E-Book, Deutsch, 397 Seiten
Scherzer Der Grenz-Gänger
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8412-1940-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 397 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1940-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Der Meister der literarischen Reportage' Neue Presse.
Jedes Buch Landolf Scherzers beruht auf einem Abenteuer. Diesmal wanderte er in 15 Etappen auf dem ehemaligen innerdeutschen Grenzstreifen zwischen Thüringen, Bayern und Hessen, mehr als 440 Kilometer. Er erzählt von Einzelschicksalen wie von Problemen der Region, die stellvertretend für die des ganzen Landes stehen. Eine aufschlussreiche Langzeitbeobachtung - aktuell und kontrovers.
Landolf Scherzer, 1941 in Dresden geboren, lebt in Thüringen. In seinen großen Langzeitreportagen wie 'Der Erste', 'Der Zweite' und 'Der Letzte' hat er seinen besonderen Blick für brisante Themen bewiesen. Ob nach China, Griechenland oder Kuba, immer wieder bricht er auf, um sich auf faszinierende Begegnungen und Alltagsabenteuer einzulassen, die der Zufall und seine Neugier ihm zuspielen.
Im Aufbau Verlag sind von ihm lieferbar: 'Fänger & Gefangene. 2386 Stunden vor Labrador und anderswo', 'Der Grenzgänger', 'Immer geradeaus. Zu Fuß durch Europas Osten', 'Letzte Helden', 'Urlaub für rote Engel', 'Madame Zhou und der Fahrradfriseur. Auf den Spuren des chinesischen Wunders', 'Stürzt die Götter vom Olymp. Das andere Griechenland', 'Der Rote. Macht und Ohnmacht des Regierens', 'Buenos días, Kuba. Reise durch ein Land im Umbruch', 'Weltraum der Provinzen. Ein Reporterleben' (zus. mit Hans-Dieter Schütt) und 'Leben im Schatten der Stürme - Erkundungen auf der Krim'.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Von einem Toten, der immer noch lebt, einem an der Grenze Himbeeren pflückenden Physiker und bayerischen Beamten, die keine Ossis in ihrer Verwaltung einstellen
Vier Wochen nach meinen mißglückten Messungen stehe ich mit einem aufgehuckten alten grünen Jägerrucksack und einem schwarz-roten (Gold fehlt!) Notizbuch in der Hand vor dem verschlossenen Grenzmuseum in Gräfenthal und frage auf dem Marktplatz, wer den Schlüssel zum Museum verwaltet.
»Wahrscheinlich der Bürgermeister«, meint eine Frau, berichtigt sich aber und stellt ihre schwere Einkaufstasche ab, um mir ausführlich zu erklären, daß es in Gräfenthal zur Zeit keinen Bürgermeister gebe. »Der Kosater hat zwar bei der Wahl trotz drei Gegenkandidaten vierundsechzig Prozent der Stimmen erhalten, denn er hat gut gearbeitet, aber er ist kürzlich wegen Stasi und so von der Landrätin abgesetzt worden.«
Ein fragender Fremder ist in der ehemaligen Grenzstadt immer noch verdächtig. Sofort versammeln sich vier oder fünf Neugierige um mich. Sie erkundigen sich zuerst mißtrauisch nach dem Woher und Wohin, erzählen dann aber bereitwillig die neuesten Ortsgeschichten. Karl-Heinz Kosater (früher SED) arbeitete schon vor der Wende als Bürgermeister. Er war dabei, als sich die Gräfenthaler und die Lauensteiner vor fünfzehn Jahren an der Grenze in die Arme fielen. »Und geheult haben wir damals.« Nach der Wende hat er als Werkzeugmacher gearbeitet. Als dann in Gräfenthal fast nichts mehr ging, die Porzellanfabriken dichtgemacht und der Zugverkehr zwei Jahre vor dem hundertjährigen Jubiläum eingestellt wurden, baten die Gräfenthaler Karl-Heinz Kosater, sich zur Bürgermeisterwahl aufstellen zu lassen.
Eine bisher schweigsame Frau mischt sich ein und schreit: »Hier an der Grenze kennt jeder jeden! Hier vergißt niemand was! In Gräfenthal kann keiner seine Vergangenheit verstecken!«
Eine andere verteidigt den Bürgermeister. »Der hat viel zuwege gebracht. Die Baugenehmigung für das neue Plasta-Werk durchgeboxt, das Grenzmuseum mit aufgebaut, und daß der Markt und die angrenzenden Straßen jetzt für neue Sammelkanäle aufgerissen werden, das hat er auch organisiert.«
Er klagt gegen seine Abberufung, und viele Gräfenthaler haben eine Petition für ihn unterschrieben.
Ich frage, wer den Museumsschlüssel außer dem Bürgermeister noch besitzen könnte.
»Vielleicht die Pastorin«, heißt es.
Im alten Gräfenthaler Pfarrhaus knarren die nach Bohnerwachs riechenden Holztreppen unter meinem Rucksackgewicht so laut, daß ich mich wie ein Dieb vorsichtig hinaufschleiche. Doch die Pastorin, eine schmächtige Frau mit kurzen dunklen Haaren, das Gesicht sehr schmal, als wäre sie lange krank gewesen, öffnet schon, bevor ich klingele. Den Museumsschlüssel besitzt sie nicht.
Als ich frage, wie sie und ihre Gemeindemitglieder fünfzehn Jahre nach der Grenzöffnung leben, bittet sie mich herein. Ihr Mann, schon grauhaarig, mit müden, nur selten lächelnden Augen, kommt wortlos dazu. Sie ist vor vier Jahren nach Gräfenthal gekommen. Zuvor war sie zweiundzwanzig Jahre Pastorin in Jena-Lobeda und Kaltennordheim. Sie kennt Plattenbauten und Kuhstall, aber die Pfarrstelle hier ist die bislang schwierigste, entmutigendste. Manchmal predigt sie in ihrer großen Kirche vor drei Zuhörern. Nie oben von der Kanzel, immer nah bei den Menschen, meist bei den Alten. »Die Jungen gehen weg, und die Alten bleiben aus Verantwortung für das Haus und die Kinder, solange die noch hier sind. Viele fühlen sich schon abgeschrieben.«
An dieser Stelle sagt der Mann in einem mir zuerst schlecht verständlichen Deutsch: »Eltern und Kinder machen sich hier gegenseitig traurig.«
Die Pastorin erklärt leise, daß sie ihn in Israel kennengelernt hat und nun mit ihm zusammen lebt. »Er ist ein Israeli.«
In der näheren Umgebung gibt es keine Synagoge. »Aber beten kann man überall«, sagt er. »Ich bete auch, weil ich Angst habe. Niemand von meiner Familie in Israel versteht, daß ich nach Deutschland gegangen bin, wo junge Neonazis frei herumlaufen und wieder Haß predigen.«
»Die Gräfenthaler leben immer noch unbewußt mit der Grenze«, meint die Pastorin. Man mißtraut einander – immer war ja einer der Judas, der Verräter unter ihnen.«
Der Mann bittet mich, seinen jüdischen Namen nicht aufzuschreiben. »Ich habe Furcht, daß eines Tages fanatische Nationalisten hier die Holztreppe heraufgestürmt kommen.«
Einen Schlüssel zum Grenzmuseum verwaltet der über der Pastorin wohnende Vorsitzende des Gräfenthaler Heimatvereins. Ein junger Mann, dessen T-Shirt mit der Aufschrift »Siemens mobile Handy-Service« über dem Bauch spannt, öffnet mir. Ich frage höflich nach seinem Vater, dem Vorsitzenden des Heimatvereins.
»Ich bin der Vorsitzende«, sagt er lachend.
An einer Längswand seines Wohnzimmers sind über dem Sofa, wie Reliquien, an die fünfzig Truck-Modelle – Bier-Trucks mit dazugehörigen Tanks und Dosen – angebracht. Nicht alle Dosen hat er selbst ausgetrunken. Sein Großvater, sagt er, war der Ortschronist von Gräfenthal, und als er dessen Aufzeichnungen gelesen hatte, verschrieb auch er sich der Heimatgeschichte. »Mit Heimat verbindet sich heutzutage nicht mehr die gemeinsame Arbeit an einem gemeinsamen Ort. Deshalb ist es wichtig, wenigstens die gemeinsame Geschichte zu bewahren.«
Er arbeitet seit über zehn Jahren in einem bayerischen Grenzort. In seiner »Brigade« sind die Ostdeutschen in der Überzahl. »Deshalb laufen unsere Leute, wenn Teile kaputt sind, auch seltener zum Materiallager. Wir Ostdeutschen reparieren erst mal. Es gibt eben noch Unterschiede zwischen den Bayern und uns.«
Das schöne Haus im englischen Landhausstil hat Herzog Georg 1893 den Gräfenthalern als Kinderbewahrungsanstalt geschenkt. Es wurde bis in die DDR-Zeit als Kindergarten genutzt, nun ist das Grenzmuseum darin untergebracht. An den Wänden hängen hinter Glas historische Aufnahmen der ehemaligen Staatsgrenze bei Gräfenthal: eine breite Schneise in sonst dicht bewaldeten Berghängen. Auf dem Fußboden steht ein Holzkreuz, und unter dem Kreuz liegt in blauschwarzem Schiefergeröll, einem großen Tankverschluß gleichend, eine schwarze Mine. Auf dem Kreuz ein Erinnerungsschild: »Gegenüber dieser Stelle wurde am 21. 05. 1973 der NVA-Soldat ›Harry‹ beim Verlegen von Minen tödlich verletzt. Er starb einen sinnlosen Tod. Errichtet von den Beamten des Zollkommissariates Ludwigstadt.« Trotz des Protestes der DDR-Regierung stand dieses Todeskreuz bis zur Wende auf BRD-Seite. Der NVA-Soldat »Harry« lebt noch …
Neben dem Kreuz hängen die Fotos eines Liebespaares, Sieglinde Bunde (21) und Laszlo Balogh (18). Als die Aufenthaltsgenehmigung des Ungarn in der DDR nicht verlängert wurde, beschlossen sie, in den Westen zu fliehen. Am 22. Juni 1973 überwanden sie nachts gegen drei Uhr zwischen Spechtsbrunn (DDR) und Tettau (BRD) den ersten Metallzaun. Vor dem zweiten explodierte eine Mine, zerfetzte dem Mädchen das Bein. Ihr Freund wollte sie über den Zaun heben. MPi-Salven. Er blieb »feindwärts« tot am Zaun liegen. Sie blutend über ihm.
Auf einer anderen Tafel ist die Geschichte eines Mannes dokumentiert, der abends in einer Kneipe von Zopten (DDR) wettete, daß er am nächsten Tag aus Lauenstein (BRD) eine Ansichtskarte schicken würde. Er schickte sie und kam unbemerkt über die Grenze zurück. Kurz danach gewann er auch eine zweite Wette, wurde denunziert und verhaftet. Und wenig später freigelassen. Die DDR-Sicherheitsorgane bezeichneten ihn als »nicht zurechnungsfähig«.
Zwischen originalgetreuen Stacheldrahtzäunen und Warnschildern stehen NVA-Grenzsoldaten mit porzellanenen Gesichtern. Sie haben lange, mädchenhafte Wimpern und unbeschmutzte Uniformen. Kein Geruch von Schweiß oder Stiefelwichse. Uniformierte, lächelnde Schaufensterpuppen mit geschulterter MPi.
Eine gute halbe Stunde später erreiche ich etwa drei Kilometer außerhalb von Gräfenthal über einen holprigen Wald- und Wiesenweg die ehemalige Grenze auf der Höhe. An dem Kolonnenweg, der »Autobahn der Grenzer«, konnten die Soldaten ohne Unterbrechung die Staatsgrenze West von der Ostseeküste bis zur CSSR abfahren. »Geh nicht abseits vom Kolonnenweg. Die Räumtrupps haben noch nicht alle Minen gefunden«, hatten mir fürsorgliche Bekannte vor meiner Grenzwanderung geraten.
Aber noch laufe ich nicht. Ich stehe schweigend und versuche mir vorzustellen, wie es vor fünfzehn Jahren aussah, als hier noch Stacheldrahtzäune, Stahlgitter, Grabensperren, Signalanlagen und Wachtürme standen. Es gelingt mir nicht. In den Löchern der Gitterplatten des Kolonnenweges wachsen filigrane Farne, dickblättriger Breitwegerich, haarige Huflattichblätter, zarte Glockenblumen, kleine Fichtensämlinge. Und rot leuchtende Walderdbeeren. Ich pflücke mir eine Handvoll. Sie schmecken süß und aromatisch.
Zwischen groben Feldsteinen steht auf der Berghöhe eine Tafel: »Köchinnengrab. Hier wurde im 16. Jahrhundert eine Köchin von Schloß Lauenstein wegen Kindesmordes bei lebendigem Leibe begraben und gepfählt.«
Während ich noch überlege, wie man einen Menschen zuerst lebendig begraben und danach pfählen kann, grüßt mich in der vermeintlichen Grenzeinsamkeit eine kleine alte Frau mit einem freundlichen Kopfnicken. Trotz ihres Krückstocks geht und steht sie sehr gerade. Sie trägt viele Ringe an den Händen und zwei goldene Kettchen um den Hals. Der grün-weiß gepunktete Rock und die beigefarbene Seidenbluse sind sorgfältig aufeinander abgestimmt.
Sie wollte heute hier malen, sagt die, wie sie stolz...