E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Scherzer Der Letzte
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8412-1941-1
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1941-1
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Landolf Scherzer ist der Letzte, der sich im Januar 1999 als Berichterstatter beim Thüringer Landtag akkreditieren läßt, um die Parlamentarier bei ihrer Arbeit und im Wahlkampf zu beobachten. Neugierig, nachdenklich, mit Humor und entwaffnender Unbekümmertheit dringt Scherzer - wie schon in seinem fesselnden Buch 'Der Zweite' - in die Tiefen des parlamentarischen Systems der Bundesrepublik vor. Dabei legt er nicht nur die Mechanismen der Macht, nicht nur Kungelei und Korruption bloß, sondern entdeckt auch die Menschen hinter den genormten Politikerfassaden. Einfühlsam werden Biographien Ost- und Westdeutscher protokolliert, Wendehälse, Wendeverlierer und -gewinner porträtiert, einzigartige Schicksale berichtet, die dennoch exemplarisch sind für den Zustand der Republik zehn Jahre nach dem Ende der DDR. Ebenso umfangreich wie der Kreis der Gesprächspartner - neben Abgeordneten aller Fraktionen und dem Ministerpräsidenten z. B. auch der Landtagstischler oder eine Rentnerin im Altersheim - ist der aufgeblätterte Problemkatalog: Investitionsschiebereien, Ausländerfeindlichkeit, Parteispenden, Fraktionsdisziplin, Strukturschwachheit, Arbeitslosigkeit.
Ein ungewöhnlicher Blick hinter die Kulissen der deutschen Politik, geschärft am Beispiel Thüringens, doch übertragbar auf ein System, das den Glanz der Perfektion und Untadeligkeit längst verloren hat.
'Scherzer hält auch der demokratischen Republik einen Spiegel vor, der manchmal schmerzliche Einsichten liefert.' Stuttgarter Zeitung.
Landolf Scherzer, 1941 in Dresden geboren, lebt in Thüringen. In seinen großen Langzeitreportagen wie 'Der Erste', 'Der Zweite' und 'Der Letzte' hat er seinen besonderen Blick für brisante Themen bewiesen. Ob nach China, Griechenland oder Kuba, immer wieder bricht er auf, um sich auf faszinierende Begegnungen und Alltagsabenteuer einzulassen, die der Zufall und seine Neugier ihm zuspielen.
Im Aufbau Verlag sind von ihm lieferbar: 'Fänger & Gefangene. 2386 Stunden vor Labrador und anderswo', 'Der Grenzgänger', 'Immer geradeaus. Zu Fuß durch Europas Osten', 'Letzte Helden', 'Urlaub für rote Engel', 'Madame Zhou und der Fahrradfriseur. Auf den Spuren des chinesischen Wunders', 'Stürzt die Götter vom Olymp. Das andere Griechenland', 'Der Rote. Macht und Ohnmacht des Regierens', 'Buenos días, Kuba. Reise durch ein Land im Umbruch', 'Weltraum der Provinzen. Ein Reporterleben' (zus. mit Hans-Dieter Schütt) und 'Leben im Schatten der Stürme - Erkundungen auf der Krim'.
Autoren/Hrsg.
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Mich friert. Ich laufe vom Erfurter Bahnhof sehr schnell bis zum Parlamentsgebäude an der Arnstädter Straße. Schmutzgraue Reste vom Dezemberschnee auf den Bürgersteigen. Nach einer Viertelstunde Fußmarsch stehe ich vor einem vieltürigen, neu verputzten, gelb gestrichenen Häuserblock mit einem in Stein gehauenen und braun ausgemalten Spruch:
Ȇber jeder Leistung
steht der schaffende Mensch.
Über jedem schaffenden Menschen
steht die Gemeinschaft.«
Sehr klug, denke ich und schreibe ihn ab. Eine ältere Frau mit einer blauen Dederon-Kittelschürze über ihrem dicken selbstgestrickten braunen Pullover, die den Mülleimer ausschüttet, fragt: »Was schreiben Sie da? Wer sind Sie? Woher kommen Sie?«
Als ich ihr sage, daß ich mich im Landtag umschauen und die heutige öffentliche Parlamentsdebatte anhören will und mir der Türspruch als Motto für die neue demokratische Parlamentsarbeit gefällt, verbittet sie sich, daß ich sie verscheißere. »Der Spruch stammt aus der DDR. Und unser Haus gehört nicht zum Landtag, sondern zur über vierzig Jahre alten Erfurter Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft ›Einheit‹.«
Nur um die Ecke finde ich den langen cremeweiß gestrichenen Landtagsbau mit dem repräsentativen Portal, fünf dicke Pfeiler mit dorischem Kapitell, dahinter schwere Eingangstüren. Davor stehen auf gußeisernen Sockeln zwei mit Lorbeerkränzen gekrönte Fahnenmasten.
Der Pförtner am Empfangstresen im Vorraum ruft beim Besucherdienst an, fragt, ob noch Platz auf der Besuchertribüne ist, belehrt mich vorsorglich, daß oben auf der Besucherempore jede Meinungsäußerung untersagt sei – auch klatschen dürften nur die Abgeordneten unten –, und teilt mir schließlich bedauernd mit, daß heute alle Plätze besetzt oder schon reserviert seien.
Ich könnte allerdings für die nächste Sitzung vorbestellen. Das will ich nicht. Auch weil ich an die alten HO-Gaststätten-Schilder »Sie werden plaziert« denken muß.
Der Pförtner rät mir, als er sieht, daß ich wie ein Schneider friere, die Ausstellung im Landtagsflur anzuschauen oder in der Kantine einen Kaffee zu trinken. »Der kleine kostet nur 90 Pfennig.«
Ich bedanke mich, aber ich möchte keinen Kaffee. Dann bestaune ich noch die goldglänzenden Treppengeländer, die stuckverzierten Decken, schreibe mir den ebenfalls vergoldeten Spruch in der Vorhalle auf:
»Es sei dem Lande Thüringen beschieden,
daß niemals mehr im wechselnden Geschehen
ihm diese Sterne untergehen –
das Recht, die Freiheit und der Frieden«,
nehme die ausgelegten Broschüren über Geschichte und Gegenwart des Thüringer Landtages mit und trotte wieder hinaus in die Kälte.
Bei meinem zweiten Versuch der Annäherung an den Landtag tausche ich meine Rolle als frierender, sich aufwärmen wollender Tribünenbesucher mit der eines Journalisten, der als Parlamentsberichterstatter akkreditiert werden will.
Zwei schöne junge Frauen erledigen unbürokratisch die Anmeldeformalitäten, richten mir ein Landtagspressefach ein, raten, Mitglied der Landespressekonferenz, der Vereinigung der Parlamentsberichterstatter, zu werden. Dann würde ich auch sämtliche Protokolle der Landtagssitzungen erhalten, außerdem mit einer Chipkarte wie die Abgeordneten kostenlos (»nur dienstlich«) telefonieren und das Auto auf dem Parkplatz des Landtages abstellen können.
Als ich erzähle, daß ich bis zur Wahl im September das Parlament und die Parteien beobachten und beschreiben und die neue Demokratie begreifen will, zweifeln die beiden, daß die Zeit zum Begreifen ausreicht.
»Sie sind sicher DER LETZTE, der sich kurz vor dem Ende der Legislaturperiode noch als Berichterstatter anmeldet. Bestimmt ist es schon zu spät, um gründlich hinter parlamentarische Arbeit und Politikertricks zu schauen.«
Zuerst solle ich mich jedoch bei ihrem Chef – »wie fast alle Chefs der Landtagsverwaltung ein schwarzer Wessi« – vorstellen.
Der Landtagspressechef, Regierungsdirektor Thomas Schulz, um die vierzig, glatt gescheiteltes Haar, flinke, aber unsichere Augen, steht hurtig von seinem Stuhl auf und kommt mir trotz zweier Fußprothesen sehr schnell entgegen. Überhöfliche Begrüßung. »Herr Scherzer, wir haben hier im Hohen Haus nichts, aber auch gar nichts zu verbergen. Der Thüringer Landtag ist ein gläserner Landtag. Sie können, ohne es bei mir anmelden zu müssen, ungefragt über die Arbeit aller Abgeordneten schreiben, und die Abgeordneten dürfen Ihnen erzählen, was sie wollen.«
Das freut mich. Mein bisheriges »Wissen« über den Thüringer Landtag beschränkt sich auf Angelesenes:
Der höchste Souverän in der parlamentarischen Demokratie ist das Volk … Verfassungsklage der PDS gegen die automatische jährliche Diätenerhöhung für Thüringer Abgeordnete (zur Zeit 7300 DM und 1900 DM Aufwandsentschädigung) … Die Abgeordneten sind nur ihrem Gewissen verantwortlich … Die als Stasi-IM verdächtigte PDS-Abgeordnete Almuth Beck will ihr Landtagsmandat nicht abgeben … Der CDU-Abgeordnete Fiedler prügelt sich im Erfurter Kleopatra-Puff …
Regierungsdirektor Schulz sagt, daß er das Verhalten von Abgeordneten nicht kommentiert. Ihr Privatleben nicht und auch nicht, wie oft jemand bei den Landtagssitzungen in der Kantine Kaffee oder Bier trinken würde. Und er wiederholt, daß ich im Gegensatz zu früher heute alles schreiben darf.
Ich sage, daß ich zuerst den Verwaltungsleiter vom Landtag und den Architekten, der seit 1990 den ehemaligen Rat des Bezirkes umbauen läßt, sowie den Hausmeister und die Handwerker interviewen werde.
Er nickt und verspricht, sofort ein Gespräch mit dem Verwaltungsleiter Eberhard Ott und dem Architekten Gottfried Langelotz vorzubereiten. »Alle Interviews im Hause, gleich ob mit dem Schlosser oder dem Direktor, müssen Sie bei mir anmelden. Mit Herrn Ott und Herrn Langelotz machen Sie wegen der Kleiderordnung am besten ein Doppelinterview. Denn wenn Sie zuerst mit seinem Untergebenen, dem Architekten Langelotz, sprechen, könnte sich der Leiter der Inneren Verwaltung übergangen fühlen. Und das Interview selbstverständlich in meinem Beisein.« Aber vorlegen müßte ich das Geschriebene nur, wenn ich wörtliche Rede verwenden würde.
Ich gehe und suche im Keller ohne Genehmigung die Handwerker. Finde die Materiallager, die Heizungsräume, aber keine Werkstätten. Schließlich kommt mir ein sehr großer Mann mit umgehängter Werkzeugtasche entgegen: der Schlosser, der, wie er sagt, nach den Personaleinsparungen auch der Gärtner des Landtages ist.
Ich frage ihn, in welchem der Kellerräume sich früher die Gestapo-Zellen befanden. Das weiß er nicht. Sagt er. »Ich darf über meine Arbeit und den Landtag keine Auskunft geben.«
Das heutige Landtagsgebäude (in der DDR regierte darin der Rat des Bezirkes) wurde von 1936 bis 1939 als Behördenhaus für insgesamt 1514500 Reichsmark errichtet. Das waren zwar 553500 Reichsmark mehr, als der preußische Staat für das neue Regierungs- und Polizeigebäude in seiner Enklave im Land Thüringen ausgeben wollte, aber Preußen ließ sich seine »Manifestation preußischen Staats- und Bauwesens« in Thüringen etwas kosten (der preußische Ministerpräsident Göring 1933 in Erfurt: »Wir werden keinen Fußbreit preußischen Bodens abtreten!«).
Am 10. Oktober 1936 feierlicher Spatenstich. Fahnendelegationen und ranghohe NSDAP-Würdenträger, 8000 Volksgenossen von Arbeitsdienst, NSDAP, Polizei, SA, SS, Kyffhäuserbund, Feuerwehr und anderen Vereinen amüsieren sich nach völkischen Reden bei Marsch- und Schlagermusik, Ritterspielen, Sportübungen, Feuerwerk, Theaterspiel der Städtischen Bühnen und Ochsen am Spieß.
Bei der Schlüsselübergabe am 6. Mai 1939 fällt die Feier bescheidener aus – man spart schon für den Krieg.
Entstanden ist ein im Stil des preußischen Klassizismus gebauter viergeschossiger kubischer Block mit 108 (ich habe sie gezählt) werksteineingefaßten (schmucklosen) akkurat in Reih und Glied angeordneten Fenstern in der Vorderfront. Das scheinbar endlose Gleichmaß der Fensteranordnung soll preußische Ordnung, Disziplin und das Einfügen in die Gemeinschaft ausdrücken. Eben ein Behördenhaus.
Im Keller Diensträume der Geheimen Staatspolizei.
Und Gefängniszellen für die Verhöre …
Ich bin reich geworden. Bislang habe ich weder ein Depot noch einen Geldtresor besessen. Nun aber gehört mir im Landtag eines der über 300 neben der Poststelle angebrachten Schließfächer, das man im Gegensatz zu einem Banktresor nicht von außen mit eigenen Wertsachen füttern muß, sondern das täglich von innen reichlich gefüllt wird. In Breite und Länge geht ein Schnellhefter hinein, übereinandergestapelt 20 Zentimeter Papier. Nach 10 Tagen passe kein Blatt mehr hinein, da müßte ich es unbedingt leeren, sagt mir ein großer, stämmiger Mann in der Poststelle, der so gar nicht wie ein Postbeamter aussieht, sondern mit seinen Haar- und Bartstoppeln einem grauen Wolf ähnelt. Ich frage, wie lange er vor der Anstellung im Landtag bei der Deutschen Post gearbeitet hat.
»Überhaupt nicht«, sagt er. »Ich bin ein Quereinsteiger.« Von Beruf sei er Werkzeugmacher, später Meister für Maschinenbau und Instandhaltung. Er fragt erstaunt: »Interessiert Sie das?«
Ich nicke.
»Also zuerst war ich bei...