Schlund | "Behinderung" überwinden? | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 4, 411 Seiten

Reihe: Disability History

Schlund "Behinderung" überwinden?

Organisierter Behindertensport in der Bundesrepublik Deutschland (1950-1990)

E-Book, Deutsch, Band 4, 411 Seiten

Reihe: Disability History

ISBN: 978-3-593-43642-5
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der Sport behinderter Menschen gerät meist nur während der Paralympics in den Fokus der Öffentlichkeit. Sebastian Schlunds Buch eröffnet - auch abseits dieses Großereignisses - Einblicke in die Geschichte des Behindertensports in Deutschland zwischen der Zeit der Weltkriege und der "Wiedervereinigung". Die Studie zeigt die Entwicklung des Phänomens von einer Therapiemaßnahme für Kriegsversehrte zu einer selbstbestimmten Freizeitaktivität. Dieser Prozess war von Debatten um die Integration behinderter Menschen sowie von Konflikten um die Gleichbehandlung aller Menschen mit Behinderung geprägt.
Für diese Dissertation wurde Sebastian Schlund 2017 mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung in der Sektion Geistes- und Kulturwissenschaften ausgezeichnet.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Inhalt
Einleitung9
Begriffserklärungen und Forschungsstand12
Fragestellung und Aufbau der Arbeit21
Quellenlage28
1. Versehrtenleibesübungen (1914-1945)32
1.1 "Überwindung des Krüppeltums" - Versehrtenleibesübungen um den Ersten Weltkrieg33
1.2 Kriegsopferverbände, Sport und Militär in den 1920er Jahren37
1.3 "Körperbehinderte Volksgenossen": Versehrtensport im Nationalsozialismus43
2. Versehrtensport und Erwerbsarbeitsparadigma (1950-1968)51
2.1 Versehrtensport als Teil der Kriegsopferversorgung54
2.2 Akteurskonstellationen und Organisation des Versehrtensports73
2.2.1 Etablierung der bundesweiten Versehrtensportorganisation74
2.2.2 Versehrtensportorganisation in den Bundesländern91
2.2.3 "Die gleichen Ziele über 25 Jahre" - Mitgliederstrukturen und Motivlagen in den Vereinen99
2.3 "Üben stärkt - Nicht-üben schwächt" - Diskurs und Praxis des Versehrtensports109
2.3.1 Prothetische Versorgung und medizinischer Expertendiskurs: Versehrtensport als therapeutische Heilmaßnahme110
2.3.2 Sportbetrieb und Sportbegriff des Versehrtensports122
3. Zwischenbetrachtung I - Versehrtensport, Kameradschaft und Intersektionalität139
3.1 "Gemütvolle Gebilde der Geselligkeit" - Kameradschaft im Versehrtensport143
3.2 Hegemoniale Männlichkeit im Versehrtensport152
3.3 Benachteiligung von Frauen im Versehrtensport156
3.4 Versehrtensport in der Arbeitsgesellschaft161
4. Versehrtensport, Integrations- und Freizeitkonzepte (1969-1975)166
4.1 "Eine unerträgliche Diskrepanz" - Zur Angleichung der Förderung kriegs- und zivilbehinderter Menschen170
4.2 Die Entdeckung der Freizeit: Sozialwissenschaften und Versehrtensport183
4.3 Vom Versehrtensport- zum Behindertensportverband194
4.3.1 Sport behinderter Kinder195
4.3.2 Frauen im Versehrtensport206
4.3.4 Umbenennungsdebatten - Versehrt oder behindert?217
4.4 Abbau von Vorurteilen? Die "Weltspiele der Gelähmten" 1972 in Heidelberg222
5. Zwischenbetrachtung II - Wertewandel im Behindertensport?230
5.1 Grundlagen der Forschung zum Wertewandel233
5.2 Vorbedingungen: "Stille Revolution" und wirtschaftlicher Wohlstand237
5.3 Selbstbestimmte Freizeitgestaltung behinderter Menschen als Ausdruck von Wertewandel243
5.4 Die frühen 1970er Jahre als Scharnierphase des bundesdeutschen Behindertensports251
6. Pluralisierungsprozesse, Behindertenleistungssport und Integrationsangebote (1976-1990)258
6.1 Ausweitung der Zielgruppen: Gesundheitssport, Rehasport, Seniorensport262
6.1.1 Die Gesamtvereinbarung von 1981263
6.1.2 Gesundheitssport und Seniorensport268
6.2 Sport von Menschen mit geistiger Behinderung285
6.2.1 "Freizeiterziehung" und persistente Vorurteile - Determinanten des Sports geistig behinderter Menschen286
6.2.2 "Möglichst viel Kontakt" - Konzepte von Freizeitgestaltung als Mittel sozialer Integration290
6.2.3 Lebenshilfe, DBS oder DSB - Wer förderte den Sport geistig behinderter Menschen?293
6.2.4 Zwischen Leistungsprinzip und Überbehütung - Erste Wettkämpfe geistig behinderter Menschen300
6.2.5 Auf dem Weg zu den Special Olympics Deutschland307
6.3 Integrationssport als soziale Eingliederung312
6.3.1 Integrative Modellversuche nach dem "Göttinger Modell"314
6.3.2 Integrationsverständnis in der Spitze DBS317
6.3.3 Koexistenz oder Konkurrenz? Initiativen des DSB und die Sportgruppe "city nord"320
6.3.4 Integration als "Daueraufgabe" - Debatten um Begriffe und Zuständigkeiten Ende der 1980er Jahre325
6.4 Leistungssport behinderter Menschen332
6.4.1 Behindertenleistungssport als Element der Selbstbestimmung334
6.4.2 "Leistungsexplosion" im paralympischen Sport341
6.4.3 Innovative Prothetik und der Wandel des Bildes von Behinderung durch mediale Repräsentation352
Schluss363
Quellen und Literatur379
Dank 410


Einleitung
Acht Meter vierundzwanzig. Die Anzeigetafel im Ulmer Donaustadion zeigte am Nachmittag des 26. Juli 2014 unter dem Namen "Markus Rehm" 8,24 Meter. Der für Bayer Leverkusen angetretene Rehm sollte mit dieser Weite seinen schärfsten Konkurrenten Christian Reif um vier Zentimeter übertreffen und letztlich die Deutschen Meisterschaften im Weitsprung der Männer gewinnen. Was die Anzeigetafel nicht verriet: Markus Rehm ist seit einem Unfall einseitig unterschenkelamputiert und bestritt den Wettkampf mit einer speziell angefertigten Carbonprothese. Mit seinen herausragenden sportlichen Leistungen katapultierte sich Rehm nicht nur regelmäßig an die Spitze von Teilnehmerfeldern, sondern auch ins Zentrum öffentlicher Debatten um den Sinn gemeinsamer Wettkämpfe behinderter und nichtbehinderter Athleten. Schließlich schien dem Springer das eigentlich als Beeinträchtigung verstandene Fehlen eines natürlichen Beines mitnichten zum Nachteil zu geraten. Im Gegenteil: Markus Rehm warf - und wirft noch immer - die Frage auf, ob körperliche Beeinträchtigung mithilfe von High-Tech-Prothesen schlichtweg überwunden werden kann und somit die Chancengleichheit im sportlichen Wettkampf gefährdet sei.
Lässt sich "Behinderung" überwinden? Warum der Sport behinderter Menschen historisch wie aktuell mit Überwindungsmotiven konnotiert ist, bildet die Leitfrage dieser Arbeit. Zum einen verspricht diese Fragestellung Erkenntnisse, weil die "Überwindung" einer körperlichen Beeinträchtigung eines der Hauptmotive behinderter Sportlerinnen und Sportler im gesamten Untersuchungszeitraum darstellte. Zum anderen wird nach der Überwindung von Zugangsbeschränkungen gefragt, die behinderte Menschen daran hinderten, am Sport teilzunehmen. Insofern umfasst diese Leitfrage sowohl die Mikroperspektive behinderter Sportler als Subjekte ihrer eigenen Geschichte sowie eine auf der Mesoebene angesiedelte Suche nach verschiedenartigen Barrieren im Behindertensport. Darüber hinaus begleitete der Überwindungsbegriff den Behindertensport in der Bundesrepublik über den gesamten Untersuchungszeitraum - allerdings in unterschiedlicher Form. Auf welche Art und Weise "Überwindung" mit dem Sport behinderter Menschen verknüpft wurde, hing dabei ebenso von gesamtge-sellschaftlichen Wandlungsprozessen auf der Makroebene ab, wie von spezifischen Entwicklungen im organisierten Behindertensport. In erster Linie ist hierbei an den Funktionswandel zu denken, den der Behinderten-sport im Verlauf der Jahrzehnte erfuhr.
Zentraler Ort dieses Wandlungsprozesses war der im Deutschen Be-hindertensportverband (DBS) organisierte Sport in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1950 und 1990. An einigen Stellen wird die Analyse allerdings zeitlich nach beiden Richtungen über die Grenzen dieses Beobachtungszeitraums hinausgreifen, um die höchst unterschiedlichen Erscheinungsformen des Sports behinderter Menschen erfassen zu können. So bedeutete Behindertensport in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten vor allem eine staatlich finanzierte therapeutische Heilmaßnahme kriegsversehrter Männer. Diese funktionelle Art des Behindertensports bezog Anleihen aus Bewegungstherapien, die in Lazaretten des Zweiten und teils gar des Ersten Weltkriegs praktiziert worden waren. Entsprechend seiner Herkunft hieß der Behindertensport auch lange Zeit "Versehrtensport" und der heutige Behindertensportverband trug bis 1975 den Namen Deutscher Versehrtensportverband e.V. (DVS).
Die Namensänderung des Verbandes, dessen Entwicklung einen der Schwerpunkte der Untersuchung darstellt, verweist auf mehrere Transformationen, die als thematische Schneisen dienen werden. Erstens veränderte sich die Mitgliederstruktur des organisierten Behindertensports im Beobachtungszeitraum stark: Während anfangs nahezu ausschließlich kriegsversehrte Männer am Sport behinderter Menschen teilnahmen, stie-ßen im Verlauf der Jahrzehnte auch Menschen hinzu, deren Beeinträchti-gung nicht ursächlich auf den Krieg zurückging. Diese sogenannten zivil-behinderten Menschen - darunter auch ein höherer Anteil von Frauen und Kindern als bei den Sport treibenden kriegsversehrten Menschen - traten den Versehrtensportvereinen gegen Ende der 1960er Jahre vermehrt bei. Erst einige Zeit später öffnete sich die unter dem Eindruck dieser Entwicklung zum Behindertensportverband umbenannte Organisation für Menschen mit geistiger Behinderung sowie in den 1980er Jahren für chronisch kranke und ältere Menschen. Mit dieser Erweiterung der behindertensportlichen Klientel ging - zweitens - eine Verschiebung der Funktionen einher, die behinderte Menschen selbst, wissenschaftliche Expertinnen und Experten sowie Akteure des politisch-administrativen Systems dem Behindertensport zuschrieben. Stand in den 1950er Jahren noch der Zweck einer Heiltherapie zur "Wiedererlangung der Arbeitskraft" kriegsversehrter Männer im Vordergrund, gewannen eher auf aktive Freizeitgestaltung und zuletzt auch an Leistung und Wettkampf orientierte Interpretationen nach und nach an Gewicht.
Weder die Ausweitung der Zielgruppen, noch die Erweiterung der mit ihm verbundenen Funktionen verliefen konfliktfrei. An den Debatten, was Behindertensport bedeuten solle und welche Gruppen behinderter Menschen ihn betreiben dürften, waren mehrere Akteursgruppen beteiligt. Zunächst sind dabei Personen zu nennen, die im Behindertensportverband einen Funktionärsposten innehatten und ihrem Selbstverständnis nach die Interessen der Mitglieder vertraten. Sie pflegten insbesondere in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten einen engen Kontakt zu Kriegsopferverbänden, die bei der Etablierung flächendeckender Verbandsstrukturen behilflich waren. Ab den 1970er Jahren trat mit der "Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind" (Lebenshilfe) eine zusätzliche Interessenorganisation auf, die sich mit der Freizeitgestaltung behinderter Menschen befasste. Zwei weitere Akteursgruppen, die zwar außerhalb der Verbandsorganisation behinderter Menschen (oder deren Eltern) standen, aber die Debatten über den Behindertensport signifikant prägten, waren Vertreter staatlicher Politik und Wissenschaftler. Letztere Gruppe umfasste vor allen Dingen medizinische Experten, die sich mit möglichst zweckdienlichen Therapie- und Sportformen beschäftigten und einen hohen Einfluss auf die inhaltli-che Gestaltung des Behindertensports ausübten. Im Zuge der Funktions-erweiterung des behindertensportlichen Angebots beschäftigten sich ab den 1970er Jahren zudem Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissen-schaftler mit der sozialintegrativen Dimension des Sports behinderter Menschen. Mit politischen Akteuren sind zuvorderst Personen gemeint, die als Beamte in Bundesministerien - etwa dem Bundesarbeitsministerium - über den Sport als gezielte Maßnahme der Erwerbsarbeitsbefähigung (mit-)entschieden. Um die politisch-institutionelle Ebene einzubeziehen, werden allgemeine sozial-, rehabilitations- oder behindertenpolitische Programme beachtet, welche die Rahmenbedingungen des Behindertensports maßgeblich bestimmten. Denn letztlich bildeten die Prämissen und Ziele staatlicher Behindertenpolitik das Fundament aller Entwicklungen im organisierten Behindertensport.
Auf der Basis des hier knapp dargestellten Akteursgeflechts und der sich durch die etwa vier Jahrzehnte erstreckenden Wandlungsprozesse werden drei eng mit einander verflochtene Schwerpunktsetzungen analy-siert: Weshalb es zielführend ist, eine Zeitgeschichte des Behindertensports mit Fokus auf die zentralen Begriffe Integration, Hierarchien und Selbstbestimmung zu schreiben, kann jedoch erst erläutert werden, wenn grundlegende Termini der Disability History geklärt und der Forschungsstand die folgende Untersuchung berührender Teildisziplinen dargelegt sind.
Begriffserklärungen und Forschungsstand
Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zur Forschungsperspektive der Disability History. Diesem recht jungen Ansatz liegt die Interpretation zugrunde, dass Behinderung kein im Körper betreffender Personen angelegtes Defizit im Vergleich zu vermeintlich "normalen" nichtbehinderten Menschen bezeichne. Vielmehr nimmt die Disability History in den Blick, wie Menschen auf der Basis "tatsächlicher oder angenommener körperlicher, psychischer oder mentaler Unterschiede in komplexen Benennungsprozessen der soziokulturellen Kategorie ›behindert‹ zugeordnet" werden. Behinderung stellt somit die Konsequenz eines Zuordnungs- oder Zuschreibungsprozesses dar, der potentiell wandelbar ist. Da Behinderung eben nicht als individuelles Defizit, sondern als potentiell historisch veränderliche Etikettierung verstanden wird, kann untersucht werden, welche Faktoren in welchem zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext zur Bezeichnung bestimmter Personen als behindert führten. Wo die Grenze zwischen "normal sein" und "nicht normal sein", verlief, wo also die "Andersheit" begann, die Menschen zu Menschen mit Behinderung erklärt, war und ist nicht eindeutig zu klären. Doch liegt eben in der Kontingenz der Grenzziehungen die Relevanz für zeithistorische Forschungen.
Disability Historians profitieren bei (zeit-)historischen Analysen nicht nur vom Instrumentarium, das die allgemeine Geschichtswissenschaft zur Verfügung stellt, sondern auch vom Interpretationsangebot der Disability Studies. Dieser soziologische Forschungszweig entstand in enger Verbun-denheit zu den emanzipatorischen Ansprüchen der politischen Behinder-tenbewegung. Die Disability Studies zeichnen für einige Grundannahmen verantwortlich, die von Historikerinnen und Historikern mit genuin ge-schichtswissenschaftlichen Methoden der Quellekritik und der Einordung zeitgebundener Phänomene in ihren jeweiligen Kontext verknüpft werden können. Als fundamentalster Perspektivwechsel, der von frühen (briti-schen) Vertretern der Disability Studies ab den 1970er Jahren eingeläutet wurde, gilt die Unterscheidung von impairment und disability. Diese Inter-pretation versteht unter impairment die körperliche, geistige oder seelische Besonderheit betroffener Personen. Disability hingegen bezeichnet die sozialen Benachteiligungen, welche betroffene Personen an ihrer gesell-schaftlichen Partizipation hindern, ihnen Barrieren etwa baulicher oder mentaler Art in den Weg stellen. Behinderung - verstanden als disability - fokussiert in dieser Sichtweise auf die sozialen Folgen, nicht auf medizi-nisch diagnostizierte Beeinträchtigungen. Daher spricht die Forschung vom sozialen Modell von Behinderung, das sich vom vormals unhinter-fragten medizinischen Modell absetzt. In der Formel "Behindert ist man nicht, behindert wird man", die von der emanzipatorischen Behinderten-bewegung geprägt wurde, ist zum einen die neuartige Perspektivierung prägnant gefasst und zum anderen die Nähe wissenschaftlicher Forschung und politischer Bewegung symbolisiert.
Seit den 1990er Jahren blicken einige Forscherinnen und Forscher mit einem kulturwissenschaftlich geprägten Blick auf die Kategorie Behinde-rung. Sie fokussieren dabei stärker auf Vorurteilsstrukturen, Stereotype und Identitätszuschreibungen, die der Zuweisung von Behinderung zu-grunde liegen. Die ihres Erachtens im sozialen Modell nach wie vor beibe-haltene Dichotomie zwischen Behinderung und Nichtbehinderung kritisie-ren Vertreterinnen und Vertreter des kulturellen Modells und plädieren dafür, Konstruktionsprozesse der Behinderungszuschreibung auf der Dis-kursebene ins Zentrum zu rücken. Darüber hinaus richtet die kulturalisti-sche Perspektive das Augenmerk im Vergleich zum sozialen Modell auf den Körper als Träger von Behinderung als "verkörperter Differenz". Fraglos hat die Perspektiverweiterung des kulturellen Modells, wie etwa in Carol Poores Studie zur Kulturgeschichte der Behinderung in Deutschland im 20. Jahrhundert, entscheidend dazu beigetragen, die Wandlungsfähigkeit der Kategorie Behinderung zu betonen. Auch machten Forschungen aus kulturwissenschaftlicher Warte darauf aufmerksam, dass Studien über Behinderung gleichzeitig Studien über Nichtbehinderung sein können, da Aussagen über das vermeintlich nicht Normale immer auch Aussagen über das vermeintlich Normale nach sich ziehen. Dennoch erscheint fragwürdig, ob mit Behinderung "als Leitdifferenz moderner Gesellschaften" die Möglichkeit erwächst, "die allgemeine Geschichte neu zu schreiben".
Die unterschiedlichen Herangehensweisen, Schwerpunktsetzungen und die Unklarheit über die Reichweite von Disability History haben mitnichten verhindert, dass in den letzten Jahren zahlreiche wegweisende Studien zur Geschichte behinderter Menschen erschienen sind. Im Gegenteil: Gerade die Diversität der Ansätze macht diesen Forschungsbereich zu einem der-art dynamischen Feld, ohne dass es immer möglich oder notwendig er-scheint, Autorinnen und Autoren den angeführten Perspektiven eindeutig zuzuordnen. So stammen für die vorliegende Untersuchung relevante Ar-beiten auch aus dem Bereich der Politik- und der Sozialgeschichte. Insbesondere die westdeutsche Zeitgeschichte hat durch einschlägige For-schungsarbeiten von Historikerinnen und Historikern jüngst besondere Aufmerksamkeit erfahren: Elsbeth Bösl verfasste mit Politiken der Normali-sierung eine Studie zur Behindertenpolitik in der Bundesrepublik bis zur Mitte der 1970er Jahre; Britta-Marie Schenk legte kürzlich eine Arbeit zum Umgang mit behinderten Menschen in der humangenetischen Beratungspraxis zwischen den 1960er und den 1990er Jahren vor; Jan Stolls Dissertation beleuchtet die Interessenorganisation behinderter Menschen in der BRD zwischen Kriegsopferorganisationen und politischer Behindertenbewegung.
Die vorliegende Arbeit soll zu dieser wachsenden Zahl zeithistorischer Untersuchungen über die Geschichte von Behinderung beitragen. Wie in einigen der erwähnten Studien wird dabei Behinderung als Kategorie sozi-aler Ungleichheit begriffen. Behinderung reiht sich somit neben die Klas-siker der Ungleichheitsforschung "Klasse", "Ethnizität" und "Geschlecht" und ermöglicht folglich, mehrere Kategorien sozialer Ungleichheit auf ihre Interdependenzen zu prüfen. Verflechtungen zwischen Kategorien wie Geschlecht und Behinderung zu analysieren und dabei nicht nur von einer Mehrfachbenachteiligung jener Personen auszugehen, die etwa schwarz und weiblich sind, ist das zentrale Paradigma des Intersektionali-tätsansatzes. Folglich beinhaltet intersektionale Analyse das Erklären des gleichzeitigen Zusammenwirkens verschiedener Kategorien sozialer Un-gleichheit, aus dem sich neue Bedeutungszusammenhänge, Machtvertei-lungen und schließlich Hierarchien ergeben können. Bislang wurden kaum Versuche unternommen, Intersektionalität in ihrer historischen Tie-fendimension zu erforschen. Wechselwirkungen zwischen Geschlecht und Behinderung sind zwar in gegenwartsbezogenen Forschungsrichtungen angewandt worden, doch kaum als Teil einer geschichtswissenschaftli-chen Untersuchung.
Neben der Auseinandersetzung mit der Frage, was Behinderung be-deutet, müsste in einer Studie über Behindertensport auch eine Auseinan-dersetzung mit dem Sportbegriff stattfinden. "Sport" zu definieren, um im Anschluss daran festzustellen, inwiefern es sich beim Versehrten- und Behindertensport tatsächlich um Sport handelte oder nicht, erscheint allerdings in einer geschichtswissenschaftlichen Studie nicht zielführend; der Erkenntnisgewinn hielte sich in Grenzen. Wesentlich relevanter und somit erklärungsbedürftiger erscheint die historisch fundierte Analyse der Interpretationen von Zeitgenossen, zumal diese die Begriffe Turnen, Sport und Leibesübungen als Suffixe an "Versehrten-" oder "Behinderten-" fügten, um damit denselben Inhalt zu beschreiben. Ein Beobachter meinte in den 1950er Jahren "auch fünf Kniebeugen am Morgen sind Versehrtensport, genau so wie gemeinsame Wanderungen in Gottes freier Natur". Mit einem derart offenen Verständnis von Sport wäre eine zielführende Analyse aufgrund mangelnder Engführung nicht möglich. Andererseits erscheint auch der enge Sportbegriff, der sich aus der englischen Sportpraxis ableitet, kaum operationalisierbar. Denn danach ist Sport nur gegeben, wenn nach bestimmten Regeln ein Wettkampf von mindestens zwei Akteuren und einer Kontrollinstanz inklusive Publikum vorliegt. Wie im Verlauf der Untersuchung noch gezeigt wird, lagen diese Kriterien beim Behindertensport oftmals nicht vor. Da ein offener Sportbegriff analytisch nicht sinnvoll wäre, ein enger aber an der behindertensportlichen Realität vorbeiführen würde, und darüber hinaus die maßgeblichen Akteure unterschiedliche Begriffe mit derselben Praxis verbanden, wird keine klare Definition von Sport vorgenommen. Vielmehr sollen gerade die Veränderungen der Zuschreibungen zum Inhalt des Übungs- und Wettkampfprogramms über den Untersuchungszeitraum in den Blick genommen werden. Letztlich kann auf diese Weise zur Historisierung des Sportbegriffs im spezifischen Kontext des Behindertensports beigetragen werden.
Historikerinnen und Historiker befassen sich aus unterschiedlichen theoretischen und subdisziplinären Blickwinkeln mit Phänomenen von Sport, Turnen, Körperkultur oder Leibesübungen. Mittlerweile können sie dies auch tun, ohne sich gegenüber Kolleginnen und Kollegen dafür rechtfertigen zu müssen, sich mit einem vermeintlich arbiträren Thema zu befassen. Allerdings bietet "die" Sportgeschichte kein eigenes analytisches Instrumentarium an, das der vorliegenden Studie neue Blickwinkel und Erkenntnisgewinne versprochen hätte. Arbeiten, die sich mit der Geschichte des Sports befassen, bedienen sich daher bei (geschichts-)wissenschaftlichen Teildisziplinen, um nicht lediglich Hagiographien über einzelne Sportlerinnen und Sportler zu verfassen oder den Ablauf von Sportereignissen nachzuerzählen.
Mittlerweile wird Sportgeschichte weniger von "fans with typewriters" geschrieben, sondern von Personen, die sich meist der Sozial- oder der Kulturgeschichte zurechnen und aus der Warte ihrer jeweiligen teildiszipli-nären Herkunft auf die Geschichte des Sports blicken. Sportgeschichte ist folglich mehr ein Untersuchungsgegenstand als eine subdisziplinäre Forschungsperspektive. Das trifft auch auf die anschließende Analyse des Behindertensports in der Bundesrepublik zu. Sie wird mithilfe der For-schungsperspektive der Disability History durchgeführt und beschreitet damit weitgehend Neuland. Die Einschränkung des "weitgehend" muss vorgenommen werden, da über die Geschichte des Behindertensports in Deutschland bereits eine Studie vorliegt: Bernd Wedemeyer-Kolwe veröf-fentlichte eine vom DBS zu dessen 60jährigem Bestehen 2011 in Auftrag gegebene Untersuchung, die zwar Annahmen der Forschungsperspektive Disability History erwähnt, aber letztlich eher eine Organisationsgeschichte darstellt. Wedemeyer-Kolwes Verdienst liegt eher in der bemerkenswer-ten Leistung, zahlreiche Publikationen von Behindertensportvereinen und -verbänden in mühevoller Recherchearbeit zusammengetragen zu haben. Fragen der Hierarchisierung behinderter Menschen nach Ursache und Art der Behinderung oder nach dem Geschlecht der betroffenen Personen sind Wedemeyer-Kolwe zwar mitnichten entgangen. Doch ist seine Arbeit weniger als genuin geschichtswissenschaftliche Analyse, oder gar als expliziter Beitrag zur Disability History zu verstehen - dies konnte auch nicht der Anspruch einer Publikation sein, die als Auftragsarbeit des Behindertensportverbandes angelegt ist. Darüber hinaus bettet Wedemeyer-Kolwe seine Befunde weniger in die Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik ein als dies in der vorliegenden Studie angestrebt wird. Ferner wurden die reichhaltigen Aktenbestände des Bundesarchivs Koblenz, welche für die vorliegende Arbeit die Hauptquellenbasis darstellen, in Wedemeyer-Kolwes Publikation nicht einbezogen.
Durch die Arbeiten Bernd Wedemeyer-Kolwes hat die Geschichte des Behindertensports auch Einzug in Handbücher und Sammelbände zur allgemeinen Sportgeschichte gefunden. Zudem befassten sich jüngst auch Medizinhistorikerinnen und -historiker mit "Rehabilitation und Prävention in Sport- und Medizingeschichte" - so der Titel eines Sammelbandes aus dem Jahr 2014. Wenngleich sich ein Beitrag des Bandes mit dem Sport kriegsversehrter Männer nach dem Zweiten Weltkrieg befasst, so ist dieser aus einer dezidiert medizinhistorischen Perspektive verfasste Artikel kaum im Kontext der Disability History einzuordnen. So setzt sich die Autorin lediglich mit Behinderung als medizinisch diagnostiziertem Problem auseinander, missachtet dabei aber die Historizität von Behinderung konsequent.
Über die Überwindung von Behinderung durch Sport liegt bereits ein Aufsatz vor, der sich auf die Zeit des Nationalsozialismus bezieht. Die Autorin Petra Fuchs argumentiert darin, das Überwindungsnarrativ habe seinen Ursprung im utilitaristischen Motiv der einseitigen Anpassung be-hinderter Menschen an eine nichtbehinderte Norm in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch postuliert Fuchs in ihrem Ausblick über 1945 hinaus, der "Topos der ›Überwindung der Behinderung‹ [sei] mehr als dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes […] von einer Praxis der Selbstbestimmung abgelöst" worden. Die "emanzipatorische Krüppel- und Behindertenbewegung der BRD" zeichne für diese Entwicklung verantwortlich. Fuchs' Beitrag blendet dabei zum einen jedoch die Anpassungsfähigkeit des Überwindungsmotivs aus. Zum anderen erscheint fragwürdig, ob die von Fuchs in den Vordergrund gestellten Bewegungsakteure tatsächlich für die Zeitgeschichte des organisierten Behindertensports relevant sind. In der vorliegenden Studie soll hingegen differenzierter auf die Kontingenz des Überwindungsmotivs fokussiert werden. Damit wird die einseitige Rezeption der von nichtbehinderten Menschen formulierten Anpassungserwartung durch Menschen mit Behinderung in Frage gestellt. Aus dieser Perspektive erscheinen Menschen mit Behinderung nicht nur als Akteure, die auf Fremderwartungen reagierten, sondern aktiv am Inhalt unterschiedlicher Überwindungsnarrative mitwirkten. Dies schließt die Ablehnung, die Aneignung, aber auch die eigenmächtige Etablierung spezifischer Formen der "Überwindung von Behinderung" explizit mit ein.
Die vorliegende Arbeit stößt in eine Forschungslücke am Schnittpunkt von Disability History und sozialhistorischer Sportgeschichte. Dass sich die Untersuchung dabei einer sozialhistorischen Perspektive widmet, die Ungleichbehandlungen und Hierarchien ins Zentrum rückt, lässt sich folgend begründen: Erstens wird Disability History folgend als Ansatz verstanden, der Behinderung als Kategorie sozialer Ungleichheit fasst und nicht nur bei der Benennung einer immer wieder neu diskursiv hergestellten Konstruktion von Behinderung stehenbleibt. Zweitens stellt die Studie eine Sportform in den Mittelpunkt, die noch nicht unter der Linse von Sportgeschichte als Gesellschaftsgeschichte betrachtet wurde. Diese Herangehensweise beinhaltet die "Frage nach der Rolle des Sports bei der Etablierung, Aufrechterhaltung, Verfestigung, aber auch Überwindung [von] Formen […] gesellschaftlicher Stratifizierung". Als solche wird in dieser Studie die hierarchisierende Wirkung der sozialen Ungleichheitskategorie Behinderung begriffen. Hierdurch ergeben sich folglich Synergieeffekte von Disability History und einer sozialhistorisch verstandenen Sportgeschichte, die Wechselbeziehungen zwischen dem Teilbereich Sport und Feldern wie der Politik, der Wirtschaft oder dem Gesundheitssystem explizit integriert. Dieser Blick "nach außen", auf die Verwobenheiten zwischen Entwicklungen im Behindertensport und seinem gesellschaftlichen und politischen Umfeld, wird in der gesamten Studie mitlaufen und besonders betont, wenn spezifisch behindertensportliche Wandlungsprozesse mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungen in Beziehung gesetzt werden.
Dass gerade in der verflochtenen Analyse der Geschichte eines Le-bensbereiches behinderter Menschen und Erklärungsversuchen gesamtge-sellschaftlicher Großtrends Erkenntnispotentiale liegen, soll anhand der These vom Wertewandel ergründet werden. Mittlerweile wird in der histo-rischen Wertewandelforschung argumentiert, dass nicht von linearen Wandlungsverläufen ausgegangen werden kann, sondern Brüche, Umwege und Rückschritte ebenso zu beachten sind, um keinem unkritischen Fortschrittsnarrativ zu verfallen. Eine weitere Vorannahme der historischen Wertewandelforschung lautet, längerfristige Werteverschiebungen in den Blick nehmen zu müssen, um eventuelle Schubphasen tiefgreifender Veränderungen präziser einordnen zu können. Da die Wertewandelforschung mittlerweile den Anspruch vertritt, zeitgenössische Diagnosen der Veränderung von Lebensstilen zu historisieren und diese Transformation auch die Lebenswelt behinderter Menschen berührte, verspricht eine gekoppelte Analyse von Wertewandel und Behindertensport differenzierte Erkenntnisse. Als Bindeglied zwischen gesamtgesellschaftlichen Werteverschiebungen und der Entwicklung des Behindertensports bietet sich dabei unter anderem der verbandsinterne Funktions- und Mitgliederwandel an. Dieser war - so eine der Thesen dieser Arbeit - ebenfalls abhängig von gesamtge-sellschaftlichen Entwicklungen, die ihren Ursprung außerhalb des Behin-dertensports hatten. Makro-, Meso- und Mikroebene werden auf diese Weise miteinander thematisch wie analytisch verbunden.


Sebastian Schlund, Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Koordinator im Projekt "Intersektionalität interdisziplinär" an der Universität Kiel.


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