E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Reihe: CRiMiNA
Schairer Todesursache: ungeklärt
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-89741-981-0
Verlag: Ulrike Helmer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Reihe: CRiMiNA
ISBN: 978-3-89741-981-0
Verlag: Ulrike Helmer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Carolin Schairer, Diplom-Journalistin, war u.a. in der Medienbeobachtung, der Markt- und Meinungsforschung und als PR-Mitarbeiterin eines Großunternehmens tätig. Sie lebt in Wien. Neben ihrem Krimidebüt 'Wir werden niemals darüber reden' (2013) erschienen bei Helmer auch mehrere erfolgreiche Romane mit lesbischen Protagonistinnen, darunter 'Ellen' und 'Die Spitzenkandidatin'.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Die Tote hinter dem Teeladen
»Ich habe Kreuzschmerzen«, teilte mir mein Patient mit und wirkte dabei fast ein wenig stolz. »Ich will ein paar Spritzen.«
»Ein paar gleich?«, kam es mir süffisant über die Lippen, während ich ihn musterte: ein stämmiger Mann um die sechzig mit geschätzten fünfzehn Kilo Übergewicht, einem geröteten Gesicht und großen, kräftigen Händen, die er vor seinem beleibten Oberkörper verschränkt hielt. Seit drei Monaten war er in Pension. Seine Zugehörigkeit zur einschlägigen Betriebskrankenkasse verriet mir, dass er zuvor sehr lange für einen großen Automobilhersteller, einen der wichtigsten Arbeitgeber dieser Gegend, tätig gewesen war.
»Der Doktor Fischer hat mir immer Spritzen gegeben!«, begehrte mein Patient auf, der mir meine Süffisanz anscheinend tatsächlich gleich verübelte.
Ich unterdrückte ein Seufzen. Mehrmals schon hatte ich die Erfahrung machen müssen, dass die Leute hier in der Region meinen Humor nicht verstanden; ebenso wenig wie ich den ihren. Vor drei Monaten hatte ich als Allgemeinmedizinerin die Praxis meines Vorgängers Dr. Fischer übernommen, der im stattlichen Alter von siebzig Jahren nun endlich auf Druck seiner Frau in den Ruhestand gegangen war. Wenn es mir nicht gelang, mich besser auf die Mentalität der Menschen in diesem Sechstausend-Seelen-Ort einzustellen, konnte ich die Praxis entweder bald schließen oder darauf hoffen, jemanden zu finden, der sich das Landarzt-Dasein so idyllisch vorstellte, wie es diverse Arztserien mit Heimatfilm-Touch glauben machen wollten.
»Ich war am Sonntag deshalb sogar in der Notfallambulanz bei den Barmherzigen Brüdern!« Mein Patient machte ein Gesicht, als hätte er damit alles gesagt, was es zu dem Thema zu sagen gäbe.
Lebhaft konnte ich mir die Kollegen in der Regensburger Klinik vorstellen, wie sie sich nach zwanzig Stunden Dauerdienst voller Begeisterung und Elan um einen übergewichtigen Pensionisten mit Kreuzschmerzen bemühten.
Nehmen Sie ab. Bewegen Sie sich.
Ich hätte vieles sagen können. Stattdessen tat ich, was mein Patient wollte: Bereitwillig infiltrierte ich ihn mit einer Mischung aus Schmerzmittel und Entzündungshemmer.
Während ich ihm die kleinen Nadeln durch die Haut piekste, schlug ich dem Mann das ganze Programm vor: Röntgen. Magnetresonanztherapie. Sonographie. Krankengymnastik. Physikalische Therapie.
»Wenn das bei Ihnen so ernst ist, dass Sie am Wochenende trotz Ihrer Schmerzen dreißig Kilometer in die nächste Universitätsstadt auf die Notfallambulanz fahren müssen, sollten wir der Ursache Ihrer Schmerzen endlich auf den Grund gehen«, sagte ich streng und hörte mich sogar in meinen eigenen Ohren an wie eine Oberlehrerin. »Das gehört ein für allemal abgeklärt!«
Auf einmal waren die Rückenschmerzen doch nicht so schlimm. Er stand auf einem Bein und auf den Zehenspitzen und zeigte mir sogar bereitwillig, wie tief er sich bücken konnte. Ich entließ ihn schließlich mit einer Überweisung zur Physiotherapie und hatte das niederschmetternde Gefühl, dass ich einfach nicht aus meiner Haut heraus konnte.
Ich war keine gute Landärztin.
Als Sozialstation für Einsame, Behelfspsychologin für Menschen mit Kummer und Unterstützerin notorischer Simulanten taugte ich leider gar nicht. Schlechte Voraussetzungen für einen dauerhaften Geschäftserfolg als selbstständige Medizinerin in einer ländlichen Region.
Sogar meine Mutter hatte mir schon prophezeit, dass Aichendorf nicht das geeignete Pflaster für mich war. Ich hatte ihr nicht glauben wollen. Derweil musste es meine Mutter einfach wissen, schließlich war sie hier aufgewachsen.
Auch Susanne hatte schallend gelacht, als ich ihr meine Niederlassungsabsichten unterbreitete, während ich gemeinsam mit drei kräftigen Kerlen meine wenigen Möbel aus unserer ehemals gemeinsamen Wohnung in München-Schwabing holte. Ihre Bemerkung, dass ich die berufliche Selbständigkeit als Ärztin ohne ihre Unterstützung sowieso nicht schaffen würde, gaben mir den nötigen Impuls, um Dr. Fischer endgültig die Praxisübernahme zuzusagen.
Monate nach unserer Trennung überkam mich immer noch blanke Wut, wenn ich an meine Ex-Freundin dachte. Schließlich war sie es doch gewesen, die ständig von »mehr Abstand«, »etwas Distanz« und einer dringend benötigten »Auszeit« in Sachen Beziehung gesprochen hatte und mich damit so lange quälte, bis ich es letztendlich erschöpft aufgab, um unsere Liebe zu kämpfen. Als ich dann den Schlussstrich zog und mit unserer Beziehung konsequenterweise auch die gemeinsame Eigentumswohnung sowie die Gemeinschaftspraxis aufgab, zeigte sie sich komplett irritiert. Anscheinend hatte sie tatsächlich erwartet, dass ich mich zwar auf eine temporär ungewisse Trennung einließ, aber weiterhin mit ihr wohnte und arbeitete, als sei nichts geschehen. Möglicherweise spielte dabei die plötzliche Erkenntnis eine Rolle, dass unsere Trennung auch für sie herbe finanzielle Einschnitte mit sich brachte. Immerhin musste sie mich sowohl hinsichtlich der vor neun Jahren gemeinsam gekauften Eigentumswohnung als auch der Praxis abfinden.
Solange ich noch in einem Münchner Altbau mit Blick auf den Englischen Garten praktizierte, gehörten zu meinem Patientenklientel Schauspieler, Autoren und diverse Künstler sowie Manager, Universitätsprofessoren und höhere Beamte, die allesamt privat versichert waren. Abgesehen von ein paar chronisch Kranken, die zusätzlich vom Facharzt betreut wurden, hatten wir mit Krankheiten wie Depression, Burnout, Migräne, Allergien und Nahrungsmittelintoleranzen zu tun, weniger mit Schlaganfall-Prophylaxe, Dauerschmerzen, Diabetes Typ 2 und anderen altersbedingten Leiden. Dennoch, einfühlsam auf die Patienten eingehen – das konnte Susanne weit besser als ich, wohingegen meine Diagnosen meist treffsicherer waren als die ihren.
Wir hatten uns gut ergänzt.
Aber, aus. Vorbei.
Ich musste mich ändern und an mir arbeiten, wenn ich in dieser neuen, aus Trotz gewählten Situation auf dem Lande dauerhaft bestehen wollte.
Voll der guten Vorsätze erhob ich mich von meinem Drehstuhl und öffnete die Tür des Sprechzimmers. Normalerweise schickte mir meine Sprechstundenhilfe die Patienten der Reihe nach in den Behandlungsraum, doch ein Blick auf die Uhr und die Tatsache, dass Wochenanfang war, ließen mich vermuten, dass Gerlinde gerade anderweitigen Beschäftigungen nachging.
Montag war Labortag und das bedeutete, dass um Punkt elf Uhr ein langhaariger, athletisch gebauter Typ namens Werner erschien, der rein äußerlich Jon Bon Jovi als Leadsänger einer Rockband problemlos hätte doubeln können. Werner war solariumsgebräunt und trug sogar um diese Jahreszeit kurze Hosen, was mich anfangs genauso irritiert hatte wie die Tatsache, dass er mich schonungslos und ungefragt vom ersten Tag an duzte. Mein Titel und meine dunkle Hornbrille, die mich strenger aussehen ließ, als ich in Wahrheit sein konnte, beeindruckten ihn kein bisschen. Werner war der Botenfahrer, der von allen Ärzten der Region Blut- und Stuhlproben einsammelte und sie nach Straubing, der Kreisstadt, ins nächste Labor brachte.
Wenn Werner kam, verwandelte sich Gerlinde, die genauso alt wie ich war, von einer 38-Jährigen in ein pubertierendes Schulmädchen. Sie flirtete ihn an und er flirtete zurück. Allerdings hatte ich ihn einmal durch Zufall in der örtlichen Bäckerei getroffen und dabei erlebt, dass er mit der jungen Bäckerin genauso herumschäkerte wie mit Gerlinde. Daher maß ich dem Geplänkel der beiden nicht viel Bedeutung bei – zumindest, was seinen Part betraf. Trotzdem gönnte ich Gerlinde die Viertelstunde Gekicher, Komplimente und anzügliche Witzeleien. Ihr Mann hatte sie und die zwei gemeinsamen Kinder vor ein paar Monaten wegen einer Jüngeren verlassen und ich wusste, dass sie ihm trotz aller Demütigung, über ein Jahr lang mit ihrer Nachfolgerin betrogen worden zu sein, noch immer nachtrauerte. Gerlinde und ich waren folglich in einer ähnlichen Situation, nur dass ein Werner mir persönlich nicht einmal fünfzehn Minuten lang Glücksgefühle beschert hätte.
Im Gegensatz zu Gerlinde, die irgendwann sicher wieder einmal jemanden fand, der sein Leben mit ihr teilte, würde ich wohl allein bleiben. In dieser Region bestand das einzig denkbare Beziehungsmuster aus Mann-Frau-Kindern und kirchlicher Hochzeit. Als Lesbe würde ich hier ganz gewiss keine Partnerin finden.
Die Suppe, die man sich einbrockt, muss man auch auslöffeln, würde meine Mutter an dieser Stelle sagen, und damit hatte sie leider recht. Niemand hatte mich gezwungen, eine Praxis in Aichendorf zu übernehmen. Ich hätte auch einfach wieder in München am Krankenhaus arbeiten können. Dank des Engpasses an Ärzten, der aufgrund der strikten Numerus Clausus-Regelungen der...




