E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Schlömmer / Sandig Programmdesign im Functional Training
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95971-569-0
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Individuelle Trainingsinhalte für optimale Ergebnisse
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-95971-569-0
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eberhard Schlömmer ist Diplom-Sportwissenschaftler und arbeitet als Personal Trainer in München. Der Experte für den Functional Movement Screen gehört zum Ausbildungsteam von Perform Better Europe. Als Autor ist er unter anderem für das Functional Training Magazin tätig. Dennis Sandig arbeitet als Referent für Bildung und als Wissenschaftskoordinator bei der Deutschen Triathlon Union. Dort ist er unter anderem für die Aus- und Fortbildung der Trainerinnen und Trainer zuständig. Als Autor war er unter anderem für das Functional Training Magazin tätig.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2
EVOLUTION UND BEWEGUNG
Um eines der Grundprinzipien des funktionellen Trainings zu verstehen, blicken wir in die Vergangenheit. Im Laufe der Evolution haben sich unser heutiges Aussehen und unsere Bewegungsmuster herausgebildet.
Die Urahnen der Menschen begannen die Erde zu erobern, als sich die Abstammungslinien der Menschenaffen und der heutigen Menschen vor fünf bis sieben Millionen Jahren in Afrika trennten. Eine Art »beherrscht« heute die Erde: der Homo sapiens. Ein Meilenstein in der Evolution war die Entwicklung von der Fortbewegung auf allen vieren hin zum aufrechten Gang. Dieser Anpassungsprozess, der vermutlich durch veränderte Lebensbedingungen bedingt war, verursachte zahlreiche anatomische Veränderungen von Kopf bis Fuß.
DER MENSCH PASST SICH AN
Wichtig für uns ist der zentrale Aspekt der anatomischen Anpassungsfähigkeit auf äußere Reize und Stressoren, sowohl biomechanisch, physiologisch als auch neurologisch. Das sogenannte »SAID Principle« (Specific Adaptation to Imposed Demands) bedeutet übersetzt, dass sich unser Körper spezifisch an die gestellten Heraus- und Anforderungen anpasst. Dieses Prinzip zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Evolutionsgeschichte und gilt auch für unser Training. Wir passen uns unserer Umgebung und den uns gestellten Anforderungen an, und das sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Das SAID-Prinzip untermauert, dass die Adaptionen spezifisch für die Bewegungen sind, die regelmäßig ausgeführt und trainiert werden. Isolierte Bewegungen hingegen, die wiederholt trainiert werden, haben daher keinen bis nur einen minimalen Transfer auf funktionelle Aufgaben. Wenn jedoch grundlegende Bewegungsfähigkeiten oder -kompetenzen abwechslungsreich trainiert werden, ist ein hoher Transfer zur Verbesserung der Ansteuerung, Biomechanik, sportlichen Leistung sowie zur Minimierung von Verletzungen gegeben. Bewegungsvielfalt und -differenzierung in einem herausfordernden Umfeld sind hier der Schlüssel.
Vergleicht man die Füße und Hände eines Menschenaffen mit denen eines Menschen, kann man entscheidende Unterschiede in Form und Funktion feststellen. Der Fuß eines Affen ist perfekt gebaut, um zu greifen und zu hangeln, der eines Menschen, um zu stehen und zu gehen. Daher spricht man auch von einem Greif- beziehungsweise einem Standfuß. Das Daumengrundgelenk eines Menschen unterscheidet sich deutlich von dem eines Menschenaffen. Der menschliche Daumen ist frei beweglich und kann sich unabhängig von den anderen Fingern bewegen, im Gegensatz zum Daumen eines Menschenaffen. Somit kann die menschliche Hand als Werkzeug deutlich präziser und vielfältiger eingesetzt werden als die eines Affen. Die Form folgt also der Funktion. Um weite Wegstrecken zurücklegen zu können und in der Steppe überleben zu können, sind ein Greiffuß und feinmotorisch schwach ausgeprägte Hände und Gliedmaßen nicht zweckmäßig und die Anatomie des heutigen Menschen musste sich über die Jahrtausende den neuen Gegebenheiten und Reizen von außen anpassen.
»FORM FOLLOWS FUNCTION«
Die menschliche Anatomie passt sich ihrer Bewegungsfunktion und Beanspruchung an. Anpassung ist in beide Richtungen möglich: Korrekte Beanspruchung führt zu mehr Fähigkeiten, Nichtbeanspruchung zu einem Verlernen.
Der aufrechte Gang – das urzeitliche Paradebeispiel für Anpassung
Der erste uns bekannte aufrecht gehende Frühmensch war der Australopithecus, der ein ähnliches Gehirnvolumen (500 Milliliter) wie Schimpansen aufwies. Sein Becken war im Vergleich zum Menschen noch völlig anders gelagert und anatomisch anders geformt. Ihm folgten die ersten Gattungen unseres direkten Vorläufers Homo mit dem Homo rudolfensis und dem Homo habilis vor circa 2,5 Millionen Jahren. Mit dem stetigen Anstieg des Gehirnvolumens auf bis zu 1.300 Milliliter (Homo erectus) entwickelten sich die ersten soziokulturellen Fähigkeiten. Einfache Werkzeuge wurden erfunden, Hütten gebaut und spezielle Jagdtechniken entwickelt, die es unseren Vorfahren immer leichter machten zu überleben.
Mit steigendem Hirnvolumen nahm das Gewicht des Kopfes zu. Viele evolutionär bedingte Anpassungen sind auf die Ökonomie in der Fortbewegung ausgerichtet. So ist es eher unphysiologisch, einen sechs bis acht Kilogramm schweren Kopf im Lot vor dem Becken herzutragen. Die evolutionäre Lösung für dieses Problem war, den Kopf im Lot über das Becken zu stellen und somit längere Strecken mit geringerem Energieaufwand zurücklegen zu können.
Die Vielsitzer-Generation – das neuzeitliche Anpassungssyndrom
Als negatives Beispiel für »Form follows function« greifen wir erneut langes und regelmäßiges Sitzen auf. Unser heutiger Lebensstil fordert uns mehr zum Sitzen heraus als zum Bewegen. Das Nichtbenutzen oder auch einseitige Benutzen von Muskulatur in mechanischer und statischer Fehlhaltung führt zu einer Veränderung und Anpassung im Muskeltonus und zu Fehlfunktionen in den Muskelketten. Wir erinnern uns: »What fires together, wires together.«
Vieles und langes Sitzen in Kombination mit dem Vermeiden von allgemeinen Bewegungsmustern wie zum Beispiel Springen, Sprinten, Tragen, Klettern, Werfen, Balancieren und so weiter kann zu Immobilität, verminderter Haltungskontrolle, Überbeanspruchung von Strukturen und motorischer Verarmung führen. Langes Nichtbenutzen dieser Muster bedeutet nicht, dass wir diese Programme komplett verlieren, jedoch verringert sich die Fähigkeit zu einer ökonomischen Ansteuerung.
Der Mensch entwickelte sich aufgrund von Notsituationen oder um bestimmte Dinge oder Abläufe zu vereinfachen weiter. Auslöser war also immer ein Nutzen oder eine Funktion. Doch jeder Fortschritt bedeutete zugleich, dass bestimmte bisherige Fähigkeiten nicht mehr so oft angewendet werden mussten. Wie bereits erwähnt, funktioniert die Anpassung an Lebenssituationen auch in die andere Richtung: »Use it or lose it« – was wir nicht nutzen, verlernen wir. Je seltener der Mensch Fähigkeiten wie Springen, Rennen oder Werfen einsetzte, desto weniger wurde dieses Muster angesteuert und versorgt. Das geht so weit, dass der Großteil der erwachsenen Menschen heutzutage nicht mehr fähig ist, körper- und achsengerecht zu stehen, geschweige denn zu gehen, zu springen, zu tragen oder zu rennen.
DAS FUNKTIONELLE UR-TRAININGSKONZEPT
Die obersten Ziele des Menschen waren immer schon Überleben, Nahrungssuche und Fortpflanzung. Die Fähigkeit der Anpassung an verschiedene Lebensumstände hat uns dabei geformt und uns unser heutiges Aussehen verliehen.
Die Urtriebe – Hunger, Fortpflanzung und Furcht – waren Grundvoraussetzungen für diese Adaption. Um Nahrung zu besorgen, die unser Überleben sichert, mussten wir Tiere töten, Früchte und Wurzeln sammeln. Aus anfänglichen Nöten entwickelten sich somit Kompetenzen, die, angetrieben durch den Überlebenswillen, über Tausende von Jahren zu festen Bestandteilen des menschlichen Könnens wurden.
Die Geburt des ersten funktionellen Trainingskonzepts
Für das Sammeln und Jagen benötigte der Urmensch neben benutzbaren Werkzeugen auch die menschlichen Grundbewegungsmuster wie Gehen, Rennen, Klettern, Springen, Werfen, Kriechen (Anpirschen), Kämpfen oder Ziehen und Schleppen (von Beute). Diese Fähigkeiten ließen uns auch im Überlebenskampf gegen wilde Tiere oder Reviergegner bestehen. Je öfter und häufiger wir sie anwendeten, desto besser beherrschten wir sie. Im Laufe der Zeit perfektionierten wir sie als Gewohnheiten und speicherten sie als neuronale Muster in unserem Gehirn ab.
Sportwissenschaftlich betrachtet waren diese Bewegungen oder Übungen ganzheitlich und mehrdimensional. Damit wir gewisse Funktionen erfüllen konnten, mussten sich über Tausende von Jahren auch Teile unserer Anatomie ändern – zum Beispiel verschob sich der Körperschwerpunkt in den Hüftbereich und die Rumpfmuskulatur wurde als Stabilisator umso wichtiger.
Je mehr wir uns anpassten und veränderten (aufgrund von Klimaveränderungen oder neuen Gegebenheiten bei der Nahrungsbeschaffung), desto mehr leistete unser Gehirn. Die wechselnden Anforderungen und verbesserte Nährstoffversorgung durch ein besseres Nahrungsangebot und die Nutzung von Feuer zum Kochen ließen das Gehirn wachsen, was wiederum zu neuen rationalen Lösungen führte.
Diese ständige Weiterentwicklung hat uns zu dem am weitesten entwickelten Lebewesen gemacht, das neben physischen Höchstleistungen auch mentale und rationale Konzepte, Kulturen, Wissenschaften und unzählige weitere Errungenschaften hervorgebracht hat. Man sollte meinen, dass der wissenschaftliche Aufschwung, die geistige und künstlerische Blüte der Antike oder auch der technische Fortschritt in puncto Medizin uns zu unverwundbaren und sich stetig fortentwickelnden Kreaturen gemacht...