Schetter / Mielke | Die Taliban | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2936, 128 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

Schetter / Mielke Die Taliban

Geschichte, Politik, Ideologie

E-Book, Deutsch, Band 2936, 128 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

ISBN: 978-3-406-78604-4
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Taliban geben der Welt Rätsel auf. Sind sie wirklich 'Steinzeit-Islamisten'? Welche Strömungen und Machtzentren gibt es? Das Buch beschreibt Geschichte, Weltbilder und Politik der Taliban von ihrem Aufstieg nach dem sowjetischen Rückzug aus Afghanistan über den amerikanischen 'War on Terror' nach 9/11 bis zu ihrer Rückkehr an die Macht zwanzig Jahre später. Es erläutert die politische Organisation und die wirtschaftlichen Grundlagen der Taliban und erklärt, vor welchen kaum lösbaren Problemen das Islamische Emirat Afghanistan heute steht.
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Einleitung
Seit dem Vietcong in den 1960er-Jahren beeinflusste wohl kaum eine Guerillabewegung so sehr die Weltpolitik wie jüngst die Taliban: Zu Hochzeiten 2010 befanden sich über 130.000 NATO-Soldaten unter US-Führung in Afghanistan im militärischen Einsatz. Die Guerillakämpfer der Taliban zeigten sich jedoch gegenüber den hochgerüsteten Armeen des Westens als gleich stark, wenn nicht gar überlegen. Das Fiasko des Afghanistaneinsatzes offenbarte sich, als die Taliban am 15. August 2021 Kabul ohne Waffengewalt zurückeroberten, nachdem die internationalen Truppen vorzeitig abgezogen waren. Die Bilder vom Kabuler Flughafen, auf dem Tausende Menschen versuchten, das Land zu verlassen, und sich an Flugzeuge klammerten, verdeutlichen die Panik, die die Rückkehr der Taliban unter Teilen der afghanischen Bevölkerung auslöste. Die kontinuierlichen Territorialgewinne der Taliban und ihre vermutete Verortung in der Szene global agierender terroristischer Gruppen sind mit Befürchtungen verknüpft, dass Afghanistan wieder zum Hort internationaler Dschihadisten werden könnte, die von dort aus ungestört Attentate in der ganzen Welt planen, oder dass gar die pakistanische Atombombe in die Hände der Taliban fallen könnte. Der Erfolg der Taliban erscheint umso erstaunlicher, als der Kontrast zwischen ihren vorzeitlich anmutenden Kämpfern und den technologisch hochgerüsteten Soldaten der US- und NATO-Truppen kaum größer sein konnte. Allerdings täuscht dieses Bild vom hinterwäldlerischen Mullah, denn die Taliban professionalisierten sich über die letzten fünfundzwanzig Jahre kontinuierlich und entwickelten eine gut geschmierte Kriegsmaschinerie, die mit modernen Waffen, psychologischer Kriegsführung und orchestrierten Kampfeinsätzen Afghanistan zurückeroberte. Dieser Professionalisierung steht jedoch entgegen, dass die Taliban keiner politischen Partei mit Parteibuch, Statuten, strammen Hierarchien, formalisierten Prozessen oder einer konkreten politischen Vision entsprechen. Viel besser lassen sie sich als eine politisch-militärische Bewegung beschreiben, deren Konturen verschwommen bleiben und deren innere Strukturen klandestin, aber auch anpassungs- und lernfähig sind. Damit erscheinen die Taliban eher als ein rationaler und vor allem pragmatischer Akteur als ein ideologiegetriebenes Monster. Mit diesem Buch versuchen wir über die Betrachtung der Entstehungsgeschichte, Politik und Ideologie der Taliban eine Antwort auf die Frage «Wer sind die Taliban?» zu geben. Dabei sind drei Spannungsfelder zentral für ein Verständnis des Phänomens «Taliban»: Lokal vs. zentral: Afghanistan ist ein gesellschaftliches Mosaik, in dem lokale Gemeinschaften stets einen hohen Grad an Eigenständigkeit für sich beanspruchen. Daher stehen die Taliban kontinuierlich vor der Herausforderung, wie stark ihre Macht institutionell zentralisiert sein soll – etwa bei der Quetta-Schura – bzw. wie viel Eigenständigkeit lokalen Taliban-Verbänden zugestanden wird: Diverse Auflagen und Erweiterungen der Verhaltensvorschriften (laiha) der Taliban im Krieg weisen etwa auf eine Institutionalisierung der Bewegung hin. Dagegen steht die in Afghanistan verbreitete Abgrenzung zwischen den von außen kommenden, fremden gegenüber den eigenen, lokalen Taliban für die Aufrechterhaltung der lokalen Autonomie. Denn mit den «eigenen» Taliban sind diejenigen gemeint, die die Gemeinde vor Einflussnahme von außen schützen und Schaden von ihr abwenden. Im Gegensatz dazu werden unter «fremden» Taliban externe Kämpfer verstanden, die die Taliban-Führung aus den Medresen in Pakistan in den Krieg nach Afghanistan schickt und die die herrschenden Sitten und Werte nicht beachten. Pragmatisch vs. ideologisch: In den Augen des Westens erscheinen die Taliban als engstirnige, rückwärtsgewandte Fundamentalisten. Dies macht sich vor allem an der rigorosen gesellschaftlichen Ausgrenzung der Frau unter den Taliban fest. Jedoch sind ihre Antriebskräfte weit vielfältiger. Talib (arab./pers.) heißt (Religions-)Schüler. Damit bringen die Taliban in ihrer Namensgebung ihre enge Verbundenheit mit Religionsschulen, Medresen (madaris, Sg. madrassa), zum Ausdruck, in denen viele ihrer Begründer prägende Jahre ihres Lebens verbracht haben. Wenngleich sich auch die Trägerschaft der Taliban teilweise aus Medresen rekrutiert, die vor allem in der pakistanischen Grenzregion während des Afghanistankriegs entstanden, stellt die religiöse Ausbildung keine Voraussetzung dar, ein Talib oder Mitglied der Bewegung zu sein. Vielmehr avancierten die Taliban zu einem Sammelbecken verschiedener Gruppen, die von Anhängern der bewaffneten Islamistengruppen (den sogenannten Mudschahedin) der 1980er-Jahre über Kriegsfürsten bis hin zu ehemaligen Kommunisten reichen. Denn die Motivation, sich den Taliban anzuschließen, ist ganz unterschiedlich. Auf der einen Seite dominieren die Logiken einer Kriegsgesellschaft: individuelle und kollektive Konkurrenzen um Ressourcen, Sicherheit und Prestige entscheiden pragmatisch darüber, ob man mit den Taliban kämpft oder gegen sie. Auf der anderen Seite treiben ideologische Überlegungen die Taliban an. Sie speisen sich jedoch aus unterschiedlichen Quellen wie etwa ihren eigenwilligen Auslegungen des Islam, paschtunischen Traditionen, afghanischem Nationalismus oder sozialrevolutionären Vorstellungen. Dies steht einer vereinfachten Betrachtung der Bewegung im Wege: Auch wenn das Gros der Taliban der Ethnie der Paschtunen zuzurechnen ist, finden sich auch Vertreter anderer Ethnien in ihren Reihen; obgleich die Taliban Verbindungen zu al-Qaida und anderen islamistischen Gruppen unterhalten, gibt es viele politische Differenzen. Eigenständig vs. fremdgesteuert: Afghanistan liegt in einer äußerst komplexen geopolitischen Region, die durch divergierende Machtinteressen und anhaltende Konflikte – wie etwa den Kaschmirkonflikt zwischen Pakistan und Indien oder die Konkurrenz zwischen Saudi-Arabien und dem Iran um die Vorherrschaft im Mittleren Osten – geprägt ist. Gleichzeitig sind die Taliban auf externe Unterstützung angewiesen, vor allem finanzieller Art. Konkurrierende Akteure, allen voran der pakistanische Geheimdienst Inter Services Intelligence (ISI) und arabische Mäzene, aber auch al-Qaida, der Iran oder China, nehmen auf die Taliban Einfluss. So befinden sie sich stets in dem Spannungsverhältnis, zum einen die Interessen konkurrierender Förderer zu bedienen, zum anderen sich deren Kontrolle zu entziehen: Immer wieder wurden auf Betreiben ausländischer Mächte wichtige Taliban-Führer ausgeschaltet, da diese eine zu eigenständige Politik verfolgten. Gleichzeitig spielten die Taliban verschiedene externe Förderer gegeneinander aus, um die eigene Abhängigkeit zu reduzieren. Wenngleich sicherlich der pakistanische Geheimdienst ISI den größten Einfluss auf die Taliban ausübt, wäre es zu kurz gegriffen, diese als Marionette Islamabads zu betrachten. Wie diese drei Spannungsfelder aufzeigen, ist das Wissen über die Taliban von offensichtlichen Widersprüchen und Wissensdefiziten geprägt. Dies ist zum einen auf den gesellschaftlichen Kontext zurückzuführen. So ist die afghanische Gesellschaft – bei einer Analphabetenrate von über 60 Prozent – durch Mündlichkeit geprägt. Zum anderen finden sich nur wenige konkrete politische Visionen oder programmatische Strategien, die substanziell Aufschluss über die Motivlagen oder die künftige politische Ausrichtung der Taliban erlauben, wenngleich die Bewegung in den letzten zwanzig Jahren eine professionelle Medien- und PR-Abteilung aufbaute. Think Tanks, Medien und Politik haben sich in der Vergangenheit oft auf nicht überprüfbare Aussagen, einseitige Berichterstattung und zweifelhafte Quellen verlassen, die das Bild der Taliban in der westlichen Öffentlichkeit prägten. Das vermeintliche Wissen über die Taliban basiert häufig auf ungesicherten Informationen aus Geheimdienstquellen oder stammt aus zweiter und dritter Hand. Längerfristige wissenschaftliche Forschung unter Taliban war kaum möglich, um Eindrücke zu triangulieren und profundes Wissen zu generieren. Daher kursiert eine Vielzahl an widersprüchlichen Geschichten, Gerüchten und Interpretationen von Ereignissen, die ein Verständnis des Phänomens «Taliban» erschweren. In vielen Fragen betritt man nach wie vor das Reich der Spekulation. Die Taten der Taliban scheinen für sich zu sprechen. Das in diesem Buch zusammengefasste Wissen ist nur ein Ausgangspunkt, an den angeknüpft werden muss, um die zahlreichen Widersprüche und blinden Flecken zu erhellen. Unserem Versuch einer Annäherung an...


Conrad Schetter ist Professor für Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Bonn und wissenschaftlicher Direktor des Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC). Bei C.H.Beck erschien von ihm außerdem "Kleine Geschichte Afghanistans" (2022).

Katja Mielke, Sozialwissenschaftlerin und Afghanistan-Expertin, arbeitet am Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC). Bei C.H.Beck erschien von ihr und Conrad Schetter "Pakistan. Land der Extreme" (2013).


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