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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Schleif Wo unsere Justiz versagt

Von Messerstechern, Kinderschändern und Polizistenmördern. Ein Richter deckt auf
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7453-1803-6
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Von Messerstechern, Kinderschändern und Polizistenmördern. Ein Richter deckt auf

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-7453-1803-6
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Weshalb klagen Staatsanwälte gefährliche Körperverletzung, bei der ein Messer verwendet wurde, mit völlig unzureichendem Strafmaß an? Warum scheuen Richter harte Strafen? Mitunter in einem dramatischen Fall, bei dem ein Vater seine Tochter viele Hundert Mal missbrauchte. Braucht es hingegen mildere Strafen bei vergleichsweise belanglosen Delikten wie manchem Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz? Nachdem Richter Thorsten Schleif in »Urteil: ungerecht« erläuterte, inwiefern skandalöse Urteile durch systemimmanente Schwächen des Justizsystems bedingt sind, zeigt er nun anhand von 16 brisanten Fällen die ganze Bandbreite von Justizversagen in Deutschland auf. Seine spannenden Geschichten machen deutlich: Das Versagen ist noch sehr viel größer als gedacht!

Thorsten Schleif, 1980 geboren, studierte Rechtswissenschaften in Bonn und ist seit 2007 Richter in Nordrhein-Westfalen. Gegenwärtig ist er als Vorsitzender des Schöffengerichts und Jugendrichter am Amtsgericht Dinslaken tätig. Von März 2014 bis September 2018 war er alleiniger Haftrichter für die Amtsgerichte Dinslaken und Wesel. Der zweifache Familienvater lebt mit seiner Familie in Duisburg. Im riva Verlag sind bisher von ihm erschienen: Urteil: ungerecht (2019) und Endlich richtig entscheiden (2020).
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Kapitel 5
K(l)eine Macht den Drogen


Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (BtMG)

Es war doch nur Marihuana


Wieder huscht der Blick des rundlichen Mannes mit dem gutmütigen Gesicht auf das Armaturenbrett. Die Tachonadel des roten Kleinwagens scheint bei 75 Stundenkilometern festgewachsen zu sein, obwohl die Schilder der kilometerlangen Baustelle auf der Bundesautobahn A3 sogar 80 Stundenkilometer gestatten. Aber Jan-Hendrik O. will unter keinen Umständen auffallen. Unsicher blickt er in den Rückspiegel, auf seiner Stirn und in seinem Nacken stehen Schweißperlen. Warum hat er sich nur überreden lassen?

»Musst nur einmal bis Köln fahren. 300 Euro. Schnell verdient!«, hat ihm der kleine Mann gesagt, den er als Ahmed kennt. Natürlich ist Jan-Hendrik O. sofort klar gewesen, dass der »Job« nicht ganz sauber ist. Aber das Geld kann er gut gebrauchen. 30 Jahre lang hat der gutmütige Niederländer als Reisebusfahrer gearbeitet, für einige Zeit sogar als Fahrer eines niederländischen Erstligisten. Dann erwischte ihn ein Bandscheibenvorfall; zu wenig Bewegung, zu langes Sitzen, typische Berufskrankheit. Vor zwei Jahren war Jan-Hendrik plötzlich querschnittsgelähmt, musste einige Male operiert werden. Seitdem kann er wieder laufen, aber nicht mehr als Busfahrer arbeiten. Länger als eine Stunde sitzend erträgt er vor Schmerzen nicht. Seitdem hält er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, so gut er kann. Den Rest zum Familieneinkommen trägt Esmee bei, seine Ehefrau, mit der er seit über 35 Jahren glücklich verheiratet ist. Seit einigen Wochen ist die Familie schlecht bei Kasse. Ein Rohrbruch in der Küche, Boden und Möbel mussten erneuert werden. Dann stirbt Jan-Hendriks Mutter. Er organisiert die Beerdigung, die Bestattungskosten bleibt er schuldig. Jan-Hendrik schämt sich, wenigstens diese Schulden muss er sofort bezahlen. Er erzählt den Freunden in der Kneipe von seinen Geldsorgen und Ahmed hört zufällig mit. Jan-Hendrik kennt ihn nur flüchtig.

»Ich kann dir helfen«, sagte Ahmed. »Musst nur einmal bis Köln fahren. 300 Euro. Schnell verdient!«

Jan-Hendrik sah ihn schräg an. »Na klar! Und was soll ich transportieren? Waffen? Drogen? Ich bin doch nicht blöd!«

Ahmed hob abwehrend die Hände. »Nein, nein!«, rief er beleidigt. »Nur Marihuana!«

Der ehemalige Busfahrer dachte nach. Nur Marihuana? Harmlos. Gut, die Deutschen haben zwar keine Coffeeshops. Aber sie dürfen über die Grenze und in den Niederlanden Weed (Marihuana) kaufen. So eng sehen es die deutschen Behörden wohl doch nicht.

»Echt? Nur Marihuana? Du verarschst mich nicht oder?«, fragte er Ahmed.

»Nein! Du kannst in die Tüte reinsehen, wenn du mir nicht glaubst. Und du nimmst dein eigenes Auto. Ok?«

Jan-Hendrik überlegte. Was sollte schon passieren? Wenn etwas anderes als Weed in der Tüte wäre, würde er nicht fahren. Und wenn er sein eigenes Auto benutzen würde, bestünde auch nicht die Gefahr, dass er noch irgendetwas anderes transportiert, ohne es zu bemerken.

Jan-Hendrik nickte. »Ok.«

Vor einer Stunde traf er sich mit Ahmed auf einem Parkplatz kurz vor der Grenze. Ahmed hatte eine Tüte dabei und 150 Euro.

»Hier. Hälfte jetzt, hälfte später«, sagte Ahmed und drückte ihm beides in die Hand. Jan-Hendrik fasste in die Tüte und zog einen Beutel heraus, in dem sich die kleinen, grünen Knollen befanden. Und er erkannte den typischen, süßlichen Geruch des Rauschmittels.

»Siehst du! Nur Weed!«

»Ist ja gut«, brummte der gutmütige Niederländer, verstaute die Tüte im Kofferraum seines alten Kleinwagens und fuhr los.

Doch schon als er die Grenze überquerte, schwor er sich: Nie wieder! Jan-Hendrik taugt einfach nicht für krumme Sachen. Das hat er noch nie. Er ist kein Krimineller. Es wird das erste und letzte Mal sein, dass er sich hat überreden lassen.

Wieder überprüft der Niederländer seine Geschwindigkeit. Ein Blick auf das Navi verrät: Noch 84 Kilometer. Gerade ist er an der Ausfahrt Dinslaken-Nord vorbeigefahren. Unsicher blickt er in seinen Rückspiegel. Immer noch fährt der silbergraue BMW mit den beiden Männern hinter ihm. »Überhol doch einfach!«, brummt Jan-Hendrik. Endlich endet die Baustelle und tatsächlich fährt der BMW auf die linke Spur und überholt den roten Kleinwagen. Doch dann setzt er sich plötzlich vor ihn und wird langsamer. Fast im selben Moment winkt eine Kelle mit einem roten Licht aus dem Beifahrerfenster und einer Aufschrift: »Polizei folgen!«

»Wir haben im zehnten Jahr in Folge einen Anstieg der polizeilich registrierten Delikte im Bereich Rauschgiftkriminalität«, begann der Präsident des Bundeskriminalamtes Holger Münch am 27. Juli 2021 die Bundespressekonferenz zum Rauschgiftlagebild 2020. Die Frage, ob Deutschland ein Drogenproblem hat, wird durch nüchterne Zahlen beantwortet: Polizeilich registriert wurden 365 753 Rauschgiftdelikte und 54 348 Rauschgifthandelsdelikte. Das sind die offiziellen Zahlen. Die Dunkelziffer ist deutlich höher. Denn Betäubungsmitteldelikte sind klassische Kontrolldelikte. Sie werden fast ausschließlich entdeckt, wenn die Strafverfolgungsbehörden, insbesondere die Polizei, initiativ tätig werden, also umfassend kontrollieren. Strafanzeigen bilden in diesem Deliktsfeld eher die Ausnahme. Denn weder laufen geprellte Dealer zur Polizei, noch betrogene Junkies. Ein besonderes Problem der vergangenen Jahre ist der Rauschgifthandel über das Internet, vor allem über das sogenannte Darknet. Eine Identifizierung von Dealern und Kunden ist infolge der hohen Anonymität im Netz mit einem extremen Aufwand verbunden.

Die Ressourcen der Polizei und der Justiz werden durch Betäubungsmitteldelikte ganz erheblich gebunden. In den vergangenen sieben Jahren meiner Strafrichtertätigkeit kann ich die Wochen, in denen keine Anklage wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz zu verhandeln war, an einer Hand abzählen, ohne jeden Finger bemühen zu müssen. Die offizielle Statistik bestätigt meine persönliche Wahrnehmung: Im Jahr 2019 erfolgten bundesweit 59 325 Verurteilungen wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, also etwa 163 Verurteilungen an jedem einzelnen Tag des Jahres. Das übersteigt sogar die Anzahl der Verurteilungen wegen einfacher und gefährlicher Körperverletzung mit insgesamt 48 599 Entscheidungen.

Auch die Zahl der Toten, die auf das Konto illegaler Betäubungsmittel gehen, ist erneut gestiegen. Im Jahr 2020 starben 1581 Menschen infolge illegalen Drogenkonsums. Aber auch hier dürfte die Dunkelziffer deutlich höher liegen, was unter anderem an der zum Teil sehr zurückhaltenden Einstufung einer Leiche als Drogentoten liegt. Ein Drogenfahnder mit mehr als 30 Jahren Berufserfahrung beklagte einmal: »Bevor wir jemanden als Drogentoten einstufen, müssen wir ihn schon mit der Spritze im Arm finden!« Diese Zurückhaltung ist kein neues Phänomen. Bereits vor über 20 Jahren kritisierte mein Professor für Rechtsmedizin die oft nur oberflächliche Bestimmung der Todesursache bei der Erstellung eines Totenscheins.

Zusammengefasst: Ja, Deutschland hat ein Drogenproblem. Und ja, das Problem wird seit Jahren größer. Daher ist der Ruf gewisser, zum Glück ehemaliger Richter, man müsse nur alle Drogen legalisieren, dann würden sich die Probleme von selbst lösen, mit »grenzenlos naiv« noch immer sehr wohlwollend umschrieben. Ebenso ließe sich argumentieren, wenn man das Strafgesetzbuch abschaffen würde, würden sich alle Probleme in Luft auflösen.

Gebt das Hanf frei?


»Es war doch nur Marihuana, Herr Richter!«

Es gibt Menschen, die sind auf den ersten Blick sympathisch. Und Jan-Hendrik O. gehört definitiv dazu. Ende 50, eine rundliche Figur und ein ebenso rundliches, freundliches Gesicht. Glatze, glatt rasiert, mit einer großen Nase und gütigen, graublauen Augen. Laufen bereitet dem kräftigen Mann offensichtlich Probleme. »Bandscheibe«, sagt er, als er meinen fragenden Blick sieht. Der gebürtige Amsterdamer spricht fließend Deutsch mit niederländischem Akzent. Er ist einem Zivilfahrzeug der Autobahnpolizei aufgefallen, weil er so auffallend unauffällig gefahren ist. An einer typischen Baustelle auf der Autobahn A3, also einer Baustelle, auf der nicht gearbeitet wird, sondern die nur als kilometerlange Lagerfläche für die vielen Warnbarken dient. »Niemand fährt dort 80. Nicht mal wir«, hat ihm der Kriminalhauptkommissar erklärt. Und der freundliche Niederländer hat die Polizeibeamten mit den Worten »ihr habt mich erwischt, das Zeug ist im Kofferraum« begrüßt, noch bevor sich die Kommissare vorstellen konnten. Damit verdiente sich Jan-Hendrik O. wahrscheinlich den Preis für das schnellste Geständnis des Jahres.

Ich belehre den freundlichen Mann über seine Rechte und erkläre, dass die Staatsanwaltschaft den Erlass eines Haftbefehls beantragt.

»Können Sie mir nicht einfach sagen, wie hoch die Strafe ist Herr Richter? Dann zahle ich sofort«, bittet Jan-Hendrik O. freundlich.

»Das Betäubungsmittelgesetz sieht für die Einfuhr einer nicht geringen Menge Betäubungsmittel eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren vor.«

Der Niederländer hebt abwehrend die Hände. »Es war nur Weed, nur Marihuana, Herr Richter!«

»Ja«, nicke ich. »Knapp 2000 Gramm. Bei einem durchschnittlichen Wirkstoff von 13 Prozent macht das etwa 260 Gramm THC33. Damit ist die Grenze zur nicht geringen Menge um mehr als das 30-Fache überschritten. Und da Sie keinen festen Wohnsitz in Deutschland haben und auch keine ausreichende Kaution leisten können, müssen Sie jetzt bis zu einer...


Thorsten Schleif, 1980 geboren, studierte Rechtswissenschaften in Bonn und ist seit 2007 Richter in Nordrhein-Westfalen. Gegenwärtig ist er als Vorsitzender des Schöffengerichts und Jugendrichter am Amtsgericht Dinslaken tätig. Von März 2014 bis September 2018 war er alleiniger Haftrichter für die Amtsgerichte Dinslaken und Wesel. Der zweifache Familienvater lebt mit seiner Familie in Duisburg. Im riva Verlag sind bisher von ihm erschienen: Urteil: ungerecht (2019) und Endlich richtig entscheiden (2020).



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