E-Book, Deutsch, Band 28, 267 Seiten
Reihe: Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung
Schmiderer Produktiver und rezeptiver Grammatikerwerb im schulischen Italienischunterricht
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8233-0473-9
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Lernersprachenanalyse
E-Book, Deutsch, Band 28, 267 Seiten
Reihe: Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung
ISBN: 978-3-8233-0473-9
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieser Band liefert eine empirische Untersuchung des produktiven und rezeptiven Grammatikerwerbs bei Italienisch-Schüler:innen der Sekundarstufe II. Am Beispiel der Adjektivkongruenz wird der Frage nachgegangen, ob der Grammatikerwerb sowohl bei der Sprachproduktion als auch bei der Sprachrezeption den von der Processability Theory postulierten Entwicklungsstufen folgt. Zur Identifikation der im zweiten Lernjahr erworbenen Entwicklungsstufen werden mündliche spontansprachliche Daten auf Basis von kommunikativen Aufgaben herangezogen. Zudem werden die Reaktionszeiten der Lerner:innen in einem Auditory Sentence Matching Task untersucht. Die gewonnenen Einsichten in den produktiven und rezeptiven Spracherwerb können wichtige Bezugspunkte für Italienischdidaktiker:innen und -lehrer:innen bieten.
Mag. Katrin Schmiderer ist Universitätsassistentin (Post-Doc) an der Universität Innsbruck und Gymnasiallehrerin für Italienisch und Spanisch.
Autoren/Hrsg.
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3.1 Erwerbssequenzen im L2-Morphosyntaxerwerb
Ein Blick in Einführungswerke und Lehrbücher der L2-Erwerbsforschung zeigt, dass viele Autor*innen von einer mehr oder weniger fixen Reihenfolge ausgehen, in der L2-Lerner*innen morphosyntaktische Strukturen erwerben. So schreiben VanPatten/Williams (2015, 10): „Learners’ output (speech) often follows predictable paths with predictable stages in the acquisition of a given structure.“ und weiter: „Learners’ speech shows evidence of what are called ‚developmental sequences‘“, Ortega (2009, 34f.) betont, dass auch L1-Transfer den L2-Erwerbsverlauf nicht grundlegend verändern kann: „There is robust evidence that L1 transfer cannot radically alter the route of L2 acquisition.“ Als Forscher*innen, die als erste eine L2-Erwerbsabfolge postulieren, werden meist Dulay/Burt (1974) sowie Bailey/Madden/Krashen (1974) genannt, die diese These als klare Gegenposition zu behavioristisch-strukturalistischen Erklärungen des Spracherwerbs (vgl. Lado 1957) aufstellen (vgl. Mitchell et al. 2019, 40; R. Ellis 2015, 182). Die meist als morpheme order studies bezeichneten Studien der 1970er Jahre gehen ursprünglich von der L1-Erwerbsforschung (zB Brown 1973) aus, in denen Entwicklungsmuster (pattern of development) gefunden werden. Die größtenteils als Querschnittstudien angelegten Untersuchungen bestätigen die sogenannte Erwerbsabfolge (order of acquisition), die Reihenfolge, in der unterschiedliche Strukturen der Zielsprache mit zielsprachlicher Korrektheit (accuracy) – meist in 80-90% der obligatorischen Kontexte – produziert werden. Dabei muss kritisch angemerkt werden, dass diese Studien aquisition order mit accuracy order gleichsetzen (vgl. Hulstijn et al. 2015, 184). Erst durch longitudinale Studien wird in den Folgejahren der Begriff der sequences of acquisition bzw. der developmental stages relevant, bei denen Entwicklung nicht mehr in Hinsicht auf zielsprachliche Korrektheit, sondern als Entwicklung von einer Erwerbsstufe zur nächsten definiert und anhand von Frequenzanalysen gemessen wird (vgl. R. Ellis 2015, 183ff.). Damit wird Entwicklung auch konstatiert, wenn noch keine vollständige zielsprachliche Korrektheit (mastery) erreicht wird. Auch wenn diese Studien noch große Schwächen aufweisen und keine theoretischen Erklärungen für die Erwerbsabfolgen liefern, stellen sie doch einen Wendepunkt in der L2-Erwerbsforschung dar (vgl. Jordan 2004, 207). Als weiterer wesentlicher Schritt bzw. als Paradigmenwechsel muss in der Folge die Untersuchung von Entwicklungssequenzen (developmental sequence) im Rahmen des Projekts Zweitspracherwerb Italienischer und Spanischer Arbeiter (ZISA) (u. a. Meisel/Clahsen/Pienemann 1981) angesehen werden, die sich klar von den Studien zu Erwerbsabfolgen unterscheidet, insoweit sie im Gegensatz zu morpheme order studies keine spezifischen grammatischen Merkmale identifiziert, die der Reihe nach erworben werden, sondern Erwerbsstufen (stages oder sequences of development) definiert, die durchlaufen werden, wenn ein spezifisches grammatisches Merkmal erworben wird. Das ZISA-Projekt untersucht die Entwicklung der deutschen Wortstellung im ungesteuerten Erwerb bei 45 Erwachsenen, die sich aus arbeitsmigratorischen Gründen in Deutschland aufhielten und deren L1 Italienisch, Spanisch oder Portugiesisch waren, in einer Querschnittstudie und bei 12 Erwachsenen mit Italienisch und Spanisch als L1 in einer zweijährigen longitudinalen Studie. Durch die erstmalige Anwendung eines emergence criterion (s. Abschnitt 4.6.2) setzt das Projekt der bisher starken Orientierung an zielsprachlicher Korrektheit einen lerner*innenorientierten Ansatz entgegen. Zudem stellte es den Ausgangspunkt für die Entwicklung des Multidimensional Models (Meisel et al. 1981) dar, das weiter unten genauer dargestellt wird. Eine ähnliche Herangehensweise wie im ZISA-Projekt findet sich im European Science Foundation Project (ESF) (u. a. Klein/Perdue 1997, Klein 2013a), das drei breit definierte Varianten im ungesteuerten Erwerb unterschiedlicher europäischer Sprachen bei Migrant*innen in einem longitudinalen Projekt über 30 Monate definiert: die Pre-Basic Variety, die Basic Variety und die Post-Basic Variety. Von allen Lerner*innen entwickelt wird die Basic-Variety, ein strukturell einfaches, aber kommunikativ effizientes sprachliches System, in dem komplexe Strukturen durch phrasale, semantische und pragmatische Einschränkungen charakterisiert sind, etwa durch infinite Verborganisation (vgl. Klein 2013b, 64). Die Pre-Basic Variety ist im Vergleich zur Basic Variety von nominalen Strukturen sowie Auslassungen von obligatorischen Konstituenten geprägt (vgl. Perdue 1996), die Post-Basic Variety ist schließlich eine Lerner*innenvarietät, die sich stark an die Zielsprache annähert und auch finite Sätze enthält. Auf Basis von Daten aus dem ZISA-Projekt entwickeln Meisel et al. (1981) das Multidimensional Model, dessen zentrale Aussagen in der Folge präsentiert werden sollen. Wie Cook (1993, 93) schreibt, spiegelt die Charakterisierung des Modells als „multidimensional“ die Hauptaussage bzw. das Hauptanliegen des Modells, „combining the concepts of ‘variation‘ and ‘developmental sequences‘“ (Meisel et al. 1981, 118), bereits wider. Hinsichtlich der Entwicklungssequenzen identifizieren Meisel et al. (1981) für den Erwerb der Satzstellung im Deutschen sechs aufeinanderfolgende Erwerbsstufen (formulas/one word sentences – canonical word order – adverb preposing – verb separation – inversion – verb final), die später auch zur PT führen (zur detaillierten Ausarbeitung s. Kapitel 4). Als methodische Vorgehensweise verwenden sie dafür implicational scaling, unter der Annahme, dass damit psychologisch plausibel mit Lernen und Lernbarem umgegangen wird und es damit möglich ist, zwischen entwicklungsspezifischen und variationalen/individuellen Faktoren zu unterscheiden und so jene Faktoren zu identifizieren, die den Beginn einer neuen Entwicklungsstufe markieren (Meisel et al. 1981, 123; auch Lenzing 2013, 63). Zusätzlich zu den developmental sequences beschreiben Meisel et al. (1981, 126) zwei Arten von Variation: Fossilisierung und Simplifizierung. Einerseits fossilisieren unterschiedliche Lerner*innen in unterschiedlichem Ausmaß: Einige Lerner*innen erreichen eine höhere Erwerbsstufe, ohne dass sie im Stande sind die Regel der vorherigen in allen Kontexten anzuwenden, während andere Lerner*innen eine Regel vollständig erwerben müssen, bevor sie zur nächsten übergehen können. Andererseits ist die Lernersprache unterschiedlicher Lerner*innen unterschiedlich häufig von Simplifizierungsstrategien (restrictive simplification) gekennzeichnet, durch die Lerner*innen bestimmte Strukturen nicht produzieren, obwohl sie möglicherweise bereits dazu fähig wären. Meisel et al. (1981, 127) sprechen hier von „more simplified learner varieties“ im Vergleich zu „more grammatical learners“. Die Variation innerhalb von Entwicklungsstufen schreiben sie unterschiedlichen Lerner*innengruppen zu, die sozio-psychologische Unterschiede aufweisen, darunter Faktoren wie Haltungen und Motivationen (vgl. Meisel et al. 1981, 119). Zusammengefasst liefert das Multidimensional Model ein Rahmenmodell für die Beschreibung dynamischer Prozesse in der Lernersprachenentwicklung, indem Entwicklung und Variation als zwei separate Phänomene definiert werden (vgl. auch Lenzing 2013, 63). Das Multidimensional Model wird auch Kritik unterzogen, primär aufgrund seiner mangelnden Falsifizierbarkeit. U. a. führen Larsen-Freeman/Long (1991, 285f.) an, dass variable Faktoren mithilfe des Modells nicht a priori vorhergesagt werden können. Der laut Entwicklungsstufen nicht vorhergesehene Erwerb einer grammatischen Struktur kann sowohl als Gegenevidenz zum Modell als auch als „(newly discovered) variational feature of the language concerned“ (ebd.) erklärt und das Modell damit nicht falsifiziert werden. Vor...