Scherzer | Urlaub für rote Engel | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Scherzer Urlaub für rote Engel

Reportagen
2. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8412-0243-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Reportagen

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-8412-0243-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die ungeschönte Wirklichkeit.

Für diese Reportagen hat Landolf Scherzer wieder 'weiße Flecken in der Landschaft der sozialen Wirklichkeit dieses Landes' (Günter Wallraff) betreten: Er wollte von der Treuhand ein Rittergut kaufen, traf in Thüringen eine westdeutsche Puffmutter, begegnete einer lebensmüden Arbeitslosen und hat die Millionäre im 'Goldstaubviertel' von Radebeul gesucht.



Landolf Scherzer, 1941 in Dresden geboren, lebt in Thüringen. In seinen großen Langzeitreportagen wie 'Der Erste', 'Der Zweite' und 'Der Letzte' hat er seinen besonderen Blick für brisante Themen bewiesen. Ob nach China, Griechenland oder Kuba, immer wieder bricht er auf, um sich auf faszinierende Begegnungen und Alltagsabenteuer einzulassen, die der Zufall und seine Neugier ihm zuspielen.

Im Aufbau Verlag sind von ihm lieferbar: 'Fänger & Gefangene. 2386 Stunden vor Labrador und anderswo', 'Der Grenzgänger', 'Immer geradeaus. Zu Fuß durch Europas Osten', 'Letzte Helden', 'Urlaub für rote Engel', 'Madame Zhou und der Fahrradfriseur. Auf den Spuren des chinesischen Wunders', 'Stürzt die Götter vom Olymp. Das andere Griechenland', 'Der Rote. Macht und Ohnmacht des Regierens', 'Buenos días, Kuba. Reise durch ein Land im Umbruch', 'Weltraum der Provinzen. Ein Reporterleben' (zus. mit Hans-Dieter Schütt) und 'Leben im Schatten der Stürme - Erkundungen auf der Krim'.

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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1;Inhalt;6
2;»Schreib das auf, Scherzer!«;8
3;I;12
3.1;Feenmärchen zu verkaufen;14
3.2;Die Meile der Eitelkeiten;24
3.3;Der sterbende Schwan in der Elsteraue;37
3.4;Die Kalikarawane;50
3.5;»Spiel mir das Lied vom Tod!« I;68
3.6;»Spiel mir das Lied vom Tod!« II;83
3.7;Wir himmeln hier per Hand;99
3.8;Das Innere der Glaskugel;110
3.9;Sag Sascha, nicht Alexander! oder: »Die Eltern haben drei Kinderärzte totgeschlagen«;127
3.10;Die Erben der Öfen oder: »Das ist der Bengel von dem Kriegsverbrecher!«;137
3.11;Ein Gebirge wird verkauft oder: »Das Lied können Sie heute getrost wieder anstimmen«;144
3.12;Nach der Himmelfahrt auf Hiddensee;151
3.13;Straßengeschichten;162
3.14;Ria S. (43): »Ich sprang nicht … Ich heulte nur«;174
3.15;Urlaub für rote Engel;180
3.16;Anschaffen im Osten;194
3.17;Nebenan »Zum letzten Heller«;200
3.18;Die Reichen von Radebeul;216
3.19;Die Vermesser;231
4;II;262
4.1;Von Erfahrungen, die man bei serbischen Zigeunern und moçambiquanischen Maurern sammeln kann;264
4.2;Von den Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeiten beim Verfassen von Reportagen;275
4.3;Textnachweise;284


Feenmärchen zu verkaufen


Als ich im Geraer Ortsteil Roschütz eine alte Frau nach dem Rittergut frage, mustert sie mich ungläubig und will wissen, ob ich es auch kaufen möchte. Ich nicke, und mütterlich rät sie, mich möglichst nicht bei den Bewohnern blicken zu lassen. Die würden am liebsten ihre Wohnungen verbarrikadieren, denn sie wüssten ja nicht, was der neue Gutsbesitzer dann daraus machen würde. »Vielleicht Pferdeställe.«

Nach dieser Warnung weist sie mir den Weg durch Wiesen und Äcker zum Rittergut. Es thront auf einer Anhöhe weit draußen am nördlichen Ortsrand von Gera. Der Dezemberwind bläst kalt, und ich laufe mich im Geviert von Gutshaus, Wirtschafts- und Wohngebäude und Stallungen warm. Eine Frau Eckstein, die mir im Auftrag der Liegenschaftsgesellschaft der Treuhand die Gebäude zeigen und anpreisen soll, ist auch eine Viertelstunde nach dem vereinbarten Termin noch nicht zu sehen.

Wütend klinke ich an den Türen des herrschaftlichen, mit vielen Erkern und Fachwerk geschmückten dreistöckigen Gutshauses. Die sind verschlossen. Ich versuche durch die Fenster ins Innere zu lugen, aber die sind blind oder mit rindigen Abfallbrettern vernagelt … Dabei schien mir der Schlosskauf bis zu diesem Moment sehr einfach.

Ich hatte mir in dem »Schlösser für die Zukunft. Fairytales for sale«-Hochglanzkatalog, mittels dessen die Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft für den Richtpreis zwischen 1 DM und 3.800.000 DM 20 Burgen, Schlösser und Herrenhäuser, gelegen auf dem Gebiet der alten DDR, in aller Welt anbietet, ein kleines und ein großes Anwesen ausgesucht: das Rittergut bei Gera für 2.100.000 DM und das Marienthaler Schlösschen bei Schweina (Wartburgkreis) für 430.000 DM. Rief bei den zuständigen Treuhand-Büros in Gera und Suhl an, erhielt von dort je ein dickes grünes undurchsichtiges Kuvert, in dem ich bis zum 14. Dezember 1994 um 14 Uhr einen Erwerbsantrag mit Angaben zur Schlossnutzung, zu den geplanten Investitionen, den gesicherten Arbeitsplätzen, dem Kaufangebot, meinen Referenzen, Bankverbindungen und dem Nachweis meiner Bonität abzugeben hatte. Zuvor nannte man mir einen Besichtigungstermin. Und zu diesem Termin stehe ich nun frierend vor den verschlossenen Türen des Rittergutes.

Bis 1893 war es als Herrschaftssitz in adligen Händen geblieben. Anschließend Sommerresidenz Geraer Großindustrieller. Nach deren Weltwirtschaftskrisen-Bankrott musste es 1930 schon einmal in Treuhandverwaltung. Und die ließ es zu einem Reichsarbeitsdienstlager für Mädchen umfunktionieren. Nach dem Krieg Lazarett der Roten Armee. Später Internat für die Ausbildung von Thüringer Volksrichtern, schließlich bis zur Wende Schulungsstätte für Pionierleiter und nach dem Systembankrott wieder im Besitz der Treuhand. Deutsche, für mich vorerst noch verschlossene Zeitgeschichte …

Eine Tür des flachen, lehmbraun verputzten und trotzdem ungeniert seine roten Ziegel zeigenden Wirtschafts- und Wohngebäudes öffnet sich. Drinnen wischt eine junge Frau das Treppenhaus. Nein, sagt sie, die Eckstein hätte sie heute noch nicht gesehen. Sie schaut mich eher neugierig als feindselig an, erzählt, dass es hier inzwischen wie im Taubenschlag zugehen würde. Gleich nach der Wende wären Frauen aus der BRD gekommen. »Die standen im Hof und erinnerten sich andächtig der Zeit im Reichsarbeitsdienstlager.« Die ehemals verwundeten russischen Soldaten wären noch nicht wieder erschienen. »Haben jetzt wohl andere Sorgen.« Dann aber die feinen Herren Schlosskäufer aus dem Westen. »Die den Mund nicht aufkriegen, naserümpfend hier umherstolzieren und genauso wortlos wieder verschwinden. Aber noch schlimmer sind die neuen Möchtegernreichen aus dem Osten, die im alten Mercedes vorfahren. Die latschen, ohne sich die Schuhe abzutreten, in unseren Wohnungen herum, taxieren den Grundriss des Kinderzimmers und sagen grinsend: ›Das gibt ’ne schöne Bar oder so was Ähnliches.‹«

Sie schüttet das Spülwasser neben der Tür aus. Vier Familien, eine mit vier Kindern und einem Hund, würden noch in dem alten Wirtschaftsgebäude wohnen. Alle hätten bis 1990 in der Pionierleiterschule, also dem früheren herrschaftlichen Gutshaus, gearbeitet. »Die Frauen in der Küche oder im Sekretariat, die Männer als Heizer oder Hausmeister.«

Von Frau Eckstein noch immer keine Spur. Dafür gesellen sich der ehemalige Heizer und der Hausmeister zu uns. Der Heizer ist unrasiert. Seine Augen weichen aus, wenn man ihn anschaut. Seit reichlich drei Jahren würde er die Pionierleiterschule nicht mehr beheizen. »Niemand heizt dort. Im Winter sind die Wasserleitungen aufgefroren. Drei Winter ohne Heizung haben drinnen mehr kaputtgemacht als 40 Jahre DDR.« Und er rechnet mir vor, wie wenig die Kohlen und seine Arbeitsstunden die Treuhand gekostet hätten: »Nicht mal einen Bruchteil von der Summe, die man nun braucht, um die Nässe wieder rauszukriegen … Aber es ist ja nicht ihrs.« Und der Hausmeister erzählt, dass er seine Wohnung, die ja auch nicht seine wäre, im letzten Jahr vom eigenen Geld renoviert, das Bad gefliest hätte. »Doch wenn jetzt einer kommt, der den Krempel kauft und uns rausschmeißt, werde ich zuvor alles eigenhändig wieder abhacken.«

Ich frage, weshalb die vier Familien das Wirtschaftshaus, das 400.000 DM kosten soll, nicht zusammen kaufen.

Die Frau, sie heißt Liebherr, lächelt böse. »Wir waren deswegen schon bei der Bank, aber in zwei der Familien hat niemand mehr Arbeit. In solch einem Fall verborgt die Bank keinen Pfennig.«

Frau Eckstein erscheint an diesem Tag nicht mehr. Die Türen vom Roschützer Rittergutshaus bleiben mir verschlossen.

Bevor ich zum Marienthaler Schlösschen fahre, erkundige ich mich in der Suhler Außenstelle nach den Besichtigungsmöglichkeiten.

Die dortige Treuhand residiert in der dickmäurigen, einer runden Trutzburg nicht unähnlichen ehemaligen Stasi-Zentrale Südthüringens. Hier drin war ich noch nie, weder vorher noch hinterher.

Ein grell bemaltes Fitnesscenter wirbt mittlerweile für Sauna, Schönheit, Kraft und Entspannung. Zwischen vielen Büros finde ich in einem langen Gang die Liegenschaftsgesellschaft. Und Frau Brandt – früher Arbeitsökonomin, dann arbeitslos, Umschulung und nun verantwortlich für den Verkauf von Betriebsferienlagern, Bungalows und Schlössern – versichert mir, dass ich mich wegen der Schlossbesichtigung jederzeit beim Pförtner des nebenan stehenden Kugel- und Rollenwerkes Schweina melden könnte.

Der Betrieb, der sich mit seinen großen alten Hallen kilometerweit in der Flussaue ausbreitet, ist nicht zu verfehlen, doch das Schlösschen finde ich nicht. Und Ortsansässige, die ich nach dem Marienthaler Schlösschen frage, kratzen sich den Kopf: »Ein Schlösschen? Ham wir hier nicht.« Bis mir einer sagt: »Das ist unser Betriebskulturhaus, unten Küche und Kantine drin, das heißt, seit zwei Jahren ist die Küche dicht.«

Das Schlösschen, ein zweigeschossiger, streng symmetrischer klassizistischer Bau, sieht ein bisschen nach Kantine aus. Schmuddelig. An der Hinterseite hat man eine dicke Heizschlange wie eine Infusionsleitung in das Gemäuer gesteckt. Darunter eine hässliche Rampe, wohl zum Verladen von Rotkohl und Kartoffeln … Der Park (24.000 Quadratmeter!) ist verwildert, mittendrin ein Schießstand und Teiche, zu Tümpeln verwunschen. Der Pförtner des Betriebes hat die Schlüssel zum Schloss. Er telefoniert mit Herrn Zimmermann, der mir aufschließen soll. Das dauert. Und der Pförtner erzählt mir inzwischen vom vielleicht letzten Stündlein des 1879 gegründeten Großbetriebes. Seit einem Jahr laufe die Liquidation, wenn in den nächsten zwei, drei Monaten kein Käufer gefunden würde, sei endgültig Schluss.

Herr Zimmermann, Mittelalter und schlank, im Betrieb für Ver- und Entsorgung verantwortlich, ist freundlich, aber sehr in Eile. Er probiert lange mit den Schlüsseln des dicken Bundes. Die Außentür knarrt. Drinnen ist es warm.

»Sie heizen noch?«

»Ja, ist zwar nicht mehr unser Kulturhaus, aber es war ja so lange unser.«

Im Speisesaal stehen über 200 Stühle. Die Essenausgabe. Tafeln mit Speiseplan und Essenvorauswahl an der Wand. Ein Vorwende-Zettel: »Ung. Gulasch mit Gemüse und Kartoffeln: 1,20 Mark. Linsensuppe: 0,60 Mark.«

Die Küchenkessel sind demontiert. Eine schöne Wendeltreppe führt hinauf in das Obergeschoss. Kultursaal. Betriebsbibliothek. Hier stehen noch Honecker neben Heym und Kant neben Kafka. Die Betriebsschneiderstube. Und dann ein Extraschlüssel für das Fröbelzimmer. 1851 war der weltbekannte Pädagoge Friedrich Fröbel, der Vater des Kindergartens, in das 1833 errichtete Marienthaler Schlösschen eingezogen und gründete im Auftrag des Meininger Herzogs das erste Seminar für Kindergärtnerinnen in Deutschland. Hier starb er im Juni 1852, kurz nachdem die Kindergärten in Preußen verboten worden waren. An sein Grab in Schweina pilgern jährlich Hunderte Japaner, denn Fröbels Pädagogik ist ein Bestandteil des heutigen japanischen Erziehungssystems.

Wieder vor der Tür, fragt Herr Zimmermann, ob ich den Park besichtigen möchte.

»Nein, den kenne ich. Die Teiche müsste man aufräumen.«

Er schüttelt den Kopf. »Mit Aufräumen allein ist da nichts getan, seit Jahren fließen die Abwässer des Betriebes dort hinein. Die Schlösser und Betriebe, die die Treuhand heutzutage immer noch wie Sauerbier anbietet, muss, das sind eben wirklich die Letzten.«

Zimmermann entschuldigt sich, er muss dringend in den Betrieb. In einer halben Stunde könnten wir dann weiter über...



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