Scherzer | Leben im Schatten der Stürme - Erkundungen auf der Krim | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Scherzer Leben im Schatten der Stürme - Erkundungen auf der Krim


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8412-3069-0
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-8412-3069-0
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
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Die Krim - eine Region, die ein Paradies sein könnte, aber zum Spielball zerstrittener Länder wurde 

Landolf Scherzer, der 'Spezialist für Recherchen vor Ort', fuhr 2019 auf die Krim. Er ahnte nicht, dass es der Vorabend eines Krieges zwischen Russland und der Ukraine war. Aber aus seinen Beobachtungen und Begegnungen wird die historische Dimension der Konflikte deutlich. Das Porträt einer Krisenregion entsteht, das weder vereinfacht noch verurteilt und dadurch umso wahrhaftiger und lebendiger ist. 

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Landolf Scherzer, 1941 in Dresden geboren, lebt in Thüringen. In seinen großen Langzeitreportagen wie 'Der Erste', 'Der Zweite' und 'Der Letzte' hat er seinen besonderen Blick für brisante Themen bewiesen. Ob nach China, Griechenland oder Kuba, immer wieder bricht er auf, um sich auf faszinierende Begegnungen und Alltagsabenteuer einzulassen, die der Zufall und seine Neugier ihm zuspielen. Zuletzt erschien 'Buenos Días, Kuba. Reise durch ein Land im Umbruch'. 2021 stellte Hans-Dieter Schütt ihn und seine Bücher im Gespräch vor: 'Weltraum der Provinzen. Ein Reporterleben'.
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Von einer Plüschente, die die Überwachungskamera in der Meldebehörde von Saki bewacht, einer Krimtatarin, die blau gesäumte gelbe Umhänge für Putin häkelt, und Timur-Leng, dem hinkenden Welteroberer


Nach einigen Minuten flackert die Glühbirne auf. Kurz darauf erlischt sie wieder. Ich könnte zur Babuschka hinuntergehen und sie nach dem Grund für den Stromausfall fragen. Doch ich bleibe vor dem Fenster stehen und schlucke die Dunkelheit. Erinnere mich, was mir Bekannte, selbst ernannte »Russlandexperten«, und das deutsche Auswärtige Amt vor meiner Reise privat und offiziell geraten oder verboten hatten. Unter anderem sollte ich niemand fragen, ob er lieber auf einer ukrainischen oder der russischen Krim leben möchte … Als Tourist dürfte ich keine Interviews führen … Und ich sollte einem Krimtataren um Allahs willen keinen Schnaps anbieten, denn die würden, anders als wodkaliebende Russen, niemals Alkohol trinken … Am kompliziertesten sei jedoch die Einreise auf die Krim: Ausländische Touristen dürften nicht von der Ukraine aus auf die »russische Krim«. Und wer, wie ich, mit einem russischen Visum über Moskau auf die Krim fliegt, macht sich nach ukrainischem Gesetz des illegalen Grenzübertritts in die Ukraine schuldig. Mindestens zwei Jahre dürften diese »Grenzverletzer« keinen ukrainischen Boden betreten, und sie könnten dort verurteilt werden.

Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, hatte 2018 gefordert, dass deutsche Personen des öffentlichen Lebens, die mit einem russischen Visum von Moskau auf die »ukrainische Krim« fliegen, bei ihrer Rückkehr auch in Deutschland vor Gericht gestellt werden. Was nicht geschieht. Doch das Auswärtige Amt in Berlin warnt alle Bundesbürger offiziell vor einer Reise auf die Krim. Man sei dort, weil illegal in die Ukraine eingereist, ohne deutschen diplomatischen, medizinischen und rechtlichen Schutz.

Ich bin ein Illegaler!

Aber in meiner Hosentasche steckt Wassjas Brief als ordentlich gefaltetes Eintrittsbillett. Eintritt wofür? Es gibt Billetts, um Theater, Museen und Stadien zu besuchen … Aber wahrscheinlich keine Eintrittskarten in fremdes Leben.

Das Licht brennt wieder. Ich ziehe den Vorhang vor das nicht zu öffnende Fenster und gehe hinunter zu Gulnada. Sie sitzt mit ihrer Tochter Sera, deren Mann Reschit und den zwei Enkeln in der Küche. Ohne zu fragen, ob ich hungrig bin, bringt sie mir sofort usbekischen Plow: Reis mit Möhren, Zwiebeln, Rosinen, Lammfleisch. Dazu tatarisches Fladenbrot. Danach usbekischen grünen Tee. Und zum Schluss noch russische Mischka-Pralinen.

Ich frage, ob sie Ukrainerin, Tatarin, Usbekin oder Russin ist.

Statt ihrer antwortet Reschit: »Wir sind Usbeken und Russen und Ukrainer. Aber zuerst Tataren! Krimtataren! Muslime!«

Die zwei Frauen wiederholen ständig: »Kuschai! Kuschai! – Iss! Iss!« Also noch einmal Kekse und noch einmal Konfekt. Und noch einmal Tee und noch einmal Plow. Dann in Scheiben geschnittene Äpfel.

Wenn ich wenig esse, beleidige ich sie, sagt die wohlbeleibte Babuschka. Das will ich nicht. Auch nicht, als sie noch einmal Tee nachgießt und Eierkuchen und Feigenkonfitüre auf den Tisch stellt. Danach holt sie eine Flasche aus dem Vorratsraum.

»Wein von den eigenen Weinstöcken vor unserem Haus. Und aus von eigenen Händen geernteten Weintrauben. Und mit eigenen Händen gekeltert«, sagt sie beim Einschenken.

Süßer roter Krimwein! Für alle!

Das erste Glas auf den Gast.

Nachdem ich ihnen von der Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für die Krim erzählt habe, stoßen wir mit dem zweiten Glas auf meine Illegalität an.

Ich erinnere mich an die Ratschläge deutscher Experten und frage unsicher: »Muslimische Krimtataren trinken Alkohol?«

Die Babuschka: »Selbst gemachter Wein ist kein Alkohol.«

Ich: »Aber auch kein Traubensaft.«

Sie: »Erst im Geschäft verkauft, wird er zu Alkohol.«

Und Reschit ergänzt: »Nur dem Mann, der zu oft und zu viel trinkt, zürnt Allah.«

Als die Babuschka die leere Flasche zur Seite stellt, holt sie keine neue. Aber sie schneidet Salami in dünne Scheiben und brüht noch einmal Tee.

Die Teekrümel quellen im heißen Wasser zu großen Blättern.

Es ist inzwischen halb zehn. Das Licht brennt ruhig. Die Kinder toben nicht mehr. Das zierliche siebenjährige Mädchen sitzt mit ordentlich geflochtenen Zöpfen in einem blumengemusterten Kleid auf dem Schoß der Mutter und schreibt geduldig die Zukunftsformen des russischen Verbs »leben« in ihr Aufgabenheft.

Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder ist genauso groß wie sie. Doch sein weites gelbes T-Shirt spannt über dem Bauch. Wenn die Großmutter ihn nicht beobachtet, stibitzt er unentwegt Salamischeiben und Konfekt. Er kniet auf der Sitzbank vor dem Fensterbrett. Darauf liegt ein Computerspiel.

»Er beschäftigt sich vom Aufstehen bis zum Schlafengehen nur noch damit«, schimpft Gulnada. »Sogar wenn der Strom weg ist. Das Ding läuft auch mit Batterien.«

Auf dem Bildschirm schießen gelb gekleidete kleine Monstersoldaten auf Bäumen (!) wachsende rote Rüben und grüne Melonen ab, und Frauen sammeln das Gemüse in Körbe. Danach marschieren die gelben Monstersoldaten übers Feld zum Waldrand. Dort stehen Soldaten in blauen Uniformen. Minuten später liegen Tote und Verwundete zwischen den Bäumen. Der Junge strahlt. Die Babuschka schimpft …

Um zehn hat das Mädchen die Hausaufgaben erledigt. »Rechnen und Schreiben mag ich nicht. Aber Zeichnen und Sprachen.«

»Fremdsprachen?«

»Ja. Wir lernen in der Schule Russisch. Und Ukrainisch. Und Tatarisch.«

Ich verkneife mir die Frage: Nicht nur Russisch?, wie man mir in Deutschland erzählt hatte, denn Reschit ergänzt, dass es zu ukrainischen Zeiten keinen Tatarischunterricht gegeben habe. Den hätten erst 2015 die Russen eingeführt.

Ich sage dem Mädchen auf Deutsch: »Guten Tag! Danke! Bitte! Auf Wiedersehen!«

Sie wiederholt es dreimal und sagt stolz: »Nun spreche ich schon vier Sprachen. Ich werde später in Russland, der Ukraine, Tatarstan oder Deutschland leben können.«

Russisch: »Dobroho dnja! Spassibo! Pashalujstwo! Do swidania!«

Ukrainisch: »Choroschy den! Djakuju! Laskawo prossymo! Pobatschennja!«

Tatarisch: »Chercher! Rachmat! Sau bul! Kureschkendje!«

Und Deutsch: »Gutted Ach! Tanke! Bjitte! Auf Widdersän!«

Sera bringt die Kinder ins Bett.

Gulnada streut Salz in die Gemüsesuppe, die in einem sehr großen – Thüringer würden sagen – Kloßtopf auf dem Herd köchelt.

»Für morgen. Ich koche jeden Tag für alle.«

Sie klopft auf ihren Bauch und meint lachend: »Man sieht es doch.«

Ich frage, weshalb sie heftig genickt hatte, als Reschit behauptete, dass sie sowohl Usbeken als auch Ukrainer, Russen und Tataren wären.

Sie fischt für mich ein Fleischstückchen als Kostprobe aus dem Topf und pustet vorsorglich. »Verbrenn dir nicht den Mund!«

Während ich kaue, klärt sie mich auf, dass sie nach der Deportation ihrer Eltern in der Usbekischen Sowjetrepublik geboren wurde. »Wir hatten dort einen usbekischen Sowjetpass. Als wir 2008 auf die Krim kamen, lebten wir mit einem ukrainischen Pass in der Ukraine. Inzwischen mit einem russischen Pass in Russland. Aber immer sind wir Tataren, Krimtataren, geblieben. Und werden es bleiben.«

Reschit erinnert mich, dass ich unbedingt morgen in der Meldebehörde von Saki die Aufenthaltsgenehmigung für Ausländer beantragen muss. »Nur damit kannst du deine Euro hier gegen Rubel eintauschen und später ohne Probleme zurückfliegen.« Die Behörden auf der Krim würden die neuen russischen Vorschriften peinlich genau befolgen. Bei der Ein- und Ausreise und auch beim Umtausch des Geldes wären sie kleinlicher als die Russen in Russland. Bis 2014 hätte jeder auf der Krim Euros oder Dollars in ukrainische Griwni tauschen und die westlichen Touristen dabei auch mal übers Ohr hauen können. »Doch jetzt dürfen Ausländer ihr Geld nur noch in der Bank zum staatlichen Kurs in Rubel wechseln.«

Ob er mich morgen früh nach Saki fahren und mit mir zur Meldebehörde gehen kann, weiß er noch nicht. »Ich...



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