E-Book, Deutsch, Band 1, 294 Seiten
Reihe: Edition Quellen und Kultur
Schlier / Schneider / Steinsiek Petras Aufzeichnungen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7583-8046-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit
E-Book, Deutsch, Band 1, 294 Seiten
Reihe: Edition Quellen und Kultur
ISBN: 978-3-7583-8046-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Paula Schlier berichtet in ihrem autobiographischen Text von 1926 sprachlich und inhaltlich radikal vom Leben junger Frauen im Ersten Weltkrieg, in der neuen und gefährdeten Demokratie und der Zeit der Hyperinflation. Als Schreibkraft hat sich die kritische Journalistin 1923 undercover in den Völkischen Beobachter, das Propagandablatt der Nazis, eingeschleust. Zufällig erlebt sie dort die Ereignisse rund um den Hitler-Putsch. Die Einsichten in die Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus lassen beim Lesen oft vergessen, dass damals die Schrecken der Naziherrschaft noch gar nicht begonnen hatten. "Man müßte das ganze Buch abschreiben, wollte man nur die wichtigsten Stellen zitieren. Denn hier ist jede Seite und jeder Satz wichtig. Weil jedes Wort uns alle angeht." (Leo Lania, Prager Tagblatt, 1926) "Bildet die Kritik an der faschistischen Redaktion und somit am Wesen des Faschismus auch den Kern des Romans, so reicht seine kritische Haltung doch weit über dieses Thema hinaus." (Rolf Löchel, literaturkritik.de, 2019) Die ausführliche Kommentierung v.a. zu den politischen Ereignissen und ein Nachwort, das den biographischen Hintergrund erhellt sowie den Text im Kontext der Neuen Sachlichkeit erörtert, empfiehlt das Buch auch für den Unterricht an höheren Schulen oder der Universität. Drei kurze Lehrfilme der Herausgeberinnen werden auf youTube angeboten. Der Bayerische Rundfunk produziert zum Jahrestag des Hitler-Putsches Podcasts zum Buch, Gestaltung: Paula Lochte. Das Kapitel zum Hitler-Putsch jetzt auch als Film mit Lea van Acken als Paula Schlier: "Hitlerputsch 1923. Das Tagebuch der Paula Schlier". Regie: Oliver Halmburger. Ab 8.11.2023 in der Mediathek des Bayerischen Rundfunks.
Paula Schliers (12.3.1899, Neuburg an der Donau - 28.5.1977, Bad Heilbrunn) Erstlingswerk "Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit" (1926) gilt als eines der ersten Bücher der Neuen Sachlichkeit mit dem Thema der "Neuen Frau" und ist eines der ersten Werke des investigativen Journalismus in deutscher Sprache. Darüber hinaus bezieht Schlier bereits hier deutlich Stellung gegen den Nationalsozialismus. Ihr zweites Buch "Chorónoz. Ein Buch der Wirklichkeit in Träumen" erschien 1928 im renommierten Kurt-Wolff-Verlag, es enthält Traum-Texte, die dem Surrealismus nahe scheinen. 1932 wandte sie sich auch literarisch dem Katholizismus zu. Sie war Mitarbeiterin der von Ludwig von Ficker herausgegebenen österreichischen Zeitschrift "Der Brenner". Etliche Lebensstationen der Protagonistin in "Petras Aufzeichnungen" sind auch für Paula Schlier nachweisbar. Bereits 1915 meldete sie sich als freiwillige Kriegspflegerin beim Roten Kreuz. 1921 ging sie nach München, wo sie als Stenotypistin arbeitete. Bereits im Jänner 1923 erschienen ihre ersten Artikel gegen den Nationalsozialismus. Im Herbst 1923 ließ sich als Sekretärin im nationalsozialistischen Blatt "Völkischer Beobachter" anstellen, um, wie sie sagte, zu prüfen, "ob eine solche Volksbegeisterung wirklich jeder tieferen Berechtigung entbehren könne". So erlebte sie hautnah den Hitler-Ludendorff-Putschversuch in München 1923 mit. Und: Sie zeichnete alles auf, was sie hörte und sah. Der "Völkische Beobachter" besprach dieses Buch vernichtend. Abseits davon waren die Reaktionen durchwegs positiv, etliche sogar begeistert. Eine Folge von Schliers deutlicher Stellungnahme gegen den Nationalsozialismus - sie änderte ihre politische Haltung auch nach ihrer Konversion zum Katholizismus 1932 nicht - war ihre Verhaftung durch die Gestapo 1942. Ein Psychiatrie-Aufenthalt bewahrte sie vor dem KZ Dachau. Schlier konnte aus der Psychiatrie fliehen und sich bis zum Kriegsende verstecken. Seit 1948 lebte sie in Tutzing am Starnberger See. Nach dem Tod ihres Mannes übersiedelte Schlier nach Bad Heilbrunn, wo sie 1977 starb. Paula Schliers Nachlass wird im Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck aufbewahrt.
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Das Lazarett
Um mir das Licht der Welt, das ich erblickt habe, deutlich zu machen, wird es nicht nötig sein, daß ich auf die Zeit zurückgreife, da ich Säugling war. Sondern ich werde dort beginnen, wo ich zu schreien und mich zu wehren anfing. Und das war 1916, als ich mit siebzehn Jahren Kriegspflegerin wurde. Das Lazarett, in dem ich pflegte, von den Soldaten „der Zirkus“ genannt, nahm Tausende von Verwundeten auf, die zu Anfang des Krieges auf Strohlagern, später auf eisernen Bettgestellen in langen Viererreihen untergebracht wurden. Im letzten Leichtverwundetensaal spielte jeden Nachmittag Militärmusik, bei Siegen mit verstärktem Orchester. Im großen Saal weinten die Schwerkranken vor Nervosität und baten um Watte zur Verstopfung ihrer Ohren. Dieser große Saal hatte zehn offene Türen, durch welche die Besucher hereinströmten: Mütterchen aus Ostpreußen; Damen vom Ausschuß des Roten Kreuzes; Ärzte, Offiziere; Rekonvaleszenten an Krücken; Schwestern mit Uringläsern, Milchbrei, Schokolade, Blumen. Eine Dame verteilte Gesellschaftsspiele, eine andere Rosen. Sie wurde dafür geliebt von den Verwundeten. In einem Bett lag ein bleicher Jüngling an Genickstarre, steif wie ein Toter, die Dame warf ihm mit reizendem Lächeln eine Blume zu. Er ergriff die Blume, richtete sich auf – zum ersten Mal, daß er es konnte – und warf die Rose mit den Dornen der Dame mitten ins Gesicht. In der ersten Zeit wurden wir freiwilligen Schwestern auf allen Stationen zur Hilfe herangezogen. Ich hatte in der Inneren Station die Fieberkurven an der Tafel über dem Bett zu zeichnen und kalte Wickel um heiße Leiber zu winden, in der Äußeren auf die plötzlich eintretenden, gefährlichen Blutungen der Wunden zu achten und die Streckverbände gebrochener Glieder mit Gewichten zu beschweren. Im chemischen Laboratorium durften wir das Sputum der Lungenkranken unter dem Mikroskop betrachten. In der Nervenstation reichten wir den Erbsenbrei durch ein Loch in die Einzelzellen, in welchen die an Zuckungen und Tobsuchtsanfällen leidenden Soldaten untergebracht waren. Im Verbandsaal hielten wir die Eiterschale unter fließende Wunden und im Operationssaal mußten wir uns an den Anblick eines auf dem weißen Tisch allein liegenden blutigen Fußes gewöhnen. Ich erinnere mich noch an das Gefühl der Ohnmacht, im doppelten Sinn des Wortes, das mich bei der ersten Operation, der ich zusah, befiel. Ein Mann, der nicht narkotisiert war, lag auf der Bahre, ein Leintuch war über ihn gebreitet, nur ein Stück seines Leibes blieb unbedeckt. Ein einziger Messerstrich ließ einen roten Schnitt aufklaffen und aus dem Inneren quollen die Gedärme heraus. Der Mann gab keinen Laut von sich, nur das Tuch, unter dem er lag, hob und senkte sich. Die Ärzte begannen die Gedärme in den Leib zurückzustopfen, aber sie quollen wieder hervor. Das war nicht vorgesehen: Man drückte sie hinein, aber sie sprangen immer wieder hervor. Dies dauerte drei Stunden lang. Der Mann unter dem Leintuch gab keinen Laut von sich, nur das Tuch, unter dem er lag, wand sich, bäumte sich. Am Ende kam ein Oberarzt mit dem Auto angefahren, ein berühmter Spezialist für solche Operationen, und nähte den Leib rasch zu. – Es war am gleichen ersten Tag, als man mir im Verbandsaal einen nackten, zitternden Menschen übergab, dem die Schußwunde, faustgroß, durch den ganzen Körper, zum Rücken hinein und zur Brust heraus ging. Ich mußte ihm die Öffnung mit Verbandgaze zustopfen, die an einer Pinzette aufgespießt war, kein Ende nahm und doch nicht zureichte, weil die Wunde zu groß und nicht auszufüllen war. Meine eigentliche Station, die abseits vom Hauptgebäude lag und für die sich niemand außer mir gemeldet hatte, war die mediko-mechanische. Das war die Station, in welcher die versteiften Arme der Verwundeten auf Hobelbrettern bewegt, die steifen Knie mit Gewalt abgebogen, die geschwollenen Gelenke zum Schwitzen in Heißluftapparate gesteckt wurden. Auf hochgestellten Rädern – Modelle von 1880 –, die im Kreis an den Wänden des Saales aufgestellt waren, radelten die Kranken, die das Knie nur bis zum Winkel von 90 Grad abbiegen konnten. Vorne am Fenster mit den Gitterstäben saßen sie an alten Nähmaschinen und traten auf und nieder. Ein Unteroffizier, mit einem Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart, massierte auf einer Bahre den Oberschenkel eines Soldaten, der laut aufschrie. Ein Rückgratsgelähmter, der nur in erdwärts gekrümmter Haltung gehen konnte, hatte Mühe, sich sein Korsett allein anzuziehen. Ein Mann, dem ein Durchschuß durch das Ohr das Gleichgewichtsempfinden gestört hatte, versuchte sich schwankend, wie betrunken, fortzubewegen. Er legte sich der Länge nach auf die Bahre und hatte kein Gefühl dafür, ob er liege oder stehe, er stand auf und war im Zweifel, ob er nicht liege. Aus einem Heißluftkasten heraus drang die zornige und lachende Stimme eines Kranken, der sich die Zehen trotz der Schutzhülle von Asbest verbrannt hatte. In einer Ecke saß ich mit dem Elektrisierapparat, galvanischer und faradischer Strom, um mich herum zwanzig nackte Arme und Füße, die alle behandelt werden wollten. Ich gab einem Mann in die linke Hand die eine Elektrode und strich mit der anderen über den rechten Arm, der in allen Nerven zu zucken und zu springen begann. Ein Bauer wehrte sich dagegen und hielt die Elektrisiermaschine für ein Werkzeug des Teufels. Ich mußte an mir selbst den Strom erst ausprobieren, bevor die Verwundeten sich daran wagten. Ein Gesichtsgelähmter – die eine Wangenhälfte hing ihm schief herunter – bat, das neue Verfahren auch bei ihm, um Mund und Augen, zur Anwendung zu bringen, vielleicht werde es ihm helfen. Ein anderer, mit einem Schulterdurchschuß, rühmte sich, den stärksten Strom aushalten zu können. In einer Ecke tauchten sechs Kranke mit steifen Händen die Finger in einen Kübel heißen Wassers, um sie vor der Behandlung „aufzuweichen“, mit der anderen Hand spielten sie Karten. Ein Verwundeter bat, im Raume nebenan (den ich, um die Patienten für die schmerzhafte Behandlung zu gewinnen, als „Rauchklub“ eingerichtet hatte) seine Pfeife anzünden zu dürfen. Ein Kranker, der an Krücken ging, schleppte ein dickes Buch, „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, zu mir her, ein anderer bat um Urlaub, dessen Gewährung ich von fleißigen Kniebeugeübungen abhängig machte. Um zehn Uhr kam der Oberarzt, ließ die Patienten strammstehen, einige Übungen vornehmen und trug in die Krankengeschichte den Vermerk „kriegsverwendbar“ ein. Die Verwundeten fühlten, daß ihre baldige Gesundung nicht zu ihrem Wohle, sondern um ihrer Felddiensttauglichkeit willen gewünscht wurde. Die Hand sollte heilen, damit sie wieder durchschossen werden konnte. In der Ecke flüsterten sie: Es wird eine Revolution geben! Laut sagten sie, daß meine Station eine Folterkammer sei. Der Elektrisierapparat schlug Funken, die in alle Nerven bissen, die Gelenke krachten beim Massieren und die Schreie der Gefolterten drangen bis hinüber ins Hauptgebäude. Jeden zweiten Tag kam zur Behandlung der Soldat Czucha. Czucha – viele gab es übrigens wie ihn – hatte keinen anderen Gedanken als den, seine rechte Hand bald wieder gesund zu bekommen. Die Hand war steif wie ein Brett, blaurot, jeder Finger eine Eisenzange. Der Oberarm wies noch eine große offene Wunde auf, Czucha aber hielt sich den Arm, wenn ich ihn bewegte, selbst, biß die Zähne aufeinander und sah zu, wie ich die Finger bog. Ich bewegte den Zeigefinger leise, langsam, stärker, mit aller Kraft, nichts rührte sich. Czucha stöhnte vor Schmerz. „Nur zu, Schwester“, sagte er, „so ist es recht, nicht aufhören, nur zu!“ Der Schweiß stand ihm in kleinen, runden Tropfen auf der Stirn. Nach Wochen bemerkte er eine Besserung. An den Fingern vorne rührte sich leise das erste Glied. Den Fortschritt konnten nur wir beide wahrnehmen, da wir die Hand ganz genau kannten. Nach Monaten war sie in den Gelenken so weit beweglich, daß Czucha einen Federhalter fassen und ein kleines Stück Holz aufheben konnte. „Welche Kraft ich schon habe, sehen Sie, Schwester“, sagte er. Die Finger sahen jetzt aus wie dicke Raupen, die sich schläfrig bewegten. Czucha spielte Klavier am Fensterbrett und spreizte die Finger über ein ganzes Quadrat. Er sprach vom baldigen Gesundwerden und vom Pflügen seines Ackers im Frühjahr. Im Winter kam Czucha fort ins Heimatlazarett nach Ostpreußen. Er schrieb: „Liebe Schwester, diese Zeilen schreibe ich mit der rechten Hand, so gut geht es schon.“ Aber im Frühjahr kam noch eine Karte: „Diese Zeilen sind mit der linken Hand geschrieben; ich bekam Wundfieber, und nun haben sie mir den Arm doch abgenommen. Aber es geht schon wieder …“ Jede Woche einmal hatte ich Nachtwache im Schwerverwundetensaal, sie dauerte von sieben Uhr abends bis zum Frühlicht. Am Tisch brannte eine Kerze, die einen hellen Kreis in die Mitte des Saales warf, der übrige Raum lag in der Finsternis. Aus den Ecken hustete, stöhnte, ächzte,...