E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Schifferli Leben im Quadrat
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-85990-226-8
Verlag: Edition 8
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-85990-226-8
Verlag: Edition 8
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Antonia Weber steht mitten im Leben. Sie unterrichtet Jugendliche in der Betreuung betagter Menschen, kümmert sich um ihre Eltern und schaut immer wieder zu ihrer Wahlenkelin Sofie, die ihr viel Freude bereitet. Das Auftauchen des ehema-
ligen Schulfreundes Patrick setzt bei Antonia zwar positive Energien frei, dennoch scheint dieses Verhältnis nicht frei von Belastungen. Die wachsende Sorge um die sich zunehmend verschlechternde Gesundheit ihrer Eltern trägt wesentlich zu ihrem Zusammenbruch bei, der sie eines Tages mitten im Unterricht trifft.
Ihre langjährige Freundin Cécile umsorgt sie liebevoll während der gemeinsamen Weihnachtsferien. Doch auch hier gibt es für Antonia keine wirkliche Erholung, sie reist vorzeitig ab. Erst das Alleinsein, ohne dass jemand weiss, wo sie sich aufhält, lässt sie zu sich kommen und über sich und ihr Verhalten nachdenken. Die Tatsache, dass Patrick sie hier trotz aller Geheimhaltung findet, bestärkt sie in ihrem Wunsch, aus ihrem Leben im beengenden Quadrat ein selbstbestimmtes, intensives Leben, ein Leben hoch zwei zu machen.
Eine Erzählung über die Lebenssituation einer unkonventionellen, sensiblen Frau um die 50, die sich eloquent und facettenreich mit den vielfältigen Anforderungen der ›Sandwich-Generation‹ auseinandersetzt. Erstmals wird hier auch das Leben alter Menschen im Heim aus der Sicht jugendlicher Betreuerinnen literarisch thematisiert.
Zielgruppe
allgemein
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Nur noch schnell, Frau Weber, wie hiess er schon wieder mit Vornamen, Alois oder Albert? Alois, nun aber Ruhe bitte, damit wir anfangen können. Melanie, Ihr Handy gehört noch in die Tasche und die Tasche auf den Boden. Antonia Weber liess ihren Blick über die Tische gleiten, zur Kontrolle, obwohl sie wusste, dass die Schülerinnen schon immer schlauer als sie gewesen waren, wenn es ums Abschreiben ging. Besonders beliebt war in letzter Zeit das Spicken mit dem Smartphone geworden, wo man unter der Schulbank mal schnell etwas bei Google oder Wikipedia nachschaute. Doch deswegen die Handys einziehen wollte sie nicht. Allmählich wurde es ruhig im Raum, nur noch vereinzeltes Räuspern oder Schreibgeräusche, wo ein Blatt ohne Unterlage direkt auf der Tischplatte lag. Antonia setzte sich an das Lehrerpult, überflog noch einmal die Prüfungsfragen. Wieso heisst es Alzheimer-Demenz? Was sind Lewy-Körperchen? Weshalb werden Demenz und Depression im höheren Alter leicht miteinander verwechselt? Was muss beachtet werden, wenn eine Bewohnerin die zeitliche und örtliche Orientierung völlig verloren hat? Die Prüfung kam ihr plötzlich nicht mehr so leicht vor. Sie schaute hoch, als Melanie gerade die Hand hob. Antonia nickte ihr zu. Muss man bei der Frage zwei nur das Wort erklären oder auch ein Beispiel dazu schreiben? Beides, die Frage ist ja in a und b aufgeteilt. Jetzt seh ich’s auch, danke. Melanie beugte sich wieder über das Prüfungsblatt, schrieb weiter. Die anderen Schülerinnen hatten sich nicht stören lassen, sie können sich besser konzentrieren als ich, dachte Antonia, eine SMS schreiben, gleichzeitig miteinander reden, während in den Kopfhörern der Sound dröhnt. Am liebsten würden sie auch die Prüfung mit Musik im Ohr schreiben, es ginge besser so, sagten sie, auch die Hausaufgaben würden sie immer so erledigen. Antonia begann im Unterrichtsdossier zu blättern, das sie für heute vorbereitet hatte. Hin und wieder schaute sie kurz in die Runde, ob nicht doch jemand bei der Nachbarin abschrieb oder sich sonst irgendwie eigenartig verhielt. Vor kurzem erst hatte sie entdeckt, dass Astrid ihre Handfläche beschrieben hatte. Also, das habe ich nur so gemacht, als Vorbereitung, während der Prüfung schaue ich sicher nicht darauf, hatte sie keck behauptet und der Lehrerin sogar in die Augen geschaut. Antonia hatte kein grosses Aufhebens machen wollen, hatte Astrid nur zum Spülbecken geschickt, damit sie sich gründlich die Hände wusch. Im Laufe der Jahre bin ich nachsichtiger geworden, sanfter vielleicht auch, dachte Antonia, denn die meisten, die hier sitzen, haben auf irgendeine Weise mit Problemen zu kämpfen. Die Betreuung der kranken Menschen im Altersheim setzt den jungen Frauen mehr zu, als sie vor ihrer Ausbildung erwartet haben. Dann die vielen Todesfälle. Manche haben auch Schwierigkeiten zu Hause. Mit Aysa habe ich schon lange nicht mehr gesprochen, fiel ihr ein. Früher war sie häufig nach der Stunde noch etwas länger geblieben, um ihr von der Arbeit im Heim zu erzählen. Einmal hatte sie auch erwähnt, dass sie mit ihren zwei jüngeren Schwestern ein Zimmer teile, während der Bruder sogar im Wohnzimmer schlafen müsse. Die Wohnung sei eng, meistens laufe der Fernseher, so dass es fast unmöglich sei, sich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren. Der Pausengong hatte damals das Gespräch abrupt beendet, aber Antonia hatte gespürt, dass Aysa noch etwas anderes beschäftigte. Zwei Wochen vergingen, ohne dass sie nochmals auf sie zukam. Dann, kurz vor den Ferien, hatte sie um ein Gespräch gebeten. Die kommenden Wochen werde sie bei ihren Verwandten in der Türkei verbringen, hatte sie erzählt, dabei ihr langes, schwarzes Haar hinten am Nacken mit der Hand umfasst, als suchte sie nach Halt. Es gebe dort einen Cousin, der von der Familie als ihr zukünftiger Ehemann bestimmt worden sei. Oder besser: sie als seine zukünftige Frau. Aysa war auf die Stuhlkante vorgerutscht, hatte unruhig zur Schulzimmertür geschaut, ob nicht doch plötzlich jemand hereinkäme. Sie habe Angst. Aber richtig glauben, dass ihr eine Heirat mit ihm bevorstünde, könne sie nicht. Sie wohne doch hier in der Schweiz, er in Antalya, zudem spreche er kein einziges Wort Deutsch. Antonia hatte ihr aufzuzeigen versucht, wie sie der Zwangsheirat entgehen könnte, aber bei jedem Vorschlag hatte Aysa den Kopf geschüttelt, fest davon überzeugt, dass es für sie keine Alternative gebe. Erst gegen Ende der Ferien traf eine Mail bei ihr ein, worin Aysa ihr mitteilte, dass sie nun doch nicht gefahren sei. Seither aber wirkte sie niedergeschlagen und wich offensichtlich Versuchen aus, mit ihr zu sprechen. Wie sollte sie sich unter solchen Umständen auf den Unterricht konzentrieren können? Oder wenn die Scheidung der Eltern einem den Boden unter den Füssen wegzieht? Antonia dachte an Julia, die unter Tränen davon erzählt hatte, als sie die verschiedenen Familienformen behandelten. Würde ich alles auflisten, was die Schülerinnen belastet, man hielte es für übertrieben. Jasmin, zum Beispiel, bei der kürzlich ein Hirntumor festgestellt wurde. Christina, die ihren Bruder schmerzlich vermisst, seit er wegen seiner Aidskrankheit von den orthodoxen Eltern verstossen wurde und sie nicht weiss, wo er sich aufhält. Tamara, schon im siebten Monat schwanger, aber immer noch ist unklar, wer ihr Kind nach der Geburt betreuen wird. Wie weit darf oder muss ich mich einsetzen, wenn mir eine Schülerin ihre persönlichen Schwierigkeiten anvertraut? Schon oft hatten sie im Lehrerkollegium darüber gesprochen, aber es gab keine eindeutigen Antworten. Antonia begann, eine Sonne mit lachendem Gesicht, was Sofie so gern mochte, auf die Rückseite des Prüfungsblatts zu malen. Manchmal wünschte sie sich auch ein Haus mit vielen Fenstern und herauswinkenden Kindern. Der letzte Sonnenstrahl war noch nicht auf dem Blatt, als jemand fürchterlich niesen musste, dreimal hintereinander. Jenny. Sie schneuzte sich kräftig, blickte entschuldigend zur Lehrerin, doch die Konzentration in der Klasse war zerstört. Offenbar aber waren die meisten ohnehin gerade fertig geworden, streckten sich, husteten, gähnten, schoben das Blatt von sich weg. Antonia stand auf, ging von Tisch zu Tisch und sammelte die Antwortblätter ein. War es schwierig?, fragte sie. Geht so, wahnsinnig, viel zu viele Fragen, nein, überhaupt nicht, kam es gleichzeitig von überall her. Bitte nicht zu streng korrigieren, bat Julia, als Antonia Weber bei ihr stand, ich konnte mich nicht gut vorbereiten. Ich verstehe, sagte Antonia. Und – Julia hielt kurz inne – danke nochmals für den Tipp wegen Alois Alzheimer. Gern geschehen. Sie haben ja gerade noch rechtzeitig gefragt. Antonia Weber ging einen Tisch weiter, wo Senta immer noch schrieb. Die Zeit ist leider um. Nur noch diesen einen Satz, dann habe ich alles, bat sie, den Kopf weiterhin tief über die Prüfung gebeugt. Sie war erst seit kurzem in der Klasse, weil sie den Lehrbetrieb gewechselt und deswegen eine Berufsschule in der Nähe gesucht hatte. Tut mir leid, sagte Antonia, Sie müssen jetzt abschliessen. Es war für Sie noch etwas ungewohnt, nicht wahr?, fragte Antonia, als ihr Senta das Antwortblatt zögernd hinstreckte. Die Schülerin nickte: Also, richtig schwierig war es nicht, aber ich war eben schon immer langsam. In der Schule und auch sonst überall. Antonia stutzte, dann hatte der Wechsel des Lehrbetriebs womöglich auch noch schulische Gründe, dachte sie, wandte sich aber gleich der Klasse zu und rief in den anschwellenden Lärm: Ihr könnt zehn Minuten Pause machen. Sofort eilten einige hinaus, so dringend war es für sie, endlich eine Zigarette rauchen zu können. Senta aber blieb sitzen. Sie haben sicher schon einiges versucht, um schneller arbeiten zu können. Antonia lehnte sich gegen die Tischkante, denn das Gespräch könnte vielleicht etwas länger dauern als nur zwei, drei Sätze. Das kann man nicht üben, ich bin einfach so, meinte die Schülerin in einer Mischung aus Stolz und Resignation. Zum Glück bin ich überhaupt, eigentlich hätte ich abgetrieben werden sollen. Zumindest wenn es nach dem Frauenarzt meiner Mutter gegangen wäre. Diese Offenheit ohne jegliche Vorbereitung! Antonia drückte den Stapel mit den Prüfungen an sich, um sich irgendwo festhalten zu können. Wie kommt man aus einer solchen Situation wieder hinaus, ohne die Schülerin abrupt unterbrechen zu müssen, der Unterricht geht ja gleich weiter. Das Kind wird behindert, hatte der Gynäkologe behauptet, was beim Alter meiner Mutter ja keine Überraschung sei, fuhr Senta unbeirrt fort, überzeugt, in der Lehrerin eine mitfühlende Zuhörerin gefunden zu haben. So eine Unverschämtheit, sagte Antonia daraufhin, etwas lauter als beabsichtigt, wodurch sie aber ihre Souveränität zurückgewann. Gut, hat Ihre Mutter nicht auf ihn gehört. Ja, zum Glück. Sie wollte mich behalten,...




