Schimmang | Neue Mitte | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Schimmang Neue Mitte


1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-96054-114-1
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-96054-114-1
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Winter 2029/30. Deutschland hat nach neun Jahren Juntaherrschaft vier Jahre Übergangsregierung unter englischer Führung hinter sich. Das ehemalige Regierungsgelände in Berlin ist Niemandsland. Doch hat sich dort inzwischen ein bunter Haufen von Menschen angesiedelt, die ihr Utopia leben - intelligent, gebildet, die meisten vernetzt durch den Widerstand während der Juntazeit: ein Gärtner, ein Geigenbauer, ein anarchistischer Lektürezirkel, das Restaurant 'Le plaisir du texte'. Nun soll dort auch eine Bibliothek eingerichtet werden - für deren Aufbau ist Ulrich Anders nach Berlin gekommen, der Erzähler des Romans. Doch der Zustand glückseliger Freiheit ist bald bedroht: Aus den verlassenen U-Bahn-Schächten heraus unternimmt die Junta einen neuen Putschversuch. Eine Drahtzieherin scheint die schöne Witwe des Juristen der Junta zu sein, dessen Bibliothek Ulrich gekauft hatte. Und an welchem geheimnisvollen Programm arbeitet Ulrichs Freundin, die Softwareentwicklerin Eleanor Rigby? Jochen Schimmang gibt dem Möglichkeitssinn Zunder und entwirft ein Deutschland der Zukunft, in schönster postmoderner Tradition: pure Lust am Text! Aber Neue Mitte ist auch ein spannender Politthriller, der das eigene Genre aufs Korn nimmt und ganz nebenbei Roland Barthes' Frage 'Wie zusammen leben?' zu beantworten sucht.

Jochen Schimmang, geboren 1948, studierte Politische Wissenschaften und Philosophie an der FU Berlin und lehrte an Universitäten und in der Erwachsenenbildung. Von 1978 bis 1998 lebte er in Köln, seit 1993 als freier Schriftsteller und Übersetzer. Jochen Schimmang ist heute in Oldenburg ansässig. Seine schriftstellerische Arbeit wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien gefördert. 2010 erhielt Jochen Schimmang für seinen Roman 'Das Beste, was wir hatten' den Rheingau Literatur Preis 2010. In der Begründung der Jury heißt es: 'Die Jury würdigt die minutiöse Bildbeschreibung, mit der die alte Bundesrepublik wiederbelebt wird - durch dichte Milieuschilderung über mehrere Jahrzehnte hinweg und die Erzählung über Figuren, die allmählich den Boden unter den Füßen verlieren. Jochen Schimmang hält den zahlreichen Büchern, die der DDR ihre Erinnerung und ihre Kritik nachtragen, einen Roman entgegen, der den Untergang auch der Bonner Republik zur erzählerischen Gewissheit macht. Eingeschlossen ist die Trauer über die Vergänglichkeit der Aufbrüche, das Verschwinden von Hoffnungen und das Verblassen von Träumen in ungemein blickgewisser Genauigkeit.'
Schimmang Neue Mitte jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


2


Als damals der Putsch kam, im Frühjahr 2016, hatte ich mich in meinem Studium schon reichlich verlaufen und wusste nicht mehr, wie ich aus dem Labyrinth herausfinden sollte. Mein größtes Problem bestand darin, dass ich mich für beinahe alles interessierte, was auf dem Weg lag, und deshalb nicht den geraden Weg beschreiten konnte, den das Studium verlangte, sondern ständig abzweigte. Insbesondere die Philosophen führten mich immer noch einen entlegenen Pfad weiter, auch fort von ihrer eigenen Disziplin, und dann war ich manchmal plötzlich bei den Ethnologen, den Linguisten, den Soziologen, den Kommunikationswissenschaftlern, den Kulturwissenschaftlern, den Cineasten und den Psychoanalytikern, bei den Kunstgeschichtlern, Semiotikern und Medizinhistorikern gelandet und hatte jedes Mal Schwierigkeiten, zurückzufinden. Mit den Freunden, mit den Frauen ging es mir ebenso: immer noch ein Abzweig, noch ein Seitenpfad. Während der vier Jahre meines Studiums war Sander die einzige Konstante in meinem Leben, doch als man ihn dann entlassen hatte und er in seinen Kleinverlag verschwunden war, schlief unser Kontakt ein.

Auch deshalb, weil ich die Hauptstadt verließ und in den alten Westen zurückging. Die Hauptstadt war ohnehin in den vorangegangenen Jahrzehnten schon in einem architektonischen Stil herausgeputzt und aufgebläht worden, der mir nicht gefiel. Die neuen Machthaber aber gaben sich nicht mit der vorhandenen Herrschaftsarchitektur rund um den Reichstag zufrieden, sondern ließen alles abreißen, erweiterten das Gelände noch durch die Zerstörung angrenzender Viertel und bauten neu in einer Stilmischung aus italienischem Futurismus und Neuer Sachlichkeit. Das betraf nicht nur das Regierungsviertel, sondern darüber hinaus viele öffentliche Gebäude, und das Tempo, das dabei angeschlagen wurde, auch aufgrund der sich ständig weiter entwickelnden technischen Möglichkeiten und des enthusiastischen persönlichen Einsatzes des internationalen Stararchitekten, der den Wettbewerb gewonnen hatte, hielt die Welt in Atem: Das neue Regierungszentrum war nach zehn Monaten fix und fertig, und das war auch der Zeitpunkt, als ich in den alten Westen zurückging. Das neue Regime war mir architektonisch einfach zu nah auf die Pelle gerückt. Ich war nie ein Widerstandskämpfer, aber wenigstens wollte ich mich so weit entziehen, wie es mir möglich war.

Zwei Monate lebte ich bei meiner Mutter in Frankfurt, dann trat ich in Aachen in das Handelshaus ein. Ein Bekannter meiner Mutter hatte das vermittelt, und so begann ich mit zweiundzwanzig Jahren eine klassische kaufmännische Ausbildung und ließ alle geisteswissenschaftlichen Wirren hinter mir. war eine Groß- und Einzelhandlung für Genussmittel am Rande des Aachener Zentrums, die seit über zweihundert Jahren existierte. Einen Del’Haye gab es in der Firma schon lange nicht mehr, die Familie Münzenberg war aber noch immer Eigentümer des Geschäfts, das überaus erfolgreich war und dessen Geschäftspraktiken sich durchaus auf dem neuesten Stand befanden, in dem mich aber, sobald ich es morgens betrat, aus allen Ecken die Tradition eines Familienunternehmens anwehte.

Die Münzenbergs importierten, verschickten und verkauften Kaffee, Tee, Kakao, Zigarren, Weine, Spirituosen, Schokoladen, Gewürze, Konfitüren und Honig, natürlich nur in allerbester Qualität. Die Geschäftsräume waren zwar mehrfach erweitert worden, immer aber im Stil des ursprünglichen Geschäfts, Ladentheken und Regale aus massivem dunklen Holz, und wenn man eines der Büros betrat, war man versucht, unwillkürlich von einem Kontor zu sprechen, obwohl dieses Wort schon damals aus der deutschen Sprache fast verschwunden war. Selbst das Lager, in dem nach den modernsten logistischen Methoden verfahren wurde, atmete den Geruch des Alten und Gediegenen.

Bei den etwas hilflosen Bemühungen des Regimes, neue Symbole zu etablieren, oder aber alte Symbole neu zu etablieren, machten die Münzenbergs von Beginn an nicht mit. Man sah also nirgends den stilisierten Doppelblitz, der die Kraft, die Entschlossenheit, die Modernität und vielleicht auch den Vernichtungswillen der neuen Herren symbolisieren sollte und der selbstverständlich an jedem öffentlichen Gebäude, auf jeder Uniform, auf jedem offiziellen Briefkopf und sogar weit verbreitet in der Mode zu finden war. Nicht einmal das obligatorische Foto des Generals hing in der Firma, wie das Regime überhaupt hier am westlichen Rand des Landes einen schwereren Stand hatte als in großen Teilen der Mitte und des Ostens. Der alte Münzenberg, der bei meinem Eintritt in die Firma noch lebte, sagte bei Gelegenheit: »Wenn man uns hier Schwierigkeiten macht, können wir sehr schnell umziehen. Zur belgischen Grenze sind es zwanzig Minuten, und man wird uns dort sicher willkommen heißen, denn von Genussmitteln verstehen die Belgier etwas. Dann ist eben Schluss mit der Aachener Münzenberg-Tradition.« Man machte aber keine Schwierigkeiten, denn einige der Emporkömmlinge und Funktionsträger des neuen Regimes gehörten jetzt, da sie es sich leisten konnten, zu den eifrigsten Kunden der Münzenbergs.

In dieser traditionsreichen Firma durchlief ich während meiner zweieinhalb Ausbildungsjahre alle Abteilungen, vom Lager über die Buchhaltung, die Bestellung, den Versand bis zum Verkauf und schließlich dem Einkauf. Im Einkauf wurde ich danach auch eingesetzt, reiste oft nach Belgien, Frankreich und Italien, nach Brüssel und Montélimar, ins Piemont und in die Emilia Romagna. Natürlich war ich auch innerdeutsch unterwegs, und so könnte man sagen, dass ich die Jahre der Diktatur sowohl in der inneren wie in der temporären äußeren Emigration überwinterte.

Direkt nach ihrem Ende stieg ich in den Schwarzmarkt ein, wobei ich zugleich in der Firma weiterarbeitete. Immerhin waren die Beziehungen, die ich dort aufgebaut hatte, meine Basis. Ich bin davon überzeugt, dass einer der Juniorchefs, Anton Münzenberg, der Enkel des alten Münzenberg, der 2018 gestorben war, ziemlich genau wusste, dass ich neben dem Geschäft noch meine eigenen Geschäfte betrieb. Darauf angesprochen hat er mich nie. Anton war vier Jahre jünger als ich, und wir verstanden uns vom ersten Moment an gut. Er hatte eine Geliebte in Lüttich, von der seine Familie nichts wissen durfte, da es sich nach ihren Regeln um eine Mesalliance gehandelt hätte, und begleitete mich oft auf meinen Ausflügen nach Belgien. Ich hielt dicht, und ich denke, er hat mir das vergolten, indem er über meine Nebengeschäfte ebenfalls eisern schwieg.

Auf dem Schwarzmarkt war ich vor allem im Kaffee und in den Tabakwaren tätig und verdiente in den ersten zwei Jahren gutes Geld. Die Übergangsregierung bekam aber gerade hier im Westen die Versorgungslage schneller in den Griff, als man erwarten konnte, und die Geschäfte ließen stark nach. Man konnte sich noch hier und da etwas hinzuverdienen, aber Reichtümer waren auf diesem Sektor der Wirtschaft nicht mehr zu machen. Im Übrigen musste ich trotz allem immer damit rechnen, in der Firma aufzufliegen, und die Scham hätte ich vielleicht nicht überlebt. Die Münzenbergs haben mich immer beinahe wie ein Mitglied der Familie behandelt. Familie im traditionellen Sinn hatte ich nie gehabt. Ich war das einzige Kind meiner Mutter, und meinen Vater habe ich nie gekannt. Auch meine Mutter hat ihn eigentlich nicht gekannt. »Dein Vater war ein Durchreisender, Ulrich«, sagte sie, »und das wusste ich schon in der betreffenden Nacht. Ich weiß nicht einmal seinen Familiennamen.«

Also ließ ich den Schwarzmarkt sein und arbeitete noch knapp drei Jahre weiter als seriöser Kaufmann bei . Dann kam Sanders Anruf. Ich wusste sofort, wer da am anderen Ende der Leitung war, und wir sprachen miteinander, als hätten wir uns gerade vorgestern zum letzten Mal gesehen. Ich sagte nicht sofort ja, ich hatte keinen Grund, den alten Westen zu verlassen. Ich wohnte in einer sehr schönen Wohnung direkt am Markt. Das Haus gehörte den Münzenbergs, und meine Miete hatte eher symbolischen Charakter. Ich war nah an den Grenzen, Westeuropa in Sichtweite. Ich hatte außer Anton Münzenberg noch weitere Freunde, ich hatte ein paar Liebschaften. Ich hatte einen sehr sicheren Arbeitsplatz in der Firma, und meine Tätigkeit machte mir Freude. Ich liebte die Gerüche und das dämmrige Licht in den alten Räumen.

»Sieh es dir wenigstens mal an«, sagte Sander am Telefon, »eine so prächtige Ruinenlandschaft wie hier hast du noch nie gesehen.«

Dokument 1


Jochen Schimmang, geboren 1948, studierte Politische Wissenschaften und Philosophie an der FU Berlin und lehrte an Universitäten und in der Erwachsenenbildung. Von 1978 bis 1998 lebte er in Köln, seit 1993 als freier Schriftsteller und Übersetzer. Jochen Schimmang ist heute in Oldenburg ansässig. Seine schriftstellerische Arbeit wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien gefördert.

2010 erhielt Jochen Schimmang für seinen Roman "Das Beste, was wir hatten" den Rheingau Literatur Preis 2010. In der Begründung der Jury heißt es: "Die Jury würdigt die minutiöse Bildbeschreibung, mit der die alte Bundesrepublik wiederbelebt wird - durch dichte Milieuschilderung über mehrere Jahrzehnte hinweg und die Erzählung über Figuren, die allmählich den Boden unter den Füßen verlieren. Jochen Schimmang hält den zahlreichen Büchern, die der DDR ihre Erinnerung und ihre Kritik nachtragen, einen Roman entgegen, der den Untergang auch der Bonner Republik zur erzählerischen Gewissheit macht. Eingeschlossen ist die Trauer über die Vergänglichkeit der Aufbrüche, das Verschwinden von Hoffnungen und das Verblassen von Träumen in ungemein blickgewisser Genauigkeit."



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.