Saviano ZeroZeroZero
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24578-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie Kokain die Welt beherrscht
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-446-24578-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roberto Saviano, 1979 in Neapel geboren, wurde durch sein Buch »Gomorrha« schlagartig berühmt. Nach Morddrohungen vonseiten der Camorra steht er unter Personenschutz. 2009 erhielt Saviano den Geschwister-Scholl-Preis, 2016 den M100 Media Award und 2012 den Olof-Palme-Preis für seinen publizistischen Einsatz gegen organisiertes Verbrechen und Korruption. Bei Hanser erschien »Gomorrha« (Reise in das Reich der Camorra, 2007), zuletzt der Roman »Falcone« (2024) sowie das Sachbuch »Treue. Liebe, Begehren und Verrat - die Frauen in der Mafia« (2025).
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1 Die Lektion
»Sie saßen alle um einen Tisch, in New York, hier ganz in der Nähe.«
»Wo?«, fragte ich instinktiv.
Er sah mich an, als könne er es nicht fassen, dass jemand so eine dumme Frage stellt. Die Geschichte, die er mir erzählte, war der Dank für ein Entgegenkommen meinerseits. Die Polizei hatte ein paar Jahre zuvor in Europa einen jungen Mann verhaftet, einen Mexikaner mit amerikanischem Pass. Sie brachten ihn nach New York und hielten ihn an der langen Leine, ließen ihn in die Welt der illegalen Geschäfte dieser Stadt eintauchen und ersparten ihm damit das Gefängnis. Ab und zu trug er ihnen etwas zu, dafür verhafteten sie ihn nicht. Er war kein richtiger Spitzel, nur ein Tippgeber, was ihm das Gefühl gab, weder ein Verräter zu sein noch ein knallharter Ma?oso, den das Gesetz der omertà zum Schweigen verp?ichtet. Die Polizisten wollten allgemeine Auskünfte von ihm, keine Details, die ihn in seiner Gruppe hätten bloßstellen können. Es genügte, wenn er ihnen das umlaufende Gerede zutrug, etwas über die herrschende Stimmung, Gerüchte von Versammlungen oder von Fehden. Keine Beweise, keine Indizien, nur Gerüchte. Die Indizien würde man später sammeln. Aber jetzt hatte der Typ mit seinem iPhone eine Rede aufgenommen, die Rede bei einer Versammlung, an der er teilgenommen hatte. Die Polizei war besorgt. Einige, mit denen ich seit Jahren in Kontakt stand, wollten, dass ich darüber schrieb. Irgendwo darüber schrieb, um die Sache publik zu machen, damit man die Reaktion testen und sicher sein konnte, dass sich die Geschichte, die ich gleich hören würde, tatsächlich so zugetragen hatte, wie der Typ behauptete, und nicht inszeniert war, eingefädelt, um Chicanos und Italiener zu ködern. Ich sollte darüber schreiben, um in den Kreisen, in denen diese Sätze gefallen und gehört worden waren, Unruhe zu schüren.
Der Polizist erwartete mich im Battery Park auf einer kleinen Mole. Ohne Schlapphut und Sonnenbrille, ohne lächerliche Verkleidung. Er trug ein knallbuntes T-Shirt und Badeschlappen und lächelte, als könne er es gar nicht erwarten, sein Geheimnis preiszugeben. Sein Italienisch hatte viele dialektale Einschläge, aber ich konnte ihn gut verstehen. An seinem Verhalten war nichts Verschwörerisches. Er hatte die Anweisung, mir diese Geschichte zu erzählen, und das tat er ohne Umschweife. Ich erinnere mich sehr genau daran, denn sie ließ mich nicht mehr los. Im Lauf der Zeit bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass wir unsere Erinnerungen nicht nur im Kopf speichern. Sie lagern nicht alle in einem bestimmten Areal unseres Gehirns. Ich bin immer mehr überzeugt, dass auch andere Körperteile ein Gedächtnis haben. Leber, Hoden, Fingernägel, Rippen. Worte, die ein Gewicht haben, bleiben dort haften. Und wenn sich diese Körperteile erinnern, schicken sie das, was sie gespeichert haben, ans Gehirn. Am häu?gsten erinnere ich mit dem Magen, der das Schöne und das Schreckliche bewahrt. Ich weiß es, weil der Magen sich regt. Und manchmal regt sich auch der Bauch. Das Zwerchfell – eine dünne Muskel- und Sehnenschicht, eine Membran, die bis in die Körpermitte wächst – erzeugt Schwingungen. Hier nimmt alles seinen Ausgang. Das Zwerchfell ist immer beteiligt: wenn wir keuchen und wenn wir erschaudern, wenn wir pinkeln, unseren Darm entleeren und uns übergeben; es steuert auch das Pressen bei den Geburtswehen. Und mit Sicherheit gibt es einen Ort, wo sich das Schlimmste anlagert, der Unrat. Wo genau in meinem Körper dieser Ort liegt, weiß ich nicht, aber er ist randvoll. Er quillt fast über, nichts passt mehr hinein. Da, wo bei mir der Bodensatz der Erinnerungen lagert, ist kein Platz mehr. Das klingt wie eine gute Nachricht: Es gibt keinen Raum mehr für den Schmerz. Aber so ist es nicht. Wenn der dafür bestimmte Ort voll ist, lagert sich der Unrat auch dort ein, wo er gar nicht hingehört, dort, wo andere Erinnerungen gespeichert sind. Die Geschichte des Polizisten hat jenen Ort in mir, wo die Erinnerungen an die schlimmsten Dinge gespeichert sind, endgültig zum Überlaufen gebracht. All das, was wieder zum Vorschein kommt, wenn du das Gefühl hast, es geht aufwärts, wenn ein strahlender Tag beginnt, wenn du wieder zu Hause bist und denkst, es hat sich letztlich doch gelohnt. In solchen Augenblicken kommen von irgendwoher dunkle Erinnerungen hoch wie Erbrochenes. Wie der Müll auf einer mit Plastikplanen bedeckten Deponie unter der Erde, der einen Weg nach oben ?ndet, um alles zu vergiften. In diesem Teil meines Körpers bewahre ich die Erinnerung an jene Geschichte auf. Es ist sinnlos, die genauen Koordinaten ermitteln zu wollen, denn selbst wenn ich diesen Ort fände, es würde nichts nützen, ihn mit Fäusten zu traktieren oder mit dem Messer zu bearbeiten oder daran herumzudrücken, um die Worte wie Eiter aus einem Pickel herauszupressen. Alles ist dort drin. Alles muss dort bleiben. Schluss, aus.
Der Polizist sagte mir, sein Informant habe die einzige Lektion gehört, die zu hören sich lohne, und sie heimlich aufgezeichnet. Nicht um sie der Polizei in die Hände zu spielen, sondern um sie sich immer wieder anzuhören. Eine Lektion darüber, wie man sich auf der Welt behaupten kann. Und dann habe er ihn mithören lassen: ein Knopf im Ohr des Polizisten, den anderen im Ohr des Informanten, der voller Aufregung auf Start drückte.
»Also, du schreibst darüber, und wir schauen, ob jemand an die Decke geht. Das würde nämlich bedeuten, dass die Geschichte stimmt, es wäre die Bestätigung. Wenn du darüber schreibst und keiner rührt sich, dann ist es entweder der Schwindel eines B-Schauspielers und unser Chicano hat uns an der Nase herumgeführt, oder niemand glaubt den Quatsch, den du schreibst, und in dem Fall sind wir angeschmiert.«
Er ?ng an zu lachen. Ich nickte. Ich machte keine Versprechungen, ich versuchte zu verstehen. Diese sogenannte Lektion hatte also ein alter italienischer Boss erteilt, bei einer Zusammenkunft von Chicanos, Italienern, Italoamerikanern, Albanern und ehemaligen Kaibiles, guatemaltekischen Legionären. Das behauptete jedenfalls der Informant. Die Lektion enthält keine Fakten, Zahlen oder Details, nichts, was man auswendig lernen muss. Du betrittst einen Raum als ein bestimmter Mensch und verlässt ihn als ein anderer. Du trägst noch dieselbe Kleidung, denselben Haarschnitt, dein Bart ist nicht gewachsen. Du hast keine Schrammen davongetragen, keine Schnitte über den Augenbrauen, keine gebrochene Nase. Man hat dir nicht den Kopf gewaschen, dir keine Strafpredigt erteilt. Du trittst ein, und du gehst wieder, auf den ersten Blick derselbe wie zuvor. Aber nur äußerlich. Innerlich bist du ein völlig anderer Mensch. Man hat dir keine letzte Wahrheit enthüllt, sondern nur ein paar Dinge zurechtgerückt. Dinge, von denen du bis dahin nicht wusstest, wie man mit ihnen umgeht. Dinge, die du nicht den Mut hattest anzugehen, einzuordnen, wahrzunehmen.
Der Polizist las mir aus einem Notizheft das Wortprotokoll der Rede vor. Sie waren in einem Raum versammelt gewesen, unweit von da, wo wir uns jetzt befanden. Zwanglos plaziert, ohne eine vorgegebene Ordnung, nicht etwa in Hufeisenform wie bei einer Aufnahmezeremonie. Eher wie in einem Freizeitverein in den Provinzstädten Süditaliens oder in den Restaurants der Arthur Avenue bei einem im Fernsehen übertragenen Fußballspiel. Aber in diesem Raum gab es kein Fußballspiel zu sehen, und es war auch kein Treffen von Freunden. Anwesend waren Mitglieder krimineller Organisationen, Leute von unterschiedlichem Rang. Der alte Italiener stand auf, ein Ehrenmann, der nach Jahren in Kanada in die Vereinigten Staaten gekommen war. Er begann zu sprechen, ohne sich vorzustellen, das war nicht nötig. Seine Sprache war unsauber: Italienisch, gemischt mit Englisch und Spanisch, und manchmal ver?el er in den Dialekt. Ich hätte gern seinen Namen gewusst und fragte den Polizisten mit geheuchelt spontaner Neugier, ganz beiläu?g, doch er machte sich nicht einmal die Mühe zu reagieren. Es gab nur das, was der Boss gesagt hatte.
»Un munnu de chiri ca cridanu de putì campà cu ra giustizia ... Eine gerechte Welt mit Gesetzen, die für alle gleich sind, eine Welt, in der man in Würde und von seiner Hände Arbeit leben kann, mit sauberen Straßen und der Gleichstellung von Mann und Frau – das ist eine Welt von Schwächlingen, die glauben, sie könnten sich selbst etwas vorgaukeln. Und denen, die von ihnen abhängen. Den Unsinn von einer besseren Welt überlassen wir den Dummköpfen. Den reichen Dummköpfen, die sich diesen Luxus kaufen. Den Luxus, an eine glückliche und gerechte Welt zu glauben. Den Reichen, die Gewissensbisse oder etwas zu verbergen haben. Who rules just does it, and that’s it. Einer kann sagen, er führt das Kommando im Namen des Guten, der Gerechtigkeit und der Freiheit. Aber das ist was für die Weiber, überlassen wir es den Reichen, den Dummköpfen. Wer be?ehlt, der be?ehlt, und fertig.«
Ich hätte gern gewusst, wie er gekleidet war, wie alt er war. Fragen eines Bullen, eines Reporters, eines Neugierigen, eines Besessenen, der glaubt, mit derlei Details dem Prototyp eines Bosses auf die Spur zu kommen, der solche Reden hält. Aber mein Gesprächspartner las weiter, ohne mich zu beachten. Ich prüfte jedes seiner Worte sorgfältig wie Sand, den man durch ein Sieb schüttelt, um das Goldklümpchen zu ?nden. Den Namen. Ich hörte zu, doch was ich suchte, waren Hinweise. Indizien.
»Er wollte ihnen die Regeln erklären, verstehst du?«, sagte der Polizist. »Er wollte sie ihnen regelrecht einbleuen. Ich bin sicher, dass unser Informant nicht gelogen hat. Ich garantiere, der Mexikaner erzählt keinen Unsinn. Ich lege meine Hand für ihn ins Feuer, auch wenn mir keiner glaubt.«
Er wandte sich...