Schimmang | Laborschläfer | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 328 Seiten

Schimmang Laborschläfer


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96054-279-7
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 328 Seiten

ISBN: 978-3-96054-279-7
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Rainer Roloff führt ein zurückgezogenes Leben. Fragte man ihn nach seiner »Erwerbsbiografie«, so würde er sich als »Privatgelehrter« bezeichnen. Struktur bekommt sein Leben dank einer Langzeitstudie zum Einfluss des Schlafs auf das Gedächtnis, an der er als Proband teilnimmt. Dafür reist er regelmäßig von Köln nach Düsseldorf, selbst in Zeiten der Pandemie, um im Labor seine an das Aufwachen anschließenden Gedanken zu Protokoll zu geben. Roloff, ein Jahr älter als die Bundesrepublik, ist ein idealer und ergiebiger Proband, mit einem Elefantengedächtnis und Aufmerksamkeit für den Zusammenhang zwischen dem kollektivem Unbewussten und der individuellen Erinnerung. Dr. Meissner, der die Studie leitet, findet überwiegend »sehr gelungen«, was sein Proband ihm in einer Mischung aus zeitgeschichtlicher und persönlicher Erinnerung und spielerisch-absurder Noch-Traum-Logik erzählt. Doch dann gerät das Gedächtnis des Schlafforschers selbst aus dem Gleichgewicht... Einmal mehr erweist sich Jochen Schimmang als Meister einer nonchalanten Melancholie, als hintersinniger Chronist der Geschichte, deren teilnehmender Beobachter er ist.

Jochen Schimmang, geboren 1948, studierte Politische Wissenschaften und Philosophie an der FU Berlin und lehrte an Universitäten und in der Erwachsenenbildung. Er ist freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt in Oldenburg. 2010 erhielt er für seinen Roman »Das Beste, was wir hatten« den Rheingau Literatur Preis und 2012 den Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar für »Neue Mitte«. 2017 erschien sein Roman »Altes Zollhaus, Staatsgrenze West«, 2019 die Erzählungen »Adorno wohnt hier nicht mehr«. 2019 wurde Jochen Schimmang mit dem erstmals verliehenen Walter Kempowski Preis für biografische Literatur des Landes Niedersachsen ausgezeichnet, 2021 erhielt er den Italo-Svevo-Preis für sein Lebenswerk.
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ERINNERUNGEN AN DEN TOAST MOZART


1Das Foto, selbstverständlich schwarzweiß, demonstriert schon durch den weißgezackten Rand, dass es von früher kommt, von sehr viel früher, aus – für uns – unvorstellbarer, unvordenklicher Zeit. Eine Zeit, die so fremd ist, dass weder Leonie noch ich sie uns vorstellen können, obwohl wir so viel darüber gehört und gelesen und in Filmen gesehen haben. Wir beide waren noch nicht auf der Welt, und unsere Mutter kannte unseren Vater noch nicht. Auf dem Foto strahlen sechs junge Mädchen in die Kamera, unsere Mutter ist die vierte von links. Unsere Mutter und ein anderes Mädchen haben dunkle Röcke und unterschiedliche Blusen an, eine mit floralem Muster (Mutter), eine mit Streifen. Die vier anderen Mädchen tragen eine Uniform: ein dunkler Rock mit einem ebenfalls dunklen Gürtel, eine weiße Bluse und ein dunkles Halstuch mit einem Knoten, wahrscheinlich aus Leder. Die sechs stehen nebeneinander in einem Raum mit Holzbänken und Holztischen; man denkt an ein Vereinsheim oder Ähnliches. Im Hintergrund sieht man an der Wand ein Foto des Führers, leicht verschwommen, aber eindeutig identifizierbar, darunter eine Frakturschrift, die aber zu undeutlich ist, um sie entziffern zu können. Dafür steht auf der Rückseite des Fotos deutlich zu lesen: . Ursula ist das zweite Mädchen, das Zivil trägt, das mit der gestreiften Bluse.

»Die Uniformen sind BDM«, sagt Leonie, »Bund Deutscher Mädel. Die Röcke sind in Farbe dunkelblau, die Gürtel auch, das Halstuch ist schwarz und der Lederknoten braun. Ich habe mich schlau gemacht. Aber Mama ist in Zivil. Sie ist einfach mit ihren Freundinnen zusammen. Die sind alle fünfzehn oder sechzehn.« Ich erkenne unsere Mutter auf dem Foto, und Agnes scheint mir eine der Nachbarinnen und Freundinnen unserer Mutter aus der Zeit nach dem Krieg zu sein, vier Häuser weiter, die dann mit ihrem Mann weggezogen ist, ins Bergische, glaube ich. Eine von diesen dunkel Gelockten oder Dauerwelligen, wie ich sie aus meinen Roro-Träumen kannte. Dennoch wird das Foto dadurch nicht vertrauter, sondern bleibt vollkommen fremd. Aufgenommen ist es sicher irgendwo in Köln oder im Umland, aber auf mich wirkt es so, als hätte es auch in Nordkorea gemacht werden können.

Ich bin zwei Jahre nicht mehr in Leonies Wohnung in Bayenthal gewesen. Sie hat diese schon in den Neunzigerjahren gekauft, über eine edle Maklerfirma mit Sitz in Marienburg. Marienburg, wie die Eingeweihten und die Bewohner sagen, obwohl es sich nicht um eine Burg, sondern um einen Stadtteil handelt. Einen burgähnlichen, immerhin. Leonies kleines Penthouse liegt im sechsten Stock einer parkähnlichen Wohnanlage, die vielleicht in den Siebzigern oder Achtzigern gebaut wurde, aber bis heute keine Patina angesetzt hat, weil sie von der Hausverwaltung sehr sorgsam gewartet wird. Für Leonie bedeutete der Kauf damals einen Aufstieg im doppelten Wortsinn. Sie war sozial schon seit einigen Jahren dort angekommen, wo sie hingewollt hatte, und das fand nun endlich auch in ihrer Wohnsituation Ausdruck. Zudem hatten wir als Kinder in der Weyerstraße im Erdgeschoss gewohnt, in einem Haus, das erst nach und nach von einer Ruine wieder zu einem Wohnhaus minderer (von der Lage her) bis mittlerer (von der Substanz her) Güte wurde. Während ihres Studiums hatte meine Schwester sowohl in Studentenwohnheimen wie auch in Wohngemeinschaften rund um den Zülpicher Platz gehaust bis gewohnt, als junge Ärztin dann in einer schönen Altbauwohnung in Nippes und später in der Gladbacher Straße. Aber sie war nie über das erste Stockwerk hinausgekommen, und deshalb hat sie, als sie das Angebot des Edelmaklers sah, nicht lange gefackelt und es nie bereut. »Heute würde ich noch zehn Etagen höher ziehen«, hat sie mir einmal gesagt, »aber dazu ist es jetzt ein bisschen zu spät.«

Ich sehe, dass die Medizin aus ihren Bücherregalen fast vollständig verschwunden ist (die Bücherregale in den Wohnungen anderer Leute mit geübtem Blick abzutasten, ist eine Unart, die mir abzugewöhnen ich nicht vorhabe). Die wichtigsten Fachbücher hatten sowieso in ihrer Praxis gestanden, Luftlinie fünfhundert Meter von hier. Gerade will ich nachschauen, wofür die Medizin mit ihrem Rückzug Platz gemacht hat in Leonies Bibliothek, als sie aus einem Nebenzimmer zurückkommt und sagt: »Das mit dem Foto war nicht alles. Guck mal, was ich hier habe!«

Sie hält in beiden Händen triumphierend zwei Packen Briefe und Postkarten hoch, die kaum jünger sein können als das Foto. Als sie sie ausgebreitet hat, sehe ich an den Postkartenmotiven ebenso wie an den Briefmarken, dass diese Post aus Paris gekommen ist. Ein Eiffelturm ist sogar mit einer Lametta-Imitation verziert, Weihnachtsgrüße. Die gesamte Post, klärt mich Leonie auf, stamme aus den Jahren 1940 und 1941 und sei von einem Albert Hemmersbach. Mir sagt der Name nichts, und auch Leonie, die ja viel enger mit unserer Mutter, mit zu tun hatte, hat nie von ihm gehört. Dennoch fand sich diese Post in dem schmalen Nachlass unserer Mutter, während von unserem Vater nichts Schriftliches geblieben ist und er nur auf ein paar uns schon bekannten Familienfotos aus den Fünfzigerjahren zu sehen ist. Ein Foto von Albert Hemmersbach, das uns bei weiterer Spurensuche eventuell geholfen hätte, gibt es allerdings nicht, leider. Die Sachlage ist dennoch einigermaßen klar. Unsere Mutter, , hatte offenbar in diesen ersten Kriegsjahren eine Liebelei oder sogar mehr mit einem Soldaten, der zu den Besatzern der französischen Hauptstadt gehörte. Aus einem Briefchen aus dem Oktober 1940, in dem er sich für die Glückwünsche zu seinem dreißigsten Geburtstag bedankt, erfährt man, dass er fast zehn Jahre älter war als sie. Aus anderen Briefen geht hervor, dass er keineswegs zum gemeinen Fußvolk gehörte, sondern den Rang eines Oberleutnants bekleidete. Vom dienstlichen Alltag ist allerdings kaum die Rede, wohl weil der unsere Mutter nicht interessierte und Details vermutlich auch nicht die Briefzensur passiert hätten. Vor allem anderen geht es in dieser Post um Konsumgüter: einen Pelzmantel und eine Pelzmütze, Seife, Kosmetika (obwohl die deutsche Frau sich nicht schminkt), Handschuhe, Seidenstrümpfe, aber auch Delikatessen in Konserven, Wein, Liköre und einmal sechs Flaschen Champagner. Im Grunde alles, was welsche Dekadenz zu bieten hatte. Es war, als habe Albert Hemmersbach einen nicht geringen Teil seines Jahres in Paris damit verbracht, Einkaufslisten unserer Mutter abzuarbeiten. Vielleicht ging der Konsumgüterrausch aber auch ursprünglich von ihm selbst aus, denn in einem der ersten Briefe heißt es: »Du glaubst gar nicht, was es hier alles gibt. Wir haben die Franzosen zwar besiegt, aber die leben immer noch dreimal so gut wie wir. Verglichen mit denen sind wir Deutschen richtig arm, glaub mir.« Man wartet förmlich auf die Formel vom , die hat sich Albert aber verkniffen. Gut möglich jedoch, dass die erste Geschenksendung an unsere Mutter nicht auf ihren Wunsch kam, sondern ihr überhaupt erst die Möglichkeiten klarmachte, die es gab.

Der letzte erhaltene Brief ist aus dem August 1941, der nur knapp mitteilt, dass Albert innerhalb Frankreichs versetzt werde, und zwar an die Atlantikküste nach Brest, Stützpunkt des Atlantikwalls, von wo er sich sofort melden werde.

»Hat er aber nicht getan«, sagt Leonie jetzt. »Oder die restliche Post ist verlorengegangen.«

»Oder er hat ihr mitgeteilt, dass es vorbei ist«, sage ich. »Das ist allerdings nicht wahrscheinlich; ich glaube kaum, dass sie dann die Post aus Paris aufbewahrt und sogar ins Heim mitgenommen hätte. Nicht die Post, er selbst wird irgendwo recht bald im Krieg verlorengegangen sein, das ist ja nichts Außergewöhnliches.«

Leonie setzt den von ihrer Mama ererbten Blick auf, der sich in eine unbestimmte Ferne richtet. »Wenn es anders gelaufen wäre«, sagt sie, »gäbe es uns beide vielleicht heute gar nicht. Oder wir würden nicht Roloff, sondern Hemmersbach heißen. Leonie Hemmersbach«, sagt sie mehrmals probeweise. »Klingt nicht schlecht.«

Ich schiebe noch eine Weile die Briefe und Karten hin und her und lese kursorisch. Eine schöne Schrift hatte Albert Hemmersbach, energisch und doch nicht zu energisch, fließend und mühelos lesbar. Sein damaliges Alter zusammen mit seinem Rang verraten, dass er schon vor Kriegsbeginn in der Wehrmacht gewesen sein muss. Vermutlich war er eher ein überzeugter Soldat als ein überzeugter Nationalsozialist, aber er wird den Krieg und den bestimmt von vornherein gutgeheißen haben, weil er der Ansicht war, das stünde seinem Land nach der zu. Ich stelle mir vor, wie er vielleicht nie nach Brest gekommen oder gleich am ersten Tag einem Unfall oder einem Anschlag zum Opfer gefallen ist. Das alles sage ich laut, bis Leonie mich besorgt unterbricht und entschieden sagt: »Du wirst...


Jochen Schimmang, geboren 1948, studierte Politische Wissenschaften und Philosophie an der FU Berlin und lehrte an Universitäten und in der Erwachsenenbildung. Er ist freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt in Oldenburg. 2010 erhielt er für seinen Roman »Das Beste, was wir hatten« den Rheingau Literatur Preis und 2012 den Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar für »Neue Mitte«. 2017 erschien sein Roman »Altes Zollhaus, Staatsgrenze West«, 2019 die Erzählungen »Adorno wohnt hier nicht mehr«. 2019 wurde Jochen Schimmang mit dem erstmals verliehenen Walter Kempowski Preis für biografische Literatur des Landes Niedersachsen ausgezeichnet, 2021 erhielt er den Italo-Svevo-Preis für sein Lebenswerk.



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