Diffamierung zugrunde. In beiden Fällen erscheint eine Richtigstellung oder Entschuldigung angebracht. Ihrer Reaktion (oder auch nicht) sehe ich mit Interesse entgegen.« Nach einer Woche kam die Antwort des Redakteurs Maximilian Popp. Er führte darin eine Reihe von Zitaten aus Deutschland schafft sich ab an, die zwar alle richtig wiedergegeben waren, nur eines nicht enthielten, nämlich eine Bestätigung seiner Behauptungen. Er rechtfertigte sich mit folgenden Sätzen: »Sie stellen fest, diese Aussage sei von Ihnen nie getroffen worden. Das allerdings behaupte ich in dem Artikel auch nicht. Vielmehr werden einige Ihrer Äußerungen in der Vergangenheit pointiert zusammengefasst. … Deshalb würde ich eine Richtigstellung auch für unangemessen halten.«2 Im Klartext meinte der Spiegel-Redakteur wohl: Wenn es darum geht, Thilo Sarrazin in die »richtige« Ecke zu stellen und damit gewissermaßen höheren tugendhaften Zwecken zu dienen, dann muss man es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, sogar die absichtsvolle Verdrehung der Fakten ist nach dieser Logik offenbar erlaubt, selbst auf die Gefahr hin, einen verleumderischen Eindruck hervorzurufen. Schließlich gelang es ja auf diese Art, dem jungen Perser den Rassismus-Vorwurf zu entlocken. An diesem Tag entschied ich mich, dieses Buch zu schreiben. Die zitierte Spiegel-Geschichte, obwohl vielleicht besonders skandalös, spiegelt nämlich einen Zeittrend wider. In wachsendem Maße wird die freie Betrachtung der menschlichen Gesellschaft in vorgefasste Raster gepresst. Der Wahrheitsbegriff wird dabei so lange relativiert, bis seine Konturen verschwimmen. Wenn sich die Wirklichkeit dem eigenen Denkmuster nicht fügen will, werden auch in seriösen Zeitungen notfalls die Gesetze der Statistik auf den Kopf gestellt. Im Dienste einer höheren »moralischen« Wahrheit ist dann auch der »freie Umgang« mit Fakten durch Auslassen, Entstellen und notfalls freihändiges Ignorieren von Tatsachen zulässig. Wer das nicht glaubt, schaue sich das obige Beispiel genau an. Es fand offenbar die Billigung der Spiegel-Redaktion, denn an diese hatte ich geschrieben, und Maximilian Popp hatte mir geantwortet. Mit meinen Lesern teile ich wohl die Dankbarkeit darüber, dass wir nicht mehr, wie noch vor wenigen Jahrhunderten, wegen falschen Glaubens als Ketzer verbrannt werden können. Auch sind die Zeiten vorbei, als die heilige Inquisition von uns – notfalls unter Folter – verlangen konnte, falschen Meinungen zu entsagen. Es ist allerdings erst 380 Jahre her, dass Galileo Galilei unter dem Druck der Inquisition die Erkenntnis widerrief, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Als die Inquisitoren gerade nicht hinhörten, soll er halblaut gemurmelt haben: »Und sie bewegt sich doch.« Recht hatte er. Meinungen ändern nämlich keine Tatsachen. Meinungsdruck – in welcher Form auch immer – ändert höchstens die gesellschaftliche Wahrnehmung von Tatsachen. Gesellschaften, die wichtige Aspekte der Wirklichkeit leugnen oder sie wegen der Dominanz einer bestimmten Weltsicht gar nicht wahrnehmen, bezahlen dafür mit beschränkter Weltsicht und beschränkten Erkenntnismöglichkeiten. Sie verzichten damit häufig auf Entwicklungspotentiale und bleiben rückständig. Historisch gesehen ist das Scheitern von Gesellschaften aufgrund ihrer inneren Beschränktheit eher die Regel als die Ausnahme. Das antike Griechenland, häufig als Wiege der Demokratie bezeichnet, war so demokratisch gar nicht. Frauen, Unfreie und alle jene, die nicht Bürger einer Polis waren, konnten sich an der politischen Meinungsbildung nicht beteiligen. Das geistige Klima aber war frei. Der griechische Götterhimmel mit seinen mehreren Tausend Göttern und seinem notorisch untreuen und philandernden Chef-Gott Zeus bildete die menschlichen Widersprüche im Himmel ab. Zwischen der Liebe, dem Hass, der Ruhmsucht und der Eifersucht, die die Götter den Menschen vorlebten, konnte auf Erden nahezu alles gedacht und getan werden. All dies zu leben war die Stärke der griechischen Völker, und so wurden sie zum Ursprung der abendländischen Kunst, Philosophie und der Naturwissenschaft. Das hinderte sie nicht an heftigen Kriegen untereinander. Gewalt gab es reichlich, sie war sozusagen endemisch, und doch blühte die Freiheit der Gedanken. Wurde allerdings ein Gedankenträger übermäßig lästig, machte man auch schon damals kurzen Prozess. Sokrates musste im Jahr 399 vor Christus in Athen den Schierlingsbecher trinken, weil seine Philosophie den Mächtigen missfiel. Er musste ihn nicht etwa trinken, weil er der Knabenliebe anhing. Die war damals gang und gäbe und sozusagen gesellschaftlich anerkannt. Für minderschwere Fälle störender Meinungen kannte man in Athen den Ostrakismos, das Scherbengericht. Wer sich mit seinen Ansichten und Handlungen über ein bestimmtes Maß hinaus unbeliebt gemacht hatte, konnte auch als Bürger von Athen in die Verbannung gezwungen werden, damit er den gesellschaftlichen Frieden nicht weiter störte. Der Widerspruch zwischen Gedankenfreiheit und gesellschaftlicher Norm wurde im antiken Griechenland mithin pragmatisch, aber keineswegs immer gewaltfrei gelöst. In der modernen Demokratie westlicher Prägung ist es nicht mehr so leicht, Meinungen und Einstellungen, die nicht gefallen oder als sozial schädlich angesehen werden, mit Gewalt zu unterdrücken. Aber es gilt auch nicht einfach »anything goes«. Es haben sich verdeckte Formen der Formierung und Kontrolle von Meinungen herausgebildet. Der gesellschaftlich akzeptierte Kreis des Sagbaren und Denkbaren kann auch auf diese Weise wirksam begrenzt werden. Diese informellen Prozesse sind mit Machtausübung verbunden – mit Medienmacht, mit politischer Macht. Die meisten Menschen wollen gerne im Konsens leben. Sie spüren den von dieser informellen Meinungskontrolle ausgehenden Druck und beugen sich ihm auch zu einem gewissen Grad. So kann es immer wieder geschehen, dass die gesellschaftliche Diskussion und insbesondere die veröffentlichte Meinung Fragestellungen verkürzen und einschränken bzw. bestimmte Fragen und mit ihnen verbundene Antworten unter ein Tabu stellen. Wer solche Grenzen zu überschreiten scheint, muss zwar heute nicht mehr den Schierlingsbecher trinken oder in die Verbannung gehen. Aber er darf sicher sein, dass bestimmte Medien versuchen, ihn und seinesgleichen öffentlich an den Pranger zu stellen. Das funktioniert umso leichter, je vermachteter die Struktur der Medien ist und je größer der Teil der Bürger ist, die Medienmeinung für bare Münze nehmen, soweit sie überhaupt von den Medien erreicht werden. Mein Interesse an diesen Fragen war immer schon vorhanden, denn die dahinterstehende gesellschaftliche Mechanik spielt eine zentrale Rolle bei den meisten Katastrophen, die sich Gesellschaften selber zufügen: Warum kam es vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in einigen Gebieten in Europa zu einer auffälligen Anhäufung von Hexenverbrennungen? Wie konnte es im August 1914 zum plötzlichen Ausbruch von Kriegsbegeisterung in allen beteiligten europäischen Staaten kommen? Carl Zuckmayer beschreibt in seinen Memoiren, wie dieser soziale Bazillus ihn, der wenige Tage nach Kriegsausbruch aus Holland nach Deutschland zurückkehrte, gegen seinen Willen selbst ansteckte, so dass er sich als Kriegsfreiwilliger meldete. Welche soziale Lähmung in der russischen Gesellschaft war dafür verantwortlich, dass sie die unbeschreibliche Steigerung des stalinistischen Terrors ab Mitte der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts so widerstandslos hinnahm? Wie konnte es geschehen, dass nahezu alle deutschen Vereine in einer kollektiven Anpassungshandlung im Frühling 1933 ihre jüdischen Mitglieder ausschlossen – zu einer Zeit, da sich der Naziterror noch gar nicht richtig entfaltet hatte? Warum ließ die amerikanische Gesellschaft, die doch eigentlich demokratisch gefestigt war, von 1951 bis 1954 die inquisitorischen Aktivitäten des Komitees gegen unamerikanische Umtriebe, initiiert von Senator McCarthy, so widerstandslos über sich ergehen? Welche sozialen Mechanismen in vorher unauffälligen Gesellschaften fielen aus, damit es zum Völkermord in Kambodscha oder Ruanda kommen konnte? Das ist nur eine sehr subjektive Auswahl, aber sie zeigt, worum es mir geht. In meinen pessimistischen Momenten halte ich das tragende Gerüst unserer zivilen Gesellschaft für recht schwach und den Firnis der Zivilisation für ziemlich rissig. Der...