E-Book, Deutsch, 351 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 220 mm, Gewicht: 510 g
Scheu Gespräch und Gegenwart
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-907291-03-0
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Reden über (und gegen) den Zeitgeist
E-Book, Deutsch, 351 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 220 mm, Gewicht: 510 g
ISBN: 978-3-907291-03-0
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
René Scheu (*1974), Dr. phil., studierte Philosophie und Italianistik an den Universitäten Zürich und Triest und promovierte mit einer Arbeit über zeitgenössische italienische Philosophie. 2007-2015 war er Herausgeber und Chefredaktor des liberalen Debattenmagazins Schweizer Monat. Seit 2016 ist er Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung.
Autoren/Hrsg.
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1Markus Gabriel: Gut gelaunter Jungspund
Er schrieb mir am 23. März 2020 aus dem Homeoffice völlig unerwartet eine E-Mail. Maurizio Ferraris und Slavoj Žižek, die er zu seinen Freunden zähle, hätten sich im Feuilleton der NZZ bereits klug ad Corona(m) geäussert, und auch die in der NZZ publizierten Textinterventionen von Giorgio Agamben habe er gelesen. Da könne er, Gabriel, natürlich nicht schweigen, kurzum, er wolle sich, so seine Worte: in die «NZZ-Debatte einklinken». Ich gestehe dem jungen Mann (Jahrgang 1980, also um einige Jahre jünger als ich) Carte blanche zu. Und so verfasst der wie ein alter Mann schreibgeübte, blitzgescheite Philosoph in kürzester Zeit einen Essay, in dem er den Begriff des virologischen Imperativs prägt – und der über Wochen in der deutschen intellektuellen Netzcommunity viel zu reden gibt.
Ich habe meine Freude am Text, weil er eindeutig die gedankliche Ausgeburt eines unangepassten Geistes ist (was ja unter deutschen Professoren nicht allzu häufig vorkommt). An der sich daran anschliessenden E-Mail-Korrespondenz fällt mir ein eher beiläufiger Ton auf, der im akademischen Milieu sogar Ausnahmecharakter hat: der Ton eines gut gelaunten Zeitgenossen.
Diesem Mann scheint etwas Unbekümmertes eigen zu sein, und er braucht für sein intellektuelles Unternehmen, das er seit bald zehn Jahren verfolgt, wohl tatsächlich eine Extraportion Chuzpe. Denn wie sonst kann man es wagen, bereits ab dem zarten Alter von gut 30 Jahren in eigenen bestsellerverdächtigen Werken einen eigenen philosophischen Neorealismus zu propagieren? Der 1980 geborene Gabriel, seit 2009 ordentlicher Professor für Philosophie in Bonn, tut dies furchtlos in Auseinandersetzung einerseits mit Klassikern wie Kant, Hegel und Heidegger und der Neurowissenschaft und andererseits der evolutionären Psychologie. Jedes Jahr legt er mit neuen Werken nach – und weitet seine Forschungs- und Kampfzone konsequent aus.
Als wir dann endlich skypen, erlebe ich tatsächlich einen gut gelaunten (und vielversprechend aussehenden) Gabriel in einem Homeoffice. Beide haben wir eben unsere Familien bekocht, beide Male gab’s Pasta (in meinem Fall mit Zitrone, Basilikum und Parmesan, nach einem Rezept von Gennaro Contaldo), über deren Zubereitung wir uns zu Beginn des Interviews kurz austauschen. Lockerer Ton, pointenreiches Sprechen. Der Mann ist richtig schlagfertig – jede Antwort mündet in eine Denkbewegung mit eigenem rhetorischem Singsang.
Gabriel entfaltet nicht nur im Gespräch, sondern auch im Beruf eine beträchtliche Produktivität. Dabei hält er sich an einen sehr strukturierten Tagesablauf: Arbeit von 6.30 bis 21 Uhr mit Unterbrechungen für Lunch und Nickerchen (12–14 Uhr) und Abendessen und Rollerbladen im Naherholungsgebiet Kottenforst (17.30–19.30 Uhr). Nach 21 Uhr ist dann Netflix angesagt. Gabriels heisseste Empfehlung: die spanische Produktion The Platform. In der Tat – ein ebenso sehenswerter wie krasser Film.
Markus Gabriel:
«Wir haben eine politische Monokultur.»
Herr Gabriel, perfekt, es klappt also. Ich sehe ein Bücherregal im Hintergrund, das neue Statussymbol im Skype-Quarantäne-Zeitalter. Sie sehen allerdings gar nicht lektürebleich, sondern kerngesund aus. Haben Sie Ihr Unwohlsein überwunden?
Ich hatte tatsächlich sechs Tage lang leichtes Fieber um die 38 Grad, ohne weitere Symptome. Dies geschah nach zwei Wochen selbst gewählter Isolation, weil ich ja sehr gut von zu Hause arbeiten kann. Wie es sich für einen anständigen Bürger gehört, habe ich mich sogleich auf Sars-CoV-2 testen lassen. Ich habe mir also einen Stab tief in den Rachen geschoben, was ziemlich unangenehm war, aber natürlich viel weniger schlimm als das, was Donald Trump noch vor einigen Wochen über sich ergehen lassen musste. Denn die ersten Tests gingen noch richtig die Nase hoch. Doch schau her, mein Test fiel negativ aus, ich bin putzmunter.
Sie klingen gut gelaunt. Hatten Sie keine Angst, dass es Sie erwischt hat?
Doch, doch, allerdings mehr aus psychologischen als aus gesundheitlichen Gründen! Denn Sars-CoV-2 ist ja ein psychologisch aufgeladenes Virus. Wir wissen nach wie vor kaum etwas über das kleine Biest. Aber wir alle machen den Fehler, uns im digitalen Universum nach Informationen umzuschauen, und insofern gehören wir alle zur Gattung der eingebildeten Kranken – mit einer Ausnahme: Boris Johnson. Der britische Premierminister war, wenigstens eine Zeitlang, ein eingebildeter Gesunder.
Grossartig! Doch denken wir mal in alternativen Welten. Wenn das Virus Sie wirklich erwischt hätte, was hätte das mit Ihnen gemacht?
Ich habe mich während meiner Fieberphase gefühlt wie ein Aussätziger. Meine einzige Sorge war: Was sollen bloss alle denken, wenn ich, als staatstreuer Beamter, der sich gehorsamst an alle Vorschriften hält, in selbst gewählter Isolation vom Virus heimgesucht werde? Das wäre gleichsam mein persönlicher Super-GAU gewesen. Ich hätte mich ständig rechtfertigen müssen, denn so ist das nun mal im digitalen Zeitalter. Wer sich wie ich philosophisch zu Corona exponiert, der muss dann, wenn es ihn trifft, auch philosophisch zu Corona einstecken.
Es wäre um Ihre Glaubwürdigkeit als Philosophieprofessor geschehen gewesen.
Plötzlich hätte es geheissen: Wo war denn der Herr Gabriel? Hat er sich womöglich gar nicht an die Idealvorstellung von der Quarantäne gehalten? War das alles bloss eine geschickte Täuschung?
Und was hätten Sie dann geantwortet?
Ich hätte wahrheitsgetreu gestehen müssen, weil es stimmt: Ja, ich war ein einziges Mal im Supermarkt …
… Skandal! Sogleich hätte es geheissen: Na, hatte der Philosoph denn auch eine Atemmaske an?
Ganz schlimm. Sehr wahrscheinlich wäre medial das Bild eines unhygienischen Philosophen kreiert worden, der mit der Zunge den Supermarkt abschleckt und sich die Seuche zuzieht, weil er nicht mal weiss, wie man sich die Hände wäscht. Denn im Ernst, das ist im Grunde genommen der Verdacht, den heute, in einem angeblich aufgeklärten Zeitalter, alle gegenüber Virusträgern haben: In irgendeinem Sinn haben sie sich schuldig gemacht.
Frei nach dem Motto der neuen Naturreligion: Das Virus ist wenn nicht eine Strafe Gottes, so doch eine der Natur.
In der Tat. Das sind Erinnerungen an die mittelalterliche Pest, die wir mit uns herumtragen. Die haben uns nun eingeholt, ohne dass wir es gemerkt hätten.
Und natürlich hätte auch der Ruf der Philosophenzunft darunter gelitten. Ihr Gang in den Supermarkt wäre mit dem Fall des Thales von Milet in die Grube verglichen worden. Wer im Wolkenkuckucksheim unterwegs ist, kann weder überlebens- noch lebensfähig sein.
Ich kann mir die Häme der Kommentatoren vorstellen: Die Philosophen sind die Ersten, die das Virus kriegen – das haben sie von der kritischen Theorie, vom ständigen Herummäkeln an den Ideologien der Gegenwart! Zugleich – auch das gilt es zu bedenken – hätte ich eine höhere moralische Autorität gewinnen können. Wäre ich mir trotz Leidens an Covid-19 in meinem ideologiekritischen Impetus treu geblieben, hätten plötzlich alle gesagt: Der Mann ist sich treu und darum ein Held. Obwohl er die Pest hat, analysiert er immer noch kritisch die Regierung!
Was man in der Krise sagt, zählt. Nun ist es ja aber so, dass wir uns jahrelang über die Gefahr den Kopf zerbrochen haben, die von künstlicher Intelligenz, Supermaschinen, Cyber-War und Bioterrorismus ausgeht, ja, wir haben uns gleichsam daran berauscht. Und nun kommt ein kleines gemeines Coronavirus daher, allerdings in besonders fieser Mutation, und legt unseren Betrieb lahm. In welchem schlechten Traum waren wir da gefangen?
In der Tat kann man wohl festhalten: In den letzten 30 Jahren, also seit dem Ende des Kalten Kriegs, hat sich die postmoderne Wirklichkeitsflucht beschleunigt. Es ist der Eindruck entstanden, dass wir letztlich in einer Art Computersimulation lebten. Und dieser Eindruck hat sich Tag für Tag, Gadget für Gadget stärker in unseren Gehirnen verfestigt. Das war eigentlich die stimmungsmässige Signatur unserer eben zu Ende gegangenen Gegenwart. Die Frage, um welches Genre es sich dabei handelt, wurde jedoch nie geklärt. Das machte, dass wir uns stets so fühlten, als wäre es ein irgendwie heiteres, aber zugleich sinnloses Spiel. Einerseits irreal, andererseits sinnlos, ja, ich denke, so war es – bis 2020. Die echten Probleme der künstlichen Intelligenz und der Digitalisierung sind damit natürlich noch gar nicht berührt!
So wie im Film Matrix – wir spielen im Geist in einer tollen Geschichte mit, während unser Körper in einem Stahltank lebt?
Gewissermassen, ja, so stellen sich das die Postmoderne und leider auch manche Propheten der künstlichen Intelligenz vor. Nick Bostrom, Philosoph in Oxford, hat das Simulationsargument im Jahr 2003 mit ernsthafter Intention formuliert, Leute wie Elon Musk, Bill Gates oder Stephen Hawking haben sich später diesen Gedankenspielen angeschlossen. Und dieses Argument geht so: Wenn es für Menschen möglich wäre, ein realistisches Computerspiel zu erzeugen – wie die Sims, nur besser aufgelöst –, dann würden wir dies auch tun, weil es kognitiv und ästhetisch interessant wäre. Wenn nun überdies das Moore’sche Gesetz tatsächlich gilt, wenn sich also die Rechenkapazität alle zwei Jahre verdoppelt, nun ja, dann ist es wahrscheinlich, dass wir...




